Interne Migration
Fijáte 388 vom 27. Juni 2007, Artikel 1, Seite 1
Original-PDF 388 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 --- Nächstes Fijáte
Interne Migration
Demographische Studien belegen, dass die Länder der so genannten Dritten Welt oder Entwicklungsländer am meisten Migration zu verzeichnen haben. Guatemala gehört mit rund 10% der Bevölkerung, die ausserhalb des Landes leben, zu diesen Ländern. In den letzten Jahren haben Tausende von Männern und Frauen aus unterschiedlichen Gründen (rassistischen, politischen, religiösen, wegen ihrer sexuellen Identität, wegen Verknappung der Naturressourcen, auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen) ihre Ursprungsregion verlassen. Nicht alle von ihnen versuchten ihr Glück in den Vereinigten Staaten. Nach wie vor ist in Guatemala die interne Migration ein verbreitetes Phänomen mit schwerwiegenden sozialen Konsequenzen. In ihrer Mehrheit sind es extrem arme Personen mit niedrigem Bildungsniveau, welche die Mittel und/oder Beziehungen für eine Reise in den Norden nicht haben, die innerhalb des Landes migrieren. Gemäss der Volkszählung aus dem Jahr 2002 leben rund 65% der Bevölkerung in ländlichen Gegenden und 11% der in Städten lebenden GuatemaltekInnen nicht in dem Departement, in dem sie geboren worden sind. Die Sonntagsbeilage der Tageszeitung Prensa Libre widmete in ihrer letzten Ausgabe dem Thema "Interne Migration" einen Schwerpunkt. Der folgende Text umfasst Ausschnitte daraus und ist mit Informationen aus anderen Quellen ergänzt. Und ich hatte geglaubt,dass man die Campesinos zur Erntearbeitlängst nicht mehr auf Lastwagen pfercht.Heutehab ich sie wegfahren sehenin Santa María Nebaj;samt ihren Hunden,samt ihren Hühnern,samt ihren Flicken,samt ihrer Frauen,samt ihrem winzigen Stück Hoffnung. Humberto Ak'abal Ein altes PhänomenEnde des 19. Jahrhunderts fanden in Guatemala die Wanderbewegungen hauptsächlich vom Hochland an die Südküste statt. Ganze Familien suchten für ein paar Monate Arbeit auf den Kaffeefincas. Während der Regierungszeit von Jorge Ubico (1931 - 1944) schränkte das so genannte "Gesetz gegen das Vagabundentum" die Bewegungsfreiheit extrem ein und führte eine so genannte Zwangsmigration ein: Alle land- und arbeitslosen Indígenas wurden jährlich zu sechsmonatiger Zwangsarbeit auf den Plantagen oder im Strassenbau verpflichtet, wo viele von ihnen wegen der miserablen Arbeitsbedingungen starben. Nach der Revolution von Oktober 1944, unter der Regierung von Juan José Arévalo und speziell seit den 1950er Jahren unter Jacobo Arbenz, ist die interne, temporäre oder permanente Migration wieder zu etwas Normalem geworden. Die Anzahl Menschen, die aus ländlichen Gegenden in die urbanen Zentren ziehen, hat zugenommen, ebenfalls die Arbeitsmigration in Gegenden, die von der Exportlandwirtschaft (Kaffee, Baumwolle, Bananen, Zucker) leben. Die Hauptstadt ist nach wie vor der stärkste Anziehungspunkt für die interne Migration. Die Ankunft von internen MigrantInnen lässt die marginalisierten Gebiete rund um die Hauptstadt anwachsen und hat Einfluss auf die sozio-ökonomischen und politischen Strukturen, auf den Arbeitsmarkt, die Lohnstrukturen, die Verschlechterung der Grundversorgung und, in vielen Fällen, auf die Zunahme sozialer Konflikte. Im Jahr 2005 zählte die Hauptstadtverwaltung 245 so genannte informelle Asentamientos, in denen insgesamt etwa 137'000 Menschen leben. (Asentamientos sind slumartige Quartiere, die oft in geographisch riskanten Lagen - in Guatemala Stadt sind dies die steilen Abhänge in den Barrancos - und ohne Bewilligung der Behörden gebaut werden und entsprechend ohne Grundversorgung wie Strom, Wasser, Gesundheits- und Bildungsangebot sind. Zum Teil entstanden diese Asentamientos aus Protestbewegungen, z.B. als nach dem Erdbeben 1976 die Regierung den Familien, die alles verloren hatten, keine Alternative zum Wohnen boten und diese entschieden, ein Gelände der Stadtverwaltung zu besetzen.) Aber nicht nur die Stadt sondern das ganze Departement Guatemala ist ein Anziehungspunkt für interne MigrantInnen. Gisela Gellert, die in Guatemala tätige Spezialistin in Humangeographie, unterscheidet zwischen zwei Ursachen, die zu interner Migration führen können: derjenigen, der eine individuelle Entscheidung zugrunde liegt und derjenigen, die in massiver Form und als eine Überlebensstrategie stattfindet. In Guatemala ist die letztgenannte Form von Migration die übliche. Weshalb migrieren?Es gibt viele Gründe für Migration: Wirtschaftliche, arbeitstechnische, politische, als Folge einer Naturkatastrophe, etc. Gemäss dem Direktor des Zentrums für urbane und regionale Studien der Universität San Carlos, dem Ökonomen und Soziologen Eduardo Velásquez, muss man zwischen verschiedenen Arten von interner Migration unterscheiden: Land - Land (z.B. temporäre Migration vom Hochland an die Küste oder die permanente Migration in den Petén), Land - Stadt (z.B. indigenen Frauen, die als Hausangestellte oder Maquilaarbeiterinnen in die Städte kommen), Stadt - Stadt (häufig zu Studien- oder Arbeitszwecken) und (die am wenigsten übliche) Stadt - Land. In den Jahren zwischen 1940 und 1960 kamen die meisten internen MigrantInnen auf der Suche nach besseren Bildungsmöglichkeiten in die Hauptstadt, nach Quetzaltenango, Chiquimula oder Antigua Guatemala. Oder sie waren auf der Suche nach Arbeit. Nach oben |
In der jüngeren Vergangenheit muss man wohl eher von einer erzwungenen Flucht, denn von einer freiwilligen Migration sprechen. Während des internen bewaffneten Konflikts verliessen viele Leute, zum Teil ganze Gemeinden, ihre Dörfer auf der Suche nach einem sichereren Ort. Ein Teil davon floh ins benachbarte Mexiko, es fand aber auch eine Migration im Land selber, speziell in die Hauptstadt statt. Ein anderer Grund, der seit einiger Zeit immer mehr Menschen zur Migration zwingt, sind Umweltkatastrophen, Erdbeben, Unwetter, die den meist eh schon armen Bevölkerungsschichten noch die letzte Lebensgrundlage zerstören. In den letzten Jahren sind nicht nur die informellen Asentamientos unkontrolliert angewachsen sondern auch eine Anzahl von Städten rund um "La Capital" (die Hauptstadt) (aus-)gebaut bzw. so genannte Schlafstädte aus dem Boden gestampft worden. In der Hauptstadt selber leben rund 1,5 Mio. Personen, gleich viele "pendeln" täglich aus den umliegenden Städten und Vororten zur (oft informellen) Arbeit, oder um administrative Geschäfte zu erledigen. Genauere Zahlen dazu hat man erst seit dem Jahr 2002, vorher wurden nur Migrationsbewegungen auf departementaler, nicht jedoch auf Gemeindeebene statistisch festgehalten. Dafür hat eine Untersuchung aus dem Jahr 2000 ergeben, dass rund 56.8% der in die Hauptstadt zugewanderte Bevölkerung jenes Jahres Frauen waren, 22% davon alleinstehend, ohne die Unterstützung ihres Partners, weitere 16% waren Witwen. Eine ähnliche Tendenz ist auch in Quetzaltenango auszumachen, speziell im "Vorort" La Esperanza, der sich in den letzten zehn Jahren von einem staubigen Flecken zu einer infrastrukturell und verkehrstechnisch bestens ausgestatteten Siedlung entwickelt hat. Ein Grossteil der dort lebenden Bevölkerung fährt täglich nach Quetzaltenango, sei es um ein- oder um zu verkaufen. Eine andere Region der migratorischen Attraktion ist der Petén. Rund 30% der dort lebenden Bevölkerung stammt aus einem anderen Departement. Der aus dem Petén wegziehende Bevölkerungsanteil ist mit 5% sehr gering. Umgekehrt ist es in den Departements Jutiapa, wo die Zuwanderung 5% und der Wegzug 27% beträgt und in Santa Rosa (Zuwanderung 10% und Wegzug 28%). Die temporären MigrantInnen sind in ihrer Mehrheit extrem arm und ungebildet und arbeiten vor allem im Landwirtschaftssektor. Ihr Migrationsziel ist die Südküste Guatemalas sowie der Süden Mexikos, wo sie in der Kaffee- und Zuckerrohrernte arbeiten. Während auch heute noch Jahr für Jahr ganze Familien temporär in der Kaffeeernte arbeiten, sind bei der Zuckerrohrernte nur Männer im Alter zwischen 16 und 35 Jahren zugelassen. Diese Männer lassen ihre Familien zuhause, die Frauen übernehmen nebst der Sorge um Haus und Kinder auch die landwirtschaftlichen Arbeiten und die Kinder, da sie der Mutter bei der Arbeit helfen müssen, werden ebenfalls "temporär" aus der Schule genommen und verpassen meist den Wiedereinstieg, bzw. verlieren das Schuljahr, wenn dann der Vater nach Monaten wieder heimkehrt. Während die Arbeit auf den Fincas in erster Linie eine Migrationsmotivation für Männer (mit oder ohne Familie) ist, sind die Maquilas genannten Fabriken in der Nähe der Hauptstadt oft ein Anziehungspunkt für (meist junge und unverheiratete bzw. kinderlose) Frauen. Forderungen und LösungenDie Auswirkungen auf die Zielorte der Migration sind nicht zu unterschätzen. Die NeuzuzüglerInnen brauchen einen Ort wo sie leben können, sie brauchen Arbeit, Gesundheitsversorgung, Bildung, Transportmöglichkeiten. Der Konsum und entsprechend der Handel nehmen zu. Einmal niedergelassen, gründen sie neue Familien oder holen ihre zurückgelassenen Familienangehörigen (oft die Eltern) nach. Die Nachfrage nach allem steigt. Eine Lösung zur besseren Handhabung interner Migration ist wohl nicht so einfach. Man könnte versuchen, durch Wirtschafts- und Entwicklungsprogramme und sonstige Alternativen die Leute dazu zu motivieren, in ihren Herkunftsorten zu bleiben. Nach wie vor ist in Guatemala nicht nur die politische sondern auch die wirtschaftliche Macht zentralisiert. Eine ländliche Entwicklungspolitik, die die Schaffung von Arbeitsplätzen und anderen produktiven Einkommensmöglichkeiten vorsieht, wäre dringend nötig. Wenn die Armut treibender Faktor für die Migration ist, muss man in erster Linie die Armut bekämpfen, sofern man die Migrationsbewegungen einschränken oder kontrollieren will. Die bereits zitierte Humangeographin Gisela Gellert führte Ende der 1990er Jahre im Auftrag des UNO-Entwicklungsprogramms (UNDP) eine Studie zum Thema durch, die von FLACSO veröffentlicht wurde. Darin heisst es: "Die Ursachen der massiven Migration als Überlebensstrategie sind strukturell bedingt und eine Folge des in Guatemala vorherrschenden Wirtschaftsmodells und der geographischen Eigenheiten. In diesem Sinne muss man von einer "erzwungenen Migration" sprechen". Sie nennt die frühen 1980er Jahre, im Kontext der zunehmenden politischen und sozioökonomischen Krise, als Beginn der massiven und immer komplexer werdenden internen Migration. Die Soziologin und Mitarbeiterin von FLACSO, Margarita Hurtado, gibt zwar zu, dass die Migration ins Ausland ein Phänomen sei, das viel mehr Menschen anziehe als die interne Migration, warnt aber gleichzeitig davor, diese (und die strukturellen Gründe, die dazu führen) deswegen zu vergessen. |
Original-PDF 388 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 --- Nächstes Fijáte