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Si Dios quiere - Vom Widerspruch zwischen einem modernen Staat und der göttlichen Vorsehung

Fijáte 393 vom 12. Sept. 2007, Artikel 1, Seite 1

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Si Dios quiere - Vom Widerspruch zwischen einem modernen Staat und der göttlichen Vorsehung

Der resignierte Pragmatismus

Der Glaube an die göttliche Vorsehung verleitet zur Annahme, dass das individuelle, familiäre und soziale Schicksal durch fremde Kräfte vorbestimmt ist. Dies führt innerhalb der Bevölkerung zu einer so genannten pragmatisch-resignierten politischen Kultur. Die Realität wird als eine historische Bedingung wahrgenommen, die nichts mit dem eigenen Denken und Handeln zu tun hat. Der resignierte Pragmatismus ist am deutlichsten bei den unteren Bevölkerungsschichten anzutreffen. VGArmutNF und schlechte Schulbildung hat sichtbare Passivität und eine fatalistische Haltung gegenüber Ungerechtigkeit, VGKorruptionNF und selbst Naturkatastrophen zur Folge.

Doch auch die lateinamerikanischen Eliten bleiben vom resignierten Pragmatismus nicht verschont. Sie schwelgen in ihren Privilegien, aber sie sind nicht in der Lage, ihren Horizont über die eigene Realität hinaus zu erweitern, womit sie jegliche wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung verhindern.

In seiner Rede als damaliger Präsident der VGInteramerikanischen EntwicklungsbankNF bedauerte Enrique Iglesias, dass die politische Kultur der lateinamerikanischen Eliten dazu tendiere, Armut, Ineffizienz und Unterentwicklung zu tolerieren. Dazu kommt eine Aversion, wirtschaftliche und politische Risiken einzugehen und parallel dazu ein Widerstand gegen Demokratisierungsprozesse auf Regierungs- aber auch auf gesellschaftlicher Ebene. Diese Elite zieht Staatsformen vor, die sie ihren Interessen entsprechend kolonisieren können, oder Staatssysteme, die sie manipulieren können, um die ungleiche Verteilung von Reichtum und Macht aufrechtzuerhalten, wie dies in den meisten Staaten Zentralamerikas der Fall ist.

Die Entstehung des Staates in Europa

Die Modernisierung hat den Aufbau einer Staatsstruktur ermöglicht, die auf Herrschaft beruht und der es gelang, die europäische soziale Ordnung gemäss der neuen materiellen Realität - dem Kapitalismus - auszugestalten. Dazu gehörte auch ein neues Verständnis von Gott, der Geschichte und der Menschheit. In dieser neuen Betrachtungsweise teilt Gott mit dem Staat die Aufgabe, die Zukunft der Menschheit zu bestimmen: Es ist die Generation des Grossen Leviathan, des sterblichen Gottes, dem wir unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz zu verdanken haben (Thomas Hobbes).

Die Definition einer Ebene zwischen Staat und Gott - der Ebene der Vernunft - war der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer vom Staat geregelten Sozialgeschichte. Als Teil dieses Prozesses verdrängt die Philosophie allmählich die Theologie und die Idee eines "omnipräsenten Gottes" wurde ersetzt durch den "omnipräsenten Gesetzgeber".

Liberale und weltliche Staaten?

Lateinamerika erlebte nicht denselben kulturellen Bruch wie Europa. Die Trennung von Kirche und Staat fand im 19. Jahrhundert statt, war jedoch nicht der Ausdruck eines Kulturwechsels oder einer Veränderung der religiösen Mentalität der Gesellschaften.

Das Fortbestehen der Vorstellung eines omnipotenten Gottes in der lateinamerikanischen Kultur drückt sich auf institutioneller Ebene in der Schwäche der Staaten und in den brüchigen und unvollständigen bürgerlichen Rechtsstrukturen aus. Die Schwäche der lateinamerikanischen Staaten zeigt sich, unter anderem, in ihrer beschränkten Fähigkeit zur sozialen Regulierung, in ihrer geringen Legitimität und in ihrer generell mangelnden Fähigkeit, Entwicklungen voranzutreiben.

Schwache Staaten und eine Bevölkerung ohne Staatssinn

Nach etwa zwei Jahrhunderten nationalstaatlichen Lebens steht es um die lateinamerikanischen BürgerInnenrechte schlecht. Die oben zitierte Studie der UNDP aus dem Jahr 2004 zeigt ein deprimierendes Panorama auf bezüglich der "integralen Staatsbürgerschaft": Der Anerkennung der politischen, zivilen und sozialen Rechte der BürgerInnen.

Während der letzten 25 Jahre wurden die lateinamerikanischen Staaten in Funktion des globalen Marktes und der internationalen Organisationen reorganisiert. Dies hat die Fähigkeit der Regierungen, auf die Bedürfnisse ihrer BürgerInnen einzugehen, zusätzlich verringert, ebenso die Möglichkeiten der BürgerInnen, Einfluss auf das staatliche Handeln zu nehmen.

Aber der VGNeoliberalismusNF ist nicht bloss ein Prozess wirtschaftlicher und institutioneller Veränderung. Er ist auch ein kulturelles Phänomen, dessen Ziel die Einführung und Gewöhnung an ein weltweites ethisches Systems ist, das sich in Lateinamerika auf perverse Art mit der religiösen und der vorherrschenden politischen Kultur vermischt. Im neoliberalen Modell bildet der Markt die Variable, der sich alle anderen sozialen Bereiche unterwerfen müssen: Arbeitsrechte, Bildung, die Rolle des Staates, die Sozialpolitik, etc.

Christliche Tradition als Grundlage der Demokratie

Im neoliberalen Denken hängt die Verwirklichung eines würdevollen und sicheren Lebens von den Fähigkeiten des Individuums ab, sich erfolgreich auf dem Markt zu behaupten.

Im Gegensatz dazu geht es bei den substantiellen Werten der Demokratie um die Würde der Person als unabhängiges Individuum. Der Rechtsstaat ist der wichtigste institutionelle Ausdruck des Gleichgewichts, das demokratische und fortgeschrittene kapitalistischen Gesellschaften zwischen der marktbestimmten Rationalität und der wertegeleiteten Rationalität suchen. Die Aufgabe des Rechtsstaates ist es, den Markt zu schützen, die Macht des Staates zu beschränken und den dem Kapitalismus schädlichen sozialen Effekten entgegenzuwirken.

Der lateinamerikanische Katholizismus hat immer als eine subjektive und individuelle Lebensform gegolten. Auch wenn die Sozialdoktrin des II. Vatikanischen Konzils nie zu einem sozialen Modell für Lateinamerika wurde, das in der Lage gewesen wäre, die Aufgaben eines Rechtstaates zu übernehmen, ist wohl die Befreiungstheologie die wichtigste Ausdrucksform dieser Sozialdoktrin und bildete eine grosse Herausforderung für die AnhängerInnen des Glaubens der göttlichen Vorsehung. Das integrale Verständnis der Befreiungstheologie humanisierte das Christentum und veränderte das Evangelium in eine historisch und sozial bedeutsame Botschaft.

Das Schicksal der Befreiungstheologie ist bekannt. Johannes Paul II griff sie an, weil er in ihr eine Bedrohung für die Einheit der Kirche sah. Gegenüber dem von der Befreiungstheologie gebrauchten Begriff der "strukturellen Sünde", mit der die in Lateinamerika vorherrschenden sozialen Strukturen angeprangert wurden, verteidigte der Vatikan das Verständnis von Sünde als einer individuellen Angelegenheit, die nur über die persönliche Umkehr überwunden werden kann.

Und auf den Versuch der Befreiungstheologie, die Verantwortung des Christentums im historischen Kontext zu thematisieren, antwortete Johannes Paul II u.a. mit einer Reihe von Heilig- und Seligsprechungen und bestärkte so die verinnerlichte, subjektive und emotionale Tradition des Glaubens an die göttliche Vorsehung.

Die Vorhersehung Gottes kann neoliberal sein

Der Glaube an die göttliche Vorsehung der katholischen Kirche, ebenso wie der Pfingstgemeinden und charismatischen Bewegungen, spielt auf eine perverse Art der neoliberalen Kultur in die Hände, indem er deren schädlichsten Aspekte stärkt, auf denen sich heute der Markt ausbreitet. Ein Geist, der darauf konditioniert ist zu denken, dass es einen Gott gibt, der alles entscheidet, ist ein Geist, der dazu verdammt ist, die Geschichte als etwas Fremdes zu erleben, das nichts mit seinem/ihrem oder dem gesellschaftlichen politischen Handeln zu tun hat. Eine solche Einstellung ist dem Neoliberalismus äusserst dienlich und trägt dazu bei, die wirtschaftlichen Entscheide gegenüber sozialen und politischen Kämpfen immun zu machen. Ein Geist, der die Welt als einen seligen Ort versteht, in dem die Menschheit mit übernatürlichen Kräften zusammenlebt, die ihr Schicksal bestimmen, ist ebenso ein Geist, der die quasi-religiösen Visionen des neoliberalen Marktes akzeptiert und diese als abstrakte, komplexe und selbstregulierte Phänomene sieht, die auf mysteriöse Weise zum "Besten für alle" beitragen und Gefühle wie Rivalität oder Neid neutralisieren. Eine Gesellschaft, die Politik als den Versuch versteht, sich pragmatisch und resigniert mit den Bedingungen abzufinden, die unsere Gesellschaft prägen ist, eine Gesellschaft, die bereit ist, die sozialen Kosten des Neoliberalismus und der globalen Marktwirtschaft zu bezahlen. Die Idee eines Gottes, der über alles bestimmt, ist die passende Maske, um die Funktionsweise der "unsichtbaren Hand" des Marktes zu verdecken, der mit dem Zeigefinger bestimmt, wer zu essen hat und wer nicht, wer in der heutigen Welt überlebt und wer nicht.


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