Die Vergangenheit ist präsent
Fijáte 391 vom 15. Aug. 2007, Artikel 1, Seite 1
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Die Vergangenheit ist präsent
Eines der Themen, über die im aktuellen Wahlkampf nur ganz am Rande bzw. überhaupt nicht debattiert wird, ist der Umgang mit und die Aufarbeitung der Vergangenheit. Während vor vier Jahren mit der umstrittenen Präsidentschaftskandidatur von Ex-General Efraín Ríos Montt und der aktiven Unterstützung seiner Kampagne durch die ehemaligen Zivilpatrouillen (PAC) das Thema der Versöhnung und Entschädigung unweigerlich diskutiert werden musste, wird die Vergangenheit in diesem Wahlkampf durch "aktuellere" Themen wie z.B. die gegenwärtige Gewalt- bzw. die Sicherheitsfrage verdrängt. Die abtretende Regierung hat sich in Sachen Aufarbeitung der Vergangenheit oder Gerechtigkeit für die Opfer nicht hervorgetan. Die Prozesse gegen die Verantwortlichen der Verbrechen stecken fest, das Nationale Entschädigungsprogramm (PNR) dümpelt vor sich hin und die Regierung schaut tatenlos zu, wie Menschenrechtsorganisationen, die sich für die Opfer des Krieges einsetzen, Drohungen, Überfällen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt sind (z.B. ECAP, CALDH, ACOGUATE, um ein paar der Organisationen aufzuzählen, die in den letzten Monaten bedroht wurden). So sind es denn in erster Linie Teile der katholischen Kirche und Menschenrechtsorganisationen, die sich nach wie vor der Aufarbeitung der Vergangenheit widmen und den Betroffenen Unterstützung leisten bei der Verarbeitung der materiellen und psychischen Verletzungen, die der Krieg hinterlassen hat. Wir möchten an dieser Stelle zwei Beispiele unermüdlichen Einsatzes für die Erlangung von Gerechtigkeit und die Wiedererlangung von Würde vorstellen: - Die Pfarrei von Nebaj ist eine der wenigen Vertreterinnen der katholischen Kirche, die versucht, das "Erbe" von Erzbischof Juan Gerardi, den Wahrheitsbericht "Guatemala - nunca más", weiterzutragen und an die Bevölkerung zurückzugeben. (Zur Erinnerung: Am 24. April 1998 wurde der 1'400 Seiten umfassende REMHI-Bericht der Öffentlichkeit vorgestellt. Nur zwei Tage danach, am 26. April 1998, musste der Leiter des Projekts, Bischof Juan Gerardi, für seinen Mut bezahlen. Er wurde nicht weit vom Präsidentenpalast entfernt, in der Garage seines Pfarrhauses, brutal ermordet. Die intellektuell Verantwortlichen für diesen Mord sind bis heute nicht bestraft.) - Mit dem Ende Juni gegründeten Verein Todos por el reencuentro treten Menschen organisiert an die Öffentlichkeit, die bis heute auf der Suche nach ihren verschwundenen Familienangehörigen sind und sich der Herausforderung stellen, diese auch zu finden, was nicht nur schön, sondern auch sehr schmerzhaft sein kann. Denn es geht nicht nur der Prozess der Suche zu Ende, sondern es beginnt ein Prozess der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Das REMHI in Nebaj, von Michael FischerNebaj ist ein Bezirk im Norden des Departements Quiché. Die lokale Bevölkerung gehört der indigenen Ethnie der Ixiles an. Während dem bewaffneten Konflikt wurden in der Region rund 25'000 Menschen umgebracht und rund 90% der ländlichen Gemeinden wurden durch das Militär vollständig zerstört. Bischof Juan Gerardi, der Leiter des REMHI, war zwischen 1974 und 1980 selber Bischof der Diözese des Quiché. Aufgrund der zunehmenden Repression und einem fehlgeschlagenen Mordanschlag gegen ihren Bischof musste die Diözese jedoch im Jahr 1980 geschlossen werden. Gerardi und viele andere Priester der Diözese des Quiché mussten das Land verlassen und nach Costa Rica ins Exil gehen, von wo aus sie als Guatemaltekische Kirche im Exil weiterhin versuchten Einfluss auszuüben auf das Geschehen in ihrer Heimat. Auch die Pfarrei in Nebaj wurde, nachdem bereits diverse Katechisten und mehrere Priester aus nahegelegenen Pfarreien umgebracht wurden, Anfang des Jahres 1980 endgültig geschlossen. Danach wurden die Kirche und das Pfarrhaus in Nebaj von der Armee in eine Kaserne umfunktioniert, wo Menschen gefangen gehalten und gefoltert wurden. Obwohl der bewaffnete Konflikt 1996 mit der Unterzeichnung der Friedensverträge zwischen der Regierung und der Guerilla formell zu Ende ging, bestand in Nebaj in den darauffolgenden Jahren weiterhin ein angespanntes Klima. Der Krieg hatte in den Gemeinden nicht nur tiefe Wunden, sondern auch viele ungelöste Konflikte zurückgelassen. In diesem Kontext war die Arbeit im Pfarrhaus nicht ganz ungefährlich. Die Befürchtungen bewahrheiteten sich, als am 21. Februar 2002 das Pfarrhaus von unbekannten Personen angezündet wurde und vollständig niederbrannte. Die Brandstiftung bedeutete nicht nur eine Drohung an die MitarbeiterInnen der Pfarrei, sondern versuchte auch gezielt, die im Pfarrhaus aufbewahrten Bücher und Akten zu vernichten, welche sehr viele Informationen über die Geschichte des bewaffneten Konflikts enthielten. Die staatlichen Behörden, welche für eine Untersuchung des Vorfalles zuständig gewesen wären, weigerten sich, die Ermittlungen aufzunehmen. Nachdem daraufhin die Pfarrei selber eine alternative Untersuchung durchführte und handfeste Beweise erbringen konnte, dass es sich bei dem Vorfall um eine gezielte Brandstiftung handelte, bewertete das zuständige Gericht den Brand des Pfarrhauses trotzdem als einen Unfall, womit der Justizprozess abgeschlossen war. Gleichzeitig mit dem Wiederaufbau des niedergebrannten Pfarrhauses begann die Pfarrei in Nebaj Anfang 2006 schliesslich ihre Arbeit für die Weiterführung des REMHI in den Gemeinden der Region. In den darauffolgenden Monaten machte der Priester der Pfarrei, Rigoberto Pérez Garrido, welcher während dem REMHI die Arbeit in der Diözese koordiniert hatte, zusammen mit einigen MitarbeiterInnen der Pfarrei eine erste Planung des Projekts. Bis Oktober 2006 wuchs die Zahl der MitarbeiterInnen des Projekts auf acht Personen an und begann im Dezember mit der Ausbildung der Personen, welche als sogenannte "AnimatorInnen der Versöhnung" in ihren Gemeinden arbeiten werden. Insgesamt nehmen an dem Projekt rund 70 AnimatorInnen teil, welche ca. 45 Gemeinden des Bezirkes repräsentieren. Die Arbeit der AnimatorInnen besteht darin, die Zeugnisse aus den Gemeinden zusammenzutragen. In vorbereitenden Workshops wurde zunächst gemeinsam mit den AnimatorInnen eine Reflexion über den Sinn und die Bedeutung der Arbeit zur Aufarbeitung der historischen Vergangenheit gemacht, sowie eine Analyse des lokalen Kontextes und der aktuellen Situation, in welcher sich das Projekt entwickeln wird. Danach wurden die Methoden für die Feldarbeit erarbeitet. Dabei wurden drei verschiedene Typen von Interviews definiert: 1. das individuelle Interview, 2. das Interview mit Familien, sowie 3. das Interview mit Gemeinschaften. Später wurde mit den AnimatorInnen ein Fragebogen entworfen, welcher ihnen bei ihrer Arbeit in den Dörfern als Leitfaden dienen sollte und schliesslich wurde den TeilnehmerInnen auch die Funktionen und die Handhabung des Aufnahmegerätes erklärt. In den darauffolgenden Monaten, von März bis Juni 2007, sammelten die AnimatorInnen in den Dörfern der Region rund 350 Zeugenaussagen, welche das historische Fundament der Projektarbeit darstellen. Um dem ganzen Prozess Kontinuität verleihen zu können, widmeten sich derweil die restlichen MitarbeiterInnen des Projekts anderen Aufgaben: Nach oben |
Ein Informatiker begann mit der Erarbeitung einer Datenbank, in welche die gesammelten Informationen eingegeben werden können und die später dazu dient, die eingegebenen Daten nach verschiedenen Kriterien zu analysieren. Eine zweite Gruppe begann mit der Übersetzung der Zeugenaussagen aus den indigenen Sprachen des Ixil und Quiché ins Spanische. Nach der Übersetzung werden die Zeugenaussagen miteinander verglichen und nach den darin erwähnten Ereignissen und Themen systematisiert. Eine dritte Gruppe forscht nach anderen historischen Quellen, um dadurch die in den Zeugenaussagen gesammelten Informationen zu ergänzen. Dabei werden zunächst die beiden Berichte des REMHI und der CEH (offizielle Wahrheitskommission) hinzugezogen, sowie die Dokumentation, welche die verschiedenen Exhumierungsteams über die von ihnen in der Region durchgeführten Ausgrabungen von Massengräbern erarbeitet haben. Schliesslich werden auch andere Publikationen zum Thema gesammelt und analysiert. Ein Fotograf begleitet den Prozess und dokumentiert die Arbeit in den Dörfern. Historische Orte, welche die Zeugenaussagen veranschaulichen können, sowie das soziale und geografische Umfeld des Projekts - d.h. der Alltag der Menschen in den Gemeinden - werden fotografisch dokumentiert. Gleichzeitig wird über die Erarbeitung eines Dokumentarfilmes zum Thema nachgedacht. Eine fünfte Gruppe versucht eine Reflexion darüber zu beginnen, in welcher Form die Ergebnisse der Arbeit schlussendlich wieder an die Basisgemeinden zurückgegeben werden können. Die Publikation eines Buches sollte nur den Ausgangspunkt des Prozesses darstellen. Aufgrund des weitverbreiteten Analphabetismus in den ländlichen Gemeinden und der mündlichen Tradition der indigenen Bevölkerung müssen andere Kommunikationsformen und Medien gesucht werden, um die Weitergabe der Erinnerung an die Gemeinden zu gewährleisten. Zurzeit wird u.a. über den Einbezug von Radioprogrammen, die Erarbeitung von pädagogischen Materialien für die Schulen, den Bau von historischen Denkmälern zur Erinnerung der Opfer und über ein Museum nachgedacht. Der ganze Prozess wird sicherlich noch einige Zeit in Anspruch nehmen… Im kommenden Oktober soll auf jeden Fall das neugebaute Pfarrhaus eingeweiht werden. In dessen Räumlichkeiten soll u.a. auch ein Bildungszentrum mit Bibliothek für Jugendliche der Region eingerichtet werden, das den Namen von Bischof Gerardi tragen wird. Todos por el Reencuentro - Suche nach den verschwundenen KindernDas Verschwindenlassen von Menschen gehörte in Guatemala seit den 60er-Jahren zur Praxis der psychologischen Kriegsführung. Im Verlauf des Krieges verschwanden rund 45'000 Personen, viele von ihnen Kinder, die während Überfällen oder Massakern von ihren Eltern getrennt wurden. In den meisten Fällen wissen die Familienangehörigen bis heute nicht, wie und wo ihre Verwandten umgebracht wurden oder ob sie noch irgendwo am Leben sind. Auf diese Weise ein Kind zu verlieren, löst bei vielen Eltern Schuldgefühle und Isolation aus, sie verlieren die Kontrolle über ihr (Familien-)Leben. Eine Form, diese Kontrolle wieder zurückzugewinnen, ist in diesem konkreten Fall der Zusammenschluss einzelner Familienangehöriger in einer Organisation von Familienangehörigen, deren Kinder verschwunden sind: dem Ende Juni formal gegründeten Verein Todos por el Reencuentro. Der Aufbau dieser Organisation dauerte ca. 8 Jahre und wurde von der Guatemaltekischen Liga für psychosoziale Hygiene begleitet (siehe ¡Fijáte! 372 und 373). Die Gründung des Vereins, dem Familien aus über 190 Gemeinden und aus acht ethnischen Gruppen inklusive Ladinos und Ladinas angehören, ist ein klarer Beweis dafür, dass auch zehn Jahre nach der Unterzeichnung der Friedensabkommen die Themen und Verletzungen des Krieges noch präsent sind - in diesem Fall die Verantwortung des Staates, den Familienangehörigen, die ihre Kinder im Krieg verloren haben, eine Antwort zu geben. Die Gründung der Organisation ist aber auch ein Ausdruck des wiedergefundenen Selbstvertrauens einer Bevölkerung, die unter der Repression gelitten hat und der über Jahre ihre BürgerInnenrechte verwehrt wurde. Heute kämpfen sie dafür, die Wahrheit über das Schicksal ihrer Kinder zu erfahren und sie, im besten Fall, wieder zu finden. Die Liga hat im Verlauf der letzten Jahre 590 Familien bei ihrer Suche begleitet, in 125 Fällen konnten die unterdessen erwachsenen Kinder lokalisiert werden. In der Gründungserklärung des Vereins werden zwei Punkte genannt, die für die Wiedererlangung der Würde der Betroffenen bedeutend sind: "Die Stärkung unseres Rechts, über unser Problem überhaupt zu sprechen. Das Schweigen, das man versucht über die Vergangenheit zu legen, das Argument des "Schwamm drüber und Neubeginn" verweigert uns das Recht, unseren Schmerz, unsere Ängste und unsere Hoffnungen überhaupt auszudrücken. Der Kampf gegen das Schweigen und das Vergessen ist unser Beitrag an den Aufbau des Friedens in Guatemala." "Der zweite Faktor ist die soziale Anerkennung unseres Schmerzes. Manchmal scheint es, dass wir in einer Gesellschaft leben, die ihre eigene Geschichte verleugnet. Die soziale Anerkennung unseres Problems ist vital, um zu verhindern, dass die tragische Vergangenheit sich wiederholen kann. Ein wirklicher Frieden kann nicht ohne den Einbezug unserer historischen Erinnerung aufgebaut werden." Die neu gegründete Organisation formuliert aber auch klare Forderungen an diverse Akteure: 1. Wir fordern von der Regierung eine reale Unterstützung, indem sie uns Zugang zu den Informationen verschafft, die über das Schicksal unserer Kinder Auskunft geben, indem sie uns finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, um unsere Arbeit zu realisieren und indem sie uns die politische Rückendeckung gibt und ihr Verantwortung anerkennt, einer der Hauptakteure dieses Dramas gewesen zu sein. 2. Wir fordern von allen politischen Parteien, die sich auf nationaler und lokaler Ebene am Wahlkampf beteiligen, Position zum Thema der im Krieg verschwundenen Kinder zu beziehen. Keine Partei hat bisher das Thema in ihren Diskursen und Wahlversprechen aufgenommen. Es scheint, dass für sie die Vergangenheit und unser Schmerz nicht existieren. 3. Wir fordern von den Medien (Radio, Presse, Fernsehen), dass sie über ihre Kanäle Informationen über unsere Kampagnen und Aktionen verbreiten. Das Thema der verschwundenen Menschen darf nicht als eine konjunkturelle Nachricht behandelt werden, sondern soll über die und in den Medien eine soziale Präsenz und Anerkennung erfahren. Der Prozess zur Aufarbeitung der historischen Vergangenheit in Guatemala ist noch lange nicht abgeschlossen. Das REMHI-Projekt in Nebaj und die Gründung der Organisation Todos por el Reencuentro sind nur kleine Beiträge in dem ganzen Prozess. Das Thema der historischen Erinnerung muss noch weiter vertieft werden, damit die Wunden im Land heilen können und sich die Geschichte der Gewalt und der Zerstörung des Bürgerkrieges nicht mehr wiederholen wird. |
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