PRONADE - selbstverwaltete Schule oder der erste Schritt zur Privatisierung des Bildungswesens?
Fijáte 402 vom 23. Jan. 2008, Artikel 1, Seite 1
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PRONADE - selbstverwaltete Schule oder der erste Schritt zur Privatisierung des Bildungswesens?
Seit 1992 gibt es in Guatemala nebst der staatlichen Grundschulbildung das Nationale selbstverwaltete Programm für die Entwicklung der Bildung (PRONADE). Offizielles Ziel dieses Programms ist die Dezentralisierung des Bildungswesens und die Mitsprache und Übernahme von Verantwortung der Eltern bei der Bildung ihrer Kinder. Das Programm wird von SkeptikerInnen als "schleichende Privatisierung der Bildung" kritisiert. Erstmals untersuchte nun eine Studie mit dem Titel "Das Recht auf Bildung: Der Preis, den die Armen bezahlen" die Auswirkungen, die das Programm auf sozialer und Gemeindeebene hat. In Auftrag gegeben hat die Studie Action Aid Guatemala und das Kollektiv Bildung für alle, publiziert wurde sie 2006, gelangte jedoch erst jetzt in die Hände der "Fijáte"-Redaktion. Wir fassen für die "Fijáte"-LeserInnen die wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie zusammen, die vollständige Version (auf Spanisch) kann bei der Redaktion digital bezogen werden. Was ist PRONADE?In den entsprechenden guatemaltekischen Gesetzen wird Bildung als ein Menschenrecht anerkannt. Der Staat hat die Pflicht, allen BürgerInnen eine kostenlose Schulbildung zur Verfügung zu stellen. Ebenso betonen die Gesetze die Notwendigkeit einer Bildung, welche die soziokulturellen Eigenheiten und die ethische Diversität der guatemaltekischen Bevölkerung berücksichtigt. Die Gründung von PRONADE ist im Kontext der Strukturanpassungsprogramme der 90er Jahre von Weltbank und Währungsfonds zu sehen. Sie ist Teil einer Dezentralisierungsstrategie und soll der ländlichen und sozial ausgeschlossenen Bevölkerung den Zugang zu Bildung garantieren. Dabei wird verschwiegen, dass es gleichzeitig um die Abgabe von Zuständigkeiten seitens der Regierung geht, und die Verantwortung für Bildung und Schule an die Gemeinden und die Eltern abgeschoben wird. Nach einer Restrukturierung des Programms im Jahr 1996 begründet das Bildungsministerium den Auftrag von PRONADE folgendermassen: "PRONADE arbeitet nach dem Prinzip von Selbstverantwortung, Solidarität, Partizipation, administrativer Effizienz und Demokratieförderung. Es richtet sich an die abgelegensten Gemeinden des Landes, wo die Bevölkerung in extremer Armut lebt." Um die Partizipation der BürgerInnen zu gewährleisten, werden Bildungskomitees, sog. COEDUCAs, gegründet. Lokale Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sog. ISEs, dienen als Verbindungsglied zwischen dem Bildungsministerium und den COEDUCAs und haben die Aufgabe, sowohl die COEDUCAs wie auch die LehrerInnen zu beraten und zu coacheAusgangsbedingungen für eine Gemeinde am PRONADE-Programm teilzunehmen, sind u.a.: a) Die Gemeinde muss in einer indigenen und ländlichen Region liegen, wo es keine anderen schulischen Angebote gibt, die nächste Schule muss mindestens 3 Kilometer entfernt liegen. b) Sie muss mindestens 25 SchülerInnen im Alter von 7 - 14 Jahren haben. c) Die Gemeinde muss über die Landtitel des Terrains verfügen, auf dem die Schule steht. Aktuelle SituationHeute profitieren rund 455'000 Kinder in 21 der 22 Departements vom Angebot des PRONADE. Das Programm beschäftigt knapp 15'000 LehrerInnen in 4'637 Schulen, was einen Durchschnitt von 30 Kindern pro LehrerIn macht. Gemäss Daten des UNO-Programms für Entwicklung (PNUD) gehören die Departements Alta Verapaz, Quiché, Huehuetenango, Sololá, Totonicapán, Baja Verapaz und Jalapa zu den ärmsten des Landes. 65% der PRONADE- Schulen befinden sich in diesen Departements. Dies ist positiv im Hinblick auf die Abdeckung in den ärmsten Regionen. Schaut man aber die Bedingungen an, die erfüllt sein müssen, um in den "Genuss" einer PRONADE-Schule zu gelangen, zeigt sich, dass es die abgelegensten und ärmsten Gemeinden sind, die vom Gratis-Schulangebot der Regierung ausgeschlossen sind und für die Schulbildung ihrer Kinder im Rahmen des PRONADE-Programms finanziell aufkommen müssen. Abhängig sein von diesen Bedingungen heisst auch, dass eine Schule vorübergehend geschlossen werden muss, wenn nicht genügend SchülerInnen vorhanden sind, auch wenn die Schule vorher jahrelang bestens funktioniert hat. Diese Massnahme widerspricht dem Prinzip der Universalität und dem Recht auf Bildung für alle Kinder, wie es in den Richtlinien des Bildungsministeriums festgehalten ist. Laut Personen, die im Rahmen der Studie interviewt wurden, ist die zweisprachige Bildung keine Priorität von PRONADE. Die Mehrheit der LehrerInnen spricht die indigene Sprache der Gemeinde nicht, in der sie unterrichten, und die Schulbücher, die von PRONADE zur Verfügung gestellt werden, sind in spanischer Sprache. Die Gebäude, in denen die PRONADE-Schulen untergebracht sind, variieren zwischen Bauten mit zwei Schulräumen und provisorischen Unterrichtsräumen in oder unter dem Vordach von Privathäusern mit den entsprechenden Einschränkungen, was Platz und anderweitige Nutzung dieser (Vor-)Räume betrifft. Die GeschäftsführungDie COEDUCAs sind als juristische Person konstituiert. Ihre Aufgabe ist die administrative Durchführung des Programms im Namen der Gemeinde. Sie bestehen aus Familenvätern und -müttern oder sonstigen Mitgliedern der Gemeinde. Das Bildungsniveau der Mitglieder ist zweitrangig, Voraussetzung ist einzig, dass sie Lesen und Schreiben können. Zu ihren Aufgaben gehört die Auswahl und Anstellung der LehrerInnen, das Bezahlen deren Honorare, das Führen der Buchhaltung, das Definieren des Schulkalenders und (im Rahmen der nationalen Vorgaben) des Curriculums sowie die Qualitätsprüfung. Diese Komitees erhalten das Geld für die Honorare der LehrerInnen direkt vom Erziehungsministerium. Ihre administrative Ausbildung liegt in der Verantwortung der lokalen Nichtregierungsorganisation (ISE). Nach oben |
Nebst der ihnen vom Programm übertragenen Funktionen übernehmen die COEDUCAs noch viele andere Aufgaben: Instandhaltung der Schulräume und des Mobiliars, Bewilligung (oder nicht) von Urlaub bzw. Unterrichtsbefreiung des Lehrpersonals sowie Einführung in den Arbeitsalltag der DozentInnen. Mangels eigener pädagogischer Ausbildung widersprechen die Kriterien für "guten Unterricht" der COEDUCA-Mitglieder oft den Bildungskonzepten der LehrerInnen und das Monitoring verkommt zur Aufsicht oder Bewachung des Lehrpersonals. Die Freistellung von LehrerInnen, sei es wegen Krankheit oder weil sie administrative Angelegenheiten erledigen müssen, wird zu einem bürokratischen und aufwändigen Verfahren: Die Lehrperson muss einen Antrag beim Präsidenten des COEDUCA stellen, dieser beruft den Rest des Komitees ein und trägt das Anliegen der Elternversammlung vor, die eine definitive Entscheidung trifft. Entsprechend ist der Arbeitsaufwand für die COEDUCA-Mitglieder mit rund 48 Stunden jährlich relativ gross. Diese Zeit wird nicht vergütet, im Gegenteil: Verpflegung während der Sitzungen und eventuelle Transportkosten fallen zu Lasten der Mitglieder. Ein weiteres Problem ist die Korruption. Speziell Gemeinden, in denen eine Einschreibegebühr für den Schulbesuch verlangt wird, sind anfällig für Korruption. Es sind aber auch Fälle bekannt, wo die Lehrpersonen für ihre Anstellung Schmiergeld bezahlten, was ein rechtmässiges Selektionsverfahren hintertreibt. Es gibt durchaus Gemeinden, in denen COEDUCAs und LehrerInnen eine Vertrauensbeziehung aufbauen konnten und Probleme gemeinsam angehen. In den meisten Fällen üben die COEDUCAs jedoch ausschliesslich eine Kontrollfunktion aus, was zu Spannungen führt. Verantwortlich dafür sind laut vielen LehrerInnen die ISEs, welche die COEDUCAs auf ihre "Aufgabe" vorbereiten sollten und dabei jegliche Individualität und Berücksichtigung spezieller Situationen in den Gemeinden ignorieren. Die COEDUCAs werden instruiert, sich den LehrerInnen gegenüber wie ChefInnen zu verhalten, was in einem an hierarchische und militärische Strukturen gewöhnten Land wie Guatemala zu verheerendem Machtmissbrauch führen kann. Von den LehrerInnen wird von Seiten der COEDUCAs auch oft erwartet, dass sie innerhalb der Gemeinde noch andere Funktionen wahrnehmen, sei es in der Redaktion von Dokumenten, in der Formulierung von Projektanträgen oder in der Leitung von Sitzungen. Nicht zuletzt wird von ihnen erwartet, dass sie bei sämtlichen sozialen Anlässen des Dorfes mit dabei sind. Durch die Abhängigkeit von den COEDUCAs ist es für die LehrerInnen schwierig, sich solchen Zusatzaufgaben zu verwehren. Gemäss der hier zitierten Studie leisten die LehrerInnen jährlich 57 Arbeitstage, die nicht in ihrem Vertrag festgelegt sind, sei dies in Form von Sitzungen im Zusammenhang mit ihrer Anstellung oder eben in Form der oben genannten Zusatzleistungen. Auch die Rolle der ISEs ist unklar. Irgendwelche lokalen NGO können sich als ISEs "bewerben", die Gemeinde hat kein Mitbestimmungsrecht, und umgekehrt kann eine NGO nicht wählen, in welcher Gemeinde sie die Rolle der ISE übernehmen will. Die LehrerInnen beklagen sich über die mangelnden didaktischen Kenntnisse der Fachleute der ISEs, die ihre Vorgesetzten sind. Die COEDUCAs hingegen sehen in den Fachleuten Verbündete der LehrerInnen. Arbeitsrechtliche SituationDie Arbeitsrechte, auf die sich im Rahmen von PRONADE angestellten LehrerInnen beziehen können, sind einerseits im nationalen LehrerInnengesetz und andererseits in der ILO-Konvention 169 über die Rechte der Indigenen Völker festgeschrieben. Unabhängig von diesen Rechten bedient sich PRONADE mit den COEDUCAs eines Anstellungsmodus' der Privatwirtschaft. Da diese die Rechtsform eines Privatunternehmens haben, können sie LehrerInnen unter schlechteren Bedingungen anstellen als das staatliche Erziehungsministerium. Für PRONADE zu arbeiten, bedeutet für die LehrerInnen, auf erkämpfte Arbeitsrechte zu verzichten. Zum Beispiel bekommen sie bei PRONADE nur einjährige Verträge, entsprechend bei mehrjähriger Tätigkeit keine Dienstalterszulage. Es ist ihnen u.a. verboten, sich gewerkschaftlich zu organisieren, sie erhalten weder Kinderzulagen noch eine Altersvorsorge. Bei staatlichen Anstellungen hingegen gehört dies alles dazu. Diskriminierung von FrauenEs arbeiten verhältnismässig wenige Frauen als Lehrerinnen im PRONADE-Programm. Auf die Frage, weshalb dies so sei, antworteten die Verantwortlichen von PRONADE, dass viele Frauen nicht in abgelegenen Gegenden arbeiten wollen, dass Männer diesbezüglich viel unabhängiger seien. Frauen könne auch nicht zugemutet werden, in den Schulzimmern oder sonst unzulänglichen Orten zu übernachten. Ausserdem sei auch die Mehrzahl der SchülerInnen männlich. Schwangere Frauen werden nicht eingestellt und es sind Fälle bekannt, wo Frauen gedroht wurde, dass sie im Falle einer Schwangerschaft entlassen würden. FazitZusammenfassend kann gesagt werden, dass PRONADE zwar Bildungsmöglichkeiten in abgelegene Regionen bringt und einer beachtlichen Anzahl von Jungen und Mädchen aus armen Verhältnissen den Schulbesuch ermöglicht, andererseits aber die Kosten für diese Bildung den Eltern der SchülerInnen aufbürdet. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die COEDUCAs ihre Machtposition gegenüber den LehrerInnen ausspielen und ökonomische Interessen über dem Interesse an einer guten Bildung stehen. Und drittens werden durch dieses System die Arbeitsrechte der LehrerInnen ausgehebelt. PRONADE privatisiert nicht nur die Bildung, indem zwar die Kosten für das Programm von der Regierung und internationalen Geldgebern getragen werden, die Kosten für Unterhalt und Funktionieren der eigenen Schule jedoch den Gemeinden angelastet werden. Weiter trägt das Programm zur sozialen Destabilisierung der Gemeindestrukturen bei, indem Väter und Mütter gezwungen werden, Verantwortungen zu übernehmen, auf die sie nicht vorbereitet und für die sie nicht ausgebildet sind. Autoritäre, parteipolitische, korrupte und machistische Strukturen finden in diesem Setting einen fruchtbaren Nährboden - dem vermeintlichen Ziel der Demokratisierung wird Hohn gespottet. Zwar kann pragmatisch argumentiert und die Existenz einer Schule und die Möglichkeit, dass die Kinder zur Schule gehen können, befürwortet werden. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass mit der blossen Existenz einer Schule weder die Entwicklung der Gemeinde im Allgemeinen noch der Kinder im Speziellen garantiert ist. Dazu bräuchte es mindestens noch Klarheit in Bezug auf die Ziele, den Inhalt, die Methodologie und die Qualität des Bildungsangebotes. |
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