"Einen Präsidenten zu stürzen, ist schon recht viel"
Fijáte 349 vom 7. Dez. 2005, Artikel 1, Seite 1
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"Einen Präsidenten zu stürzen, ist schon recht viel"
Wir haben kürzlich an dieser Stelle einen Artikel über die Indigene Bewegung und das Projekt der Amerikanischen Deklaration zu den Rechten der Indigenen Völker veröffentlicht (siehe ¡Fijáte! 345). Der Autor jenes Artikels begrüsste einerseits die Existenz Internationaler Konventionen über die Rechte der Indigenen Völker, wies aber gleichzeitig auf die Gefahr hin, mit der Konzentration auf eine Annerkennungspolitik die Forderungen nach Umverteilung zu vergessen. Mit dem hier veröffentlichten Artikel möchten wir die Diskussion über die "Indigene Identität" bzw. die "Indigenen Identitäten" weiterführen. Santiago Bastos und Saríah Acevedo sprechen das Problem an, dass der Staat die Rechte und die Identität der indigenen Bevölkerung auf ein kulturelles "Phänomen" reduziert, wenn es aber um Macht oder eben Umverteilung der Macht geht, die bekannten Ausschlussmechanismen wieder ins Spiel kommen. Das nachfolgende Interview mit Santiago Bastos und Saría Acevedo erschien in Inforpress Centroamericana 1634 vom 18. November 2005. Frage: Woher stammt die Maya-Identität? Santiago Bastos: Die Maya-Identität ist ein Prozess. Identitäten werden konstruiert. Viele Leute glauben, die Maya-Identität sei aus den Friedensabkommen erwachsen. Das ist ein Stereotyp, und man muss sehr aufpassen, wenn man damit argumentiert. Ich würde im Gegenteil sagen, dass gewisse Richtungen, die mit den Friedensabkommen eingeschlagen wurden, dank der bereits existierenden Maya-Identität überhaupt erst thematisiert wurden. Die indigenen Mobilisierungen begannen in den 60er-Jahren und hatten ihren Einfluss auf die Guerilla. Nicht dass alle Indígenas Guerilleros und Guerilleras gewesen wären, aber da bestand ein klarer Bezug. Die Stärkung der Maya-Identität verlief parallel zu den Friedensverhandlungen und 1995 wurde das Abkommen über die Rechte und die Identität der Indigenen Völker unterzeichnet. Die sozialen Bewegungen, in denen die Indígenas organisiert waren, bezogen sich in ihrem täglichen Kampf immer auf die MayaIdentität und z. B. das indigene Gewohnheitsrecht. Saríah Acevedo: Diese historische Entwicklung, von der Santiago spricht, ist interessant. Wenn wir sagen, dass die Maya-Bewegung in den 60er-Jahren entstand, soll das nicht heissen, dass es während der Kolonialisierung keine indigenen Völker gegeben hätte. Aber die Art, wie sie sich selber bezeichnet oder benannt haben, hat sich gemäss den Unterdrückungsstrukturen verändert. Indios, Naturales, danach Indígenas und heute ist es die Bevölkerung selber, die mit dem Aufbau einer neuen Identität sich als Mayas bezeichnet. Es ist nicht der Staat, der diesen Begriff eingeführt hat, sondern Personen und Gruppen, die über Diskussionsprozesse und Reflexionen zu einer allgemein akzeptierten Übereinstimmung gekommen sind, unter der sich diverse Sektoren vereinen konnten. Daraus ist ein politischer Diskurs und die Forderung nach spezifischen Rechten entstanden. Die MayaBewegung ist heterogen, nicht bloss weil sie aus verschiedenen Ethnien zusammengesetzt ist. Da kommen noch Faktoren wie die regionale Herkunft, die soziale Klasse etc. dazu. Alle diese Gruppen haben ihr eigenes Verständnis von Maya-Sein. Mit den Friedensabkommen hat sich diese Einsicht durchgesetzt und der Staat hat anerkannt, dass es eine Maya-Bevölkerung gibt. Sie wird in den politischen Diskurs aufgenommen und findet somit Eingang in die politische Welt. Frage: Gemäss der letzten Volkszählung sind 39% der Bevölkerung Mayas, es gibt aber auch Leute die behaupten, dass es bis zu 60% sind. Wer ist Maya in diesem Land? S.B.: Das Ergebnis der Volkszählung ist sehr interessant. Es ist tatsächlich einfacher, die politischen und die Regierungsinstanzen oder die Internationale Gemeinschaft davon zu überzeugen, den Begriff "Maya-Bevölkerung" zu verwenden, als die Bevölkerung selber. Weshalb? Da steckt ein ideologischer Prozess hinter. Wie gesagt, Identitäten werden konstruiert und wenn die Regierung während mehr als 200 Jahren die Leute davon überzeugt, dass, wer nicht Indio ist, Ladino ist, und wer Ladino ist, zwar arm aber immerhin kein Indio ist, dann werden so Ideologien verbreitet und verankert. Auf der einen Seite haben wir den Staat mit seinem ganzen Apparat, um solche Ideologien zu verbreiten, auf der anderen Seite haben wir die indigene Bewegung, die nicht die selben Mittel zur Verfügung hat, um die Leute dazu zu bringen, sich selber als Mayas anzuerkennen. Ich arbeite nun schon 20 Jahre zu diesem Thema und in einer Sache hat sich nichts verändert: Wenn du die Leute fragst, ob sie Maya seien, sagen sie "nein", wenn du sie fragst, ob sie Indígenas seien, sagen sie "ich weiss nicht" und wenn du sie fragst, ob sie Ladinos seien, dann ist die Antwort "NEIN!". Eine Sache kann man also mit Sicherheit sagen: Der Ladinisierungsprozess hat nicht funktioniert. Und dass ist schon ein ganz schöner Triumph. Frage: Wie verhält sich der Staat gegenüber der "Mayanisierung"? S.A.: Der Staat ist sehr offen, wenn es sich um Forderungen kultureller Art handelt, verschliesst sich hingegen, wenn es um sozioökonomische Forderungen geht. Konkrete Beispiele sind die Bewegungen in Totonicapán und Sololá, die sich gegen das Wassergesetz und die Minenprojekte wehren. Wenn wir unsere Trachten und unsere Musik pflegen wollen, heisst es: "Wunderbar, geht zum Kulturministerium und ihr bekommt, was ihr braucht". Dies ist gut und wichtig, denn es geht um uns Mayas und um unsere Kultur, aber wenn wir Macht wollen, dann heisst es, wir seien manipulierte Bewegungen. Die Regierung ist uns gegenüber offen, solange es um etwas geht, das nicht konfliktträchtig ist, wenn wir aber Themen ansprechen, welche das ungerechte System in Frage stellen, dann stossen wir auf Widerstand. Frage: Was bedeutet die Maya-Bewegung im politischen Kontext? S.B.: Die Bewegung drückt sich in organisatorischer, sozialer und politischer Form aus. Die Tatsache, sich selber als Maya zu identifizieren, bedeutet aber nicht automatisch, einen oder eine Maya zu wählen. Die Maya-Identität ist nicht notwendigerweise eine parteipolitische Identität. Eine solche bildet sich erst aufgrund der politischen Debatte. Ein politisches Maya-Projekt könnte funktionieren, bräuchte aber mehr als nur den Identitätsfaktor. Ich sehe zwei politische Optionen: Entweder die Gründung einer Maya-Partei oder wir schliessen uns den bestehenden politischen Parteien an. Die Frage ist also: Mayanisieren oder Guatemaltekisieren wir uns oder anders gesagt, schliessen wir uns den bestehenden Strukturen an oder gründen wir unsere eigene. S.A.: Man darf die Heterogenität nicht vergessen. Nicht alle, die sich Mayas nennen, haben die selben Interessen und denken identisch. Es gibt Mayas innerhalb der Campesino-Bewegung, ihre Bedürfnisse entsprechen denen der BäuerInnenbewegung. Es gibt Mayas, die sind AkademikerInnen und verfolgen entsprechende Interessen. Dann gibt es Mayas, die eher auf der kulturalistischen Schiene fahren, andere dagegen wieder mehr auf der politischen. Es gibt Mayas die Gewerbe betreiben und Zugang zum freien Markt wollen, auch das ist eine Realität. Die Identifizierung als Maya zusätzlich zu den hier aufgezählten anderen Identifikationen ist positiv, es bedeutet, sich immer mehr von der despektierlichen Bezeichnung Indio zu lösen und sich einer philosophischen und kulturellen Strömung anzunähern. Das Ziel der MayaBewegung ist, die Stigmatisierung zu durchbrechen, die mit den Begriffen Indio oder Indígena auf der Maya-Bevölkerung lastet. Wir wollen dem eine neue Bedeutung geben. Nach oben |
Frage: Welche Rolle spielte der Staat bei der Konstruktion dieser Identität? S.A.: Während des internen bewaffneten Konflikts befand sich der Staat in einer Legitimitäts- und Regierungskrise. Er war sich bewusst, dass er eine Integrationspolitik betreiben musste, wenn er nicht kollabieren wollte. In diesem Sinne boten die Friedensabkommen eine Gelegenheit, das Maya-Thema aufzugreifen und einzubeziehen. Die Ursachen, die zum bewaffneten Konflikt führten, wurden mit den Friedensabkommen nicht behoben, aber sie erlaubten eine gewisse Modernisierung und geben dem Staat den notwendigen Sauerstoff, um noch etwas zu überleben. Das Funktionieren des Staates hängt stark davon ab, ob er es schafft, die Maya-Bewegung zu integrieren. Wenn es aber so weitergeht wie bisher, wenn nur periphere Fragen behandelt werden und die zentralen Elemente wie die Ungleichheit, die Gerechtigkeit und andere Faktoren übergangen werden, wird es unweigerlich wieder eine Krise geben. Frage: Was bedeutet die Ernennung von Maya-VertreterInnen in Staatsfunktionen? S.A.: Dies ist eine Sache, die auf zwei Ebenen Spannungen verursacht. Auf der einen Seite ist uns allen klar, dass der Staat seit seinen Anfängen rassistisch und ausschliessend ist und dass die politischen und administrativen Strukturen in diesem Sinne funktionieren. Auf der anderen Seite hat die indigene Bewegung die Forderung nach politischer Beteiligung aufgestellt. Es wurde damit argumentiert, dass wir die Mehrheit der Bevölkerung sind, aber die Politik in Funktion der Minderheit steht, und dass es nicht reicht, ein "Indígena-Gesetz" oder ein "Indígena-Ministerium" zu fordern. Ein konkretes Beispiel ist der indigene Entwicklungsfonds (FODIGUA) der ein Budget von 20 Mio. Quetzales hat für einen Sektor, der zwischen 40% und 60% der Bevölkerung ausmacht. Oder die Defensoría de la Mujer Indígena, die ein Budget von 1 Mio. Quetzales für fast die Hälfte der Frauen dieses Landes zur Verfügung hat. Der Staat hat kleine Institutionen geschaffen für etwas, das einen ganzen Sektor umfassen sollte. Wenn ein oder eine Indígena einen Staatsposten einnimmt, besteht auf der einen Seite die Befürchtung, dass er oder sie die Ideale der Maya-Bewegung verrät. Und innerhalb des Staates befürchten gewisse FunktionärInnen, dass die Mayas die Sache auf den Kopf stellen und einen umgekehrten Rassismus einführen wollen. Dazu kommt, dass die politischen Parteien keine Nachwuchskader ausbilden. Die sozialen Bewegungen hingegen schon, aber ihre Einflussnahme auf die Regierungspolitik ist sehr gering. Frage: Könnte eine Maya-Partei zu einer wichtigen politischen Kraft werden? S.B.: Das Phänomen der sozialen Bewegungen kennen wir in ganz Lateinamerika. In einigen Ländern sind sie erfolgreicher als in anderen. In Bolivien z.B. staunen alle über die Mobilisierungsfähigkeit der bolivianischen Indígenas, dessen Bewegung sich sozialistische Bewegung nennt. Frage: Diese indigenen Parteien, wie in Bolivien oder Ecuador, wurden von einigen als tumbapresidente-Bewegungen (Bewegungen, deren Ziel der Sturz des Präsidenten ist) bezeichnet, denen eine politische Vision fehlt. S.B.: Stell dir vor, einen Präsidenten zu stürzen, ist schon recht viel! Die Demokratisierung kann nur das Mittel sein, nicht das Ziel an sich. Wenn die Institutionalität funktionieren würde, gäbe es solche Bewegungen nicht. Wie kann man das Justizwesen so umgestalten, dass es jemanden, der oder die einen Fehler begeht, nicht gleich einsperrt, sondern andere Formen von "Bestrafung" gesucht werden, wie es die MayaVölker machen? Aber speziell in Guatemala ist der Staat solchen Veränderungen gegenüber total verschlossen. Frage: Würde eine Indígenapartei ideologisch mit einer linken Partei übereinstimmen? S.B.: Das hatten wir ja schon zur Zeit des bewaffneten Konflikts. Die indigenen Bewegungen sind eine Antwort des Volkes an die leidende, ausgeschlossene Bevölkerung, die ihre sozioökonomischen Rechte einfordert, ebenso wie andere, nicht-indigene Sektoren. Kraft erhält diese Bewegung dann, wenn sie es schafft, sich mit anderen Sektoren zusammenzuschliessen. |
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