Gefängniskollaps als politische Schachstrategie?
Fijáte 347 vom 9. Nov. 2005, Artikel 5, Seite 4
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Gefängniskollaps als politische Schachstrategie?
Guatemala, 05. Nov. Eben noch wurden das Engagement und die Wichtigkeit des Militärs unter der Führung von Verteidigungsminister Carlos Aldana Villanueva in der Bewältigung der Katastrophe nach Sturm ,,Stan" in den höchsten Tönen gepriesen, da wird dem Ressortleiter der Staatsinstitution auch schon gekündigt. Jedoch in einem anderen Zusammenhang. Die offizielle Begründung der Entlassung: Das Militär habe seine Funktion nicht erfüllt. Der Hintergrund: Die Flucht von 19 Schwerstverbrechern aus dem angeblich sichersten Hochsicherheitsgefängnis des Landes in Escuinlta, als ,,Infiernito" ,,kleine Hölle" bekannt. Und zwar angeblich durch einen selbstausgehobenen Tunnel. Doch die Medienberichte lassen mehr Fragen offen, als dass sie den Nebel um den mysteriösen Ausbruch lichten. Nicht nur schwanken die Informationen über den Tathergang mal ist die Rede davon, dass der Tunnel 120 Meter, dann aber auf einmal bloss 43,9 Meter lang gewesen sein soll, dann ist plötzlich unklar, ob die Flucht tatsächlich im Morgengrauen des 22. Oktober oder bereits vorher stattgefunden habe es beeindrucken zudem die Erklärungsversuche und Massnahmen von Seiten der Zuständigen. Imponierend einmal mehr die gegenseitige Schuldzuschreibung, deren Rechnung schliesslich also der Verteidigungsminister zahlen musste. Die Presse hält sich derweil mit dem Zusammenrechnen der Gesamtstrafzeit der geflüchteten Sträflinge (799 Jahre) und der Bezeichnung dieser als "menschlicher Abschaum" auf, währenddessen von den Autoritäten angekündigt wird, die Gefängnismauern zu erhöhen und mit drei weiteren unter Strom gestellten Maschendrahtzäunen zu verstärken. Zwei von den neunzehn Männern sind unterdessen lebend wieder "eingefangen" und sagten bereits als Zeugen aus, ein Flüchtiger kam bei einer wilden Schiesserei mit der Polizei ums Leben. Angeklagt und verurteilt sind die Ausgebrochenen unter anderem wegen schweren Raubes, Mordes an Kindern und Frauen, und einige gehören zu berühmt-berüchtigten Entführerbanden. Die Angst derjenigen, die bereits Opfer der Verbrecher waren und als ZeugInnen in den entsprechenen Gerichtsverfahren für die Verurteilung gesorgt haben, aber auch Gerichtsangestellte und RichterInnen fürchten derweil berechtigterweise um ihre Sicherheit und ihr Leben, wurden manche von ihnen doch schon zum wiederholten Male Opfer der Täter, als zwei von ihnen vor wenigen Jahren schon einmal aus der Haft entflohen waren. Dabei liegen sowohl auf Initiative von Organisationen der Zivilgesellschaft als auch von der zuständigen internen Kommission dem Kongress seit Monaten diverse Vorschläge zur Refomierung des Haftsystems vor, dessen Ineffizienz und Misswirtschaft seit Jahren ermöglichen, dass die Häftlinge die Kontrolle der Gefängnisse in der Hand haben und die Wärter nicht nur aufgrund des niedrigen Gehaltes empfänglich für Korruption und Beihilfe sind. Es ist doch verdächtig, dass bei nicht seltenen Razzien neben Mobiltelefonen und den wohl beinahe obligatorischen Drogen stets zahlreiche Stich- und Schusswaffen und oftmals Handgranaten eingezogen wurden, derweil die Bedeutung der Rehabilitationsmassnahmen angeblich bekannt ist, die Häftlinge jedoch unter katastrophalen Bedingungen in den "Anstalten" eingepfercht sind. Die Fragwürdigkeit des herrschenden Justizsystems und somit die allgemeine Straflosigkeit zeigen sich laut Mario Fuentes Destarac u. a. in folgenden Zahlen: Schätzungsweise 75% aller Straftaten bleiben den Autoritäten unbekannt, sei es aufgrund der Unglaubwürdigkeit des Justizsystems oder der Angst vor Repressalien durch die Delinquenten. Von den eingereichten Klagen werden nur 11% in einem Strafprozess verfolgt und 0,1% enden in einem Urteil der Entlastung oder Bestrafung. Und schliesslich bleiben 81% der von der Polizei festgenommenen aufgrund mangelnder Beweise auf freiem Fuss. Nun sollte es also - aufgrund von vorherigen brieflichen Anträgen von Seiten der Gefängnisleitung des Infiernito, Aufgabe des Militärs gewesen sein, die äussere Umgebung des Knastes zu sichern, denn angekündigt und selbst dem Innenminister bekannt, war der Ausbruch, dessen Planung nach Angaben der Autoritäten mindestens seit Dezember und die Ausgrabungen des Tunnels mindestens seit Ostern im Gange waren. Es bleibt weiterhin ungeklärt, wer sich um das Wegschaffen der Erde gekümmert hat, wer die Ventilatoren und Beleuchtungsteile beschafft hat, mit denen der Tunnel ausgestattet war und schliesslich, ob nicht doch - so die Vermutung der Staatsanwaltschaft - die meisten der Geflüchteten, die Haupttür des Gefängnisses benutzt haben. Oder stecken womöglich doch politische Strategien hinter all den Skandalen um die Gefängnisse, in denen in den letzten wenigen Monaten nicht nur zahlreiche Mitglieder der Jugendbanden Mara Salvatrucha und Mara 18 sich gegenseitig auf die brutalste Weise umgebracht haben, sondern die Verbindungen zum organisierten Verbrechen mehr als deutlich wurden? Nach oben |
Eine grundlegende (Freundschafts?) Frage stellt sich dabei unter anderem an Präsident Oscar Berger: Warum muss Verteidigungsminister Aldana gehen, wobei die Verfassung seinem Ressorts die Nationale Sicherheit zuschreibt, aber Innenminister Carlos Vielmann, dessen Verantwortung die Innere Sicherheit ist, zudem auch die Gefängnisse gehören, seinen Posten behält, obwohl ganz offensichtlich er seinem Amt nicht nachgekommen ist? Dass Aldana von General Francisco Bermudez ersetzt wird, der 2000 als Kasernenkommandant in Puerto Barrios der Geldhinterziehung überführt wurde, steht noch auf einem anderen Blatt. Die Hypothesen weisen derweil in zwei Richtungen: Möglicherweise handelt es sich um das langgehegte Interesse der Remilitarisierung des Landes, um dem Militär, das seit Unterzeichnung der Friedensverträge die Rechtfertigung seiner massiven Präsenz und Aktion im Land verloren hat und seitdem vornehmlich durch seine Ineffizienz und Geldmachenschaften Schlagzeilen macht, wieder eine Bedeutung zu geben und sei es die, unabdingbar zu sein, weil die Regierung unfähig ist, die Sicherheit der BürgerInnen zu gewährleisten. Damit könnte nicht nur der horrende Etat für das Militär, sondern auch diverse bereits bzw. immer noch gängige repressive Massnahmen gegen die (organisierte) Zivilgesellschaft begründet werden. Roberto Arias stellt in seiner Kolumne in der Tageszeitung La Hora derweil, wenn auch recht polemisch, die andere These auf: ,,Die zwei Massenfluchten aus ,,Hochsicherheitsgefängnissen", die während der etwas mehr als zwei Jahre, die Oscar Berger Perdomo der Republik Guatemala als Präsident vorsteht, vorgekommen sind, scheinen bewusst von der aktuellen Regierung geplant und ausgeführt mit der Absicht, dass die ,,Unternehmerschaft", für die Berger laut eigenen Aussagen regiert, zur Mitte der Regierungszeit, den perfekten Vorwand vor den gutgläubigen Augen der Bevölkerung hat, sich das Haftsystem anzueignen oder wenigstens die Gefängnisse. Die Unterstützung der empressarialen Konzessions- und Privatisierungsmannöver durch den Präsidenten, den Innenminister Vielmann und den Verteidigungsminister Aldana in Form der Verweigerung der Sicherung der Gefängnisaussenmauern, die mit Sicherheit auf den Namen von Verwandten oder anderen Strohmännern - saftige Aktien im Gefängnisgeschäft einstekken würden, ist offenkundig." |
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