Guatemala zwischen gescheiterter Staatsbildung und Widerstand
Fijáte 406 vom 19. März 2008, Artikel 1, Seite 1
Original-PDF 406 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - 10 --- Nächstes Fijáte
Guatemala zwischen gescheiterter Staatsbildung und Widerstand
Die gesamte ¡Fijáte!-Ausgabe Nr. 401 war der im Dezember 2007 durchgeführten Tagung von medico international Schweiz mit dem Titel "Nach dem Krieg - wo bleibt die soziale Gerechtigkeit" gewidmet. Wir haben die dort gehaltenen Referate zusammengefasst und je mit einem Kommentar der Redaktion versehen. Anfang März erhielten wir ein Schreiben von Miguel Moerth, einem der Referenten der Tagung, in dem er mit Datum vom 18. Januar unmittelbar auf unseren ¡Fijáte! reagierte - und eine ausführliche Antwort auf sein von uns zusammengefasstes Referat schrieb. Gerne drucken wir an dieser Stelle den Text von Miguel Moerth ab, denn auch wir haben ein Interesse daran, die Diskussion über unser Verständnis von Staat und Widerstand weiterzuführen und zu vertiefen. Als für jene ¡Fijáte!-Ausgabe zuständige Redakteurin möchte ich mich an dieser Stelle bei Miguel entschuldigen für den zugegebenermassen etwas saloppen und provokativen Kommentar und für die aus Platzgründen möglicherweise im wahrsten Sinne des Wortes "verkürzte" Wiedergabe seines Referats. Gleichzeitig danke ich ihm für seine ausführliche Stellungnahme, die wir im Folgenden in ihrer ganzen Länge abdrucken. Interessierte können bei der ¡Fijáte!-Redaktion eine CD mit der Originalaufnahme des Referats von Miguel Moerth bestellen. Barbara Müller Liebe Redaktion, ich nehme Bezug auf das Fijáte vom 9.1. dieses Jahres und auf die Zusammenfassung meines Referates anlässlich der Jubiläumstagung von medico international Schweiz im Dezember und ich möchte gerne die notwendige Diskussion vertiefen. Im Gegensatz zu Euch bin ich nämlich davon überzeugt, dass es nicht um die Position eines "pragmatisch gewordenen" und "etwas naiven" Rechtsanwaltes geht, wie Ihr schreibt, sondern um eine konzeptuelle Frage, die meiner Auffassung nach gründlich diskutiert werden sollte. Der Titel meines Referates hiess übrigens nicht, wie Euer Artikel vermuten lässt, "Straflosigkeit und Gerechtigkeit" sondern "Guatemala zwischen gescheiterter Staatsbildung und Widerstand" und schon gar nicht habe ich in meinem Referat die These vertreten, "das Problem sei heute nicht mehr ein repressiver sondern ein zerfallender Staat". Dazu zitiert Ihr mich, dass "Staat und Zivilgesellschaft in einem Boot sitzen" würden, was dann tatsächlich im besten Fall den Eindruck macht, als habe man es mit einem sehr naiven Menschen zu tun. Ich glaube, dass hinter diesen falschen bzw. halbfalschen Zitaten eine konzeptuelle Diskussion steht und wir sollten diese führen, statt mit Worten wie "pragmatisch" geworden den Eindruck zu erwecken, jemand habe sich zu sehr angepasst. Pragmatisch ist übrigens meiner Auffassung nach nichts Negatives; ich habe meinen Beruf immer politisch verstanden, aber pragmatisch ausgeübt. Zurück zum Referat. Ich bin der festen Überzeugung und habe dies in meinem Referat sehr deutlich gesagt, dass wir in den letzten vier Jahren sehr wohl eine repressive Entwicklung in Guatemala erlebt haben. Im Streit um zwei sehr verschiedene Sicherheitskonzepte ist eindeutig das demokratische auf der Strecke geblieben und hat sich das repressive durchgesetzt. Wie sonst kann es zu systematischen Morden und Hinrichtungen durch die Polizei kommen, zu äusserst gewaltsamen Räumungen friedlicher Besetzungen oder zu Strafverfolgungen von Leuten, die sich zur Wehr setzen? Beispiel für diese Erscheinungen gibt es zuhauf und ich habe in meinem Vortrag sogar noch ein Bild eines dieser blutigen Polizeieinsätze projektiert, um dieses repressive Sicherheitskonzept zu visualisieren. Ich habe auch von den Tendenzen der Militarisierung der Konzepte gesprochen. Ich weiss, dass Ihr es nicht böse meint, aber wer mich da falsch verstanden hat, hat entweder - Entschuldigung - nicht zugehört oder hat sich (was ich eher vermute) durch eine andere meiner Thesen (s. u.) verleiten lassen, mich falsch zu interpretieren. Um es am Beispiel der "Polizeireformen" in Guatemala noch genauer zu machen: Wenn der Präsident Arzú (1996-2000) nach der Unterschrift unter die Friedensverträge von "Polizeireform" sprach, meinte er ein Recyclingsystem, durch das Beamte aus dem repressiven Apparat, die - mittels einiger Menschenrechtsseminare - ausgerechnet durch die spanische Guardia Civil auf einmal zu tüchtigen, demokratischen Polizisten mutieren sollten. Dann kamen vier Jahre Regierung Portillo, die diese Polizei erneut systematisch korrumpierten und ausserdem in vier Jahren fünfmal den Minister und siebenmal den Polizeidirektor auswechselten und mit ihnen die gesamte Führung. Das hält keine Institution aus. Und dann kam die Regierung Berger (2004-2008) und mit ihr der Minister Vielmann und sein Polizeidirektor Sperissen, letzterer auch noch mit Schweizer Pass, die über diese Ruinen die alte und neue repressive Doktrin stülpten. Das Ergebnis war ein verkommener Polizeiapparat mit repressiver Philosophie; das wurde besonders deutlich im Februar 2007, als Polizisten drei salvadorianische Abgeordnete und ihren Fahrer ermordeten, und dann eine Woche später - möglicherweise von ihren Kollegen - im Gefängnis selbst zum Schweigen gebracht wurden. Deswegen glaube ich sehr wenig an den berühmten Übergangsprozess (Proceso de Transición) in Guatemala, solange hier die immer Gleichen das Gleiche an die Gleichen übergeben. Von welcher Transition reden wir also? In diesem Zusammenhang noch eine kleine Korrektur: Ich habe nicht gesagt, dass in Guatemala die geringe "Effizienz auch im zentralamerikanischen Vergleich in punkto Finanzierung oder Stellenbesetzung beispiellos katastrophal ist", und man von daher sagen kann "...je mehr Kriminalität desto weniger PolizistInnen, je mehr Morde, desto weniger StaatsanwältInnen". Tatsache ist, dass ich die Effizienz als katastrophal beschrieben habe, aber eben auch, dass Guatemala im Vergleich der Staatsanwälte pro Kopf z.B. absolut positiv dasteht und auch bei der finanziellen Investition in die Staatsanwaltschaft. Aber gerade dieser Zusammenhang der vorgestellten Zahlen zeigt ja, dass es um ein politisches Problem geht. Mit den zur Verfügung gestellten Mitteln kann vielleicht kein europäischer Standard bei der Verbrechensaufklärung erreicht werden, aber grosse Fortschritte sind ohne weiteres möglich. Dass sie nicht gemacht werden trotz der Investierungen, beweist, dass der politische Wille zur Veränderung z. B. beim Generalstaatsanwalt und seiner Behörde nicht besteht. Die CICIG wird das in Rechnung zu stellen haben. Ich habe schon im Titel meines Referates (s. o.) die Frage nach einer eventuell gescheiterten Staatsbildung (failed state) aufgeworfen, bin aber im Gegensatz zu Eurem Zitat ausdrücklich nicht zu dem Schluss gekommen, dass Guatemala die drei Bedingungen hierfür erfüllt. Zum Beispiel hat der Staat nicht die Kontrolle über sein Staatsgebiet verloren, sondern "lediglich" in einigen Teilregionen. Ich habe daher in Zürich die Frage gestellt und Ihr gebt sie dann auch richtig wieder: Ist die Staatsbildung also gescheitert oder ist der Prozess noch umkehrbar? Und bin zu der Antwort gekommen, dass die beschriebene Krise - den politischen Willen zur Veränderung und energisches Handeln vorausgesetzt - umgekehrt werden kann. Die Staatsbildung ist also noch nicht gescheitert, aber Guatemala steht am Scheideweg: In welche Richtung gehen wir? Die Krise führt eindeutig zum Abgrund, aber die neue Regierung Colom kann Zeichen in eine andere Richtung setzen - wenn sie will -, und da werden wir sie genau beobachten müssen. Tatsache ist aber, dass die Krise sehr tief ist, und dass diese tiefe Krise Einfluss auf Widerstandskonzepte hat; und hier scheint es Widerspruch zu geben, nur habt Ihr leider dieses Thema in Eurer Zusammenfassung gar nicht mehr erwähnt; das Thema der Staatsstärkung und der Staatskonzepte interessierte mich aber vor allem innerhalb der Diskussion der Widerstandskonzepte. Deswegen auch der Titel meines Referates. Und natürlich stellt sich überhaupt nicht die Frage, ob Widerstand geleistet werden muss oder wir stattdessen den Staat stärken sollen. Nach oben |
Die Frage ist, ob wir den Widerstand genauso definieren können, wie wir ihn in Europa definieren oder wie wir ihn in Guatemala vor 20 Jahren definiert haben. In den 80er Jahren wurden Völkermord und Repression in Guatemala durch einen starken Counter Insurgency Staat durchgeführt. Und gegenüber diesem starken Staat war das Widerstandskonzept die Niederlage dieses Staates durch Revolution. Jetzt, 25 Jahre später, die durch den Neoliberalismus, die systematische Zerstückelung und Schwächung des Staates in Konzept und Funktion geprägt sind, haben wir es in Guatemala mit einem äusserst schwachen Staat zu tun, der seine wesentliche Aufgabe, nämlich eine gewisse Balance zwischen Schwachen und Starken in der Gesellschaft zu gewährleisten, nicht mal annähernd nachkommt - und auch wenn er das wollte: er könnte es kaum. Und das ist einer der tiefen Gründe für das Scheitern des Friedensprozesses. Das von den Friedensverträgen vorgeschlagene neue Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft kann so nicht wirklich funktionieren. In dieser Situation kann meiner Auffassung nach das Widerstandskonzept nicht unverändert bleiben. Dass das Menschen, die in Europa Widerstand leisten und hier nach wie vor auf einen starken Staat treffen, schwer fällt zu verstehen, kann ich begreifen. Aber das ändert nichts. In Guatemala bekämpfen wir den repressiven Staat und fordern die CICIG, eine internationale Kommission, um die illegalen Strukturen der Gegenwart und Vergangenheit, die sich im Staat eingenistet haben, zu bekämpfen und um - ausdrücklich - den Staat durch Säuberung zu stärken. Wir bekämpfen die Impunidad (Straflosigkeit) und die Komplizenschaft zwischen Richtern, Staatsanwälten und Völkermördern, aber arbeiten auch daran, ein anderes Gerichtssystem aufzubauen. Wir arbeiten, wenn auch bisher vergebens, an der Strafverfolgung von Ríos Montt und versuchen die Staatsanwaltschaft zu säubern und zu stärken, damit sie dies tun kann. Damit stärken wir den Staat und wollen das auch. In meinem Vortrag schlage ich also vor, in dieser Situation den Widerstand um dieses Konzept zu bereichern. Staat und Gesellschaft befinden sich also nicht im gleichen Boot, aber ich bin der festen Überzeugung, dass die Zivilgesellschaft den Kampf gegen die Eliten, ihre Interessen, ihre Macht ohne einen halbwegs funktionierenden Staat kaum gewinnen kann. Genauso wenig wie man die Impunidad bekämpfen kann, ohne auf den Staat zu setzen. Noch einmal zu der Kritik des gemeinsamen Bootes. Wie andere pointierte Bemerkungen enthält mein Powerpoint die Bemerkung: "Moderner Staat und Zivilgesellschaft in einem Boot; Konzepte ändern"; das mag unglücklich formuliert sein, will aber das gleiche sagen, und ich habe das damals ausdrücklich ausgeführt: keiner kann wirklich ohne den anderen; der Staat muss begreifen, will das aber oft nicht, dass die Zivilgesellschaft seine Alliierte ist, wenn es um die augenblickliche Krise geht; und die Zivilgesellschaft kann heute kaum mehr nur Widerstand leisten, ohne die Stärkung eines demokratischen Staatskonzepts mit aufzunehmen. Das passiert z. B. letztlich, wenn der Kampf gegen die Minen durch eine Volksbefragung im Rahmen der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) legitimiert wird, die die Regierung dann nicht anerkennt. Aber dieses Beispiel macht eben auch deutlich, dass es nicht darum geht, wie Ihr mir fälschlicherweise unterstellt, ein "Bewusstsein zu schaffen, dass Staat und Zivilgesellschaft in einem Boot sitzen". Das tun sie dann offensichtlich nicht, wenn nach der Ablehnung die Beamten mit dem Knüppel auf Dich losgehen. Sie sollten sich aber unbedingt zusammensetzen, von mir aus in einem Boot, falls sie beide an einer echten demokratischen Reform interessiert sind. Zum Beispiel haben sich Menschenrechts - und soziale Organisationen mit der Staatsanwaltschaft 2005 über ein unglaublich kompliziertes Thema zusammengesetzt: die Erarbeitung eines Gesetzes gegen die organisierte Kriminalität. Und sind in einem Thema, in dem Strafverfolgungsbehörden und Menschenrechtler normalerweise kaum der gleichen Meinung sind, zu einem Konsens auf der Grundlage rechtsstaatlicher Prinzipien gekommen, um einen Missbrauch der verschiedenen Instrumente vorzubeugen. Diesen Konsens versuchten prompt verschiedene Abgeordnete, allen voran General Camargo von der GANA, auszuhöhlen bis dahin, dass sie einen Straferlass für schwere Gewaltverbrecher einführten, der dann den Präsidenten wieder zwang, das Gesetz zurückzuweisen, bis es in diesem Punkt wieder verändert wurde. Das Beispiel zeigt das Problem. Die so genannten dunklen und illegalen Strukturen sitzen überall und können aus der Macht heraus agieren, während die Zivilgesellschaft sich bemüht, einen konsensfähigen, rechtsstaatlichen Vorschlag mitzutragen. Diesmal letztlich mit einigem Erfolg, da das dann später verabschiedete Gesetz immer noch wichtige dieser Prinzipien enthält. Meine These provoziert übrigens in Guatemala keineswegs, sondern ich musste genau diese Zusammenhänge hier erst begreifen; ich kam nämlich vom anderen Teil des Teiches und hatte mir während meiner 12-jährigen Strafverteidigertätigkeit in Deutschland nicht im Traum vorgestellt, dass ich nun ausgerechnet in Guatemala nicht in erster Linie die Verteidigung, sondern die Staatsanwaltschaft stärken muss. Es müssen eben Konzepte und unser traditionelles Verstehen in neuen Situationen immer wieder geändert werden. Wie hat ein schlauer Kopf mal gesagt? Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. Eingefahrene Denkschemen helfen nicht unbedingt weiter. Mir ging es darum zu sagen, dass das Konzept eines modernen Staates heute Teil des Widerstandes in Guatemala ist, dass die Menschenrechts- und sozialen Organisationen die Institutionalität des Staates oft gegen den eigenen Staat und seine Eliten verteidigen müssen. Wir leisten also Widerstand, nehmen aber Konzepte mit auf, die den Staat, einen anderen Staat, stärken sollen. Das ist sicherlich reformistisch, aber wie soll es in einer solchen Situation auch anders sein? In alter Verbundenheit, Miguel |
Original-PDF 406 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - 10 --- Nächstes Fijáte