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Guatemala zwischen gescheiterter Staatsbildung und Widerstand

Fijáte 406 vom 19. März 2008, Artikel 1, Seite 1

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Guatemala zwischen gescheiterter Staatsbildung und Widerstand

Die Frage ist, ob wir den Widerstand genauso definieren können, wie wir ihn in Europa definieren oder wie wir ihn in Guatemala vor 20 Jahren definiert haben. In den 80er Jahren wurden VGVölkermordNF und Repression in Guatemala durch einen starken Counter Insurgency Staat durchgeführt. Und gegenüber diesem starken Staat war das Widerstandskonzept die Niederlage dieses Staates durch Revolution. Jetzt, 25 Jahre später, die durch den VGNeoliberalismusNF, die systematische Zerstückelung und Schwächung des Staates in Konzept und Funktion geprägt sind, haben wir es in Guatemala mit einem äusserst schwachen Staat zu tun, der seine wesentliche Aufgabe, nämlich eine gewisse Balance zwischen Schwachen und Starken in der Gesellschaft zu gewährleisten, nicht mal annähernd nachkommt - und auch wenn er das wollte: er könnte es kaum. Und das ist einer der tiefen Gründe für das Scheitern des Friedensprozesses. Das von den Friedensverträgen vorgeschlagene neue Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft kann so nicht wirklich funktionieren.

In dieser Situation kann meiner Auffassung nach das Widerstandskonzept nicht unverändert bleiben. Dass das Menschen, die in Europa Widerstand leisten und hier nach wie vor auf einen starken Staat treffen, schwer fällt zu verstehen, kann ich begreifen. Aber das ändert nichts.

In Guatemala bekämpfen wir den repressiven Staat und fordern die CICIG, eine internationale Kommission, um die illegalen Strukturen der Gegenwart und Vergangenheit, die sich im Staat eingenistet haben, zu bekämpfen und um - ausdrücklich - den Staat durch Säuberung zu stärken. Wir bekämpfen die Impunidad (Straflosigkeit) und die Komplizenschaft zwischen Richtern, Staatsanwälten und Völkermördern, aber arbeiten auch daran, ein anderes Gerichtssystem aufzubauen. Wir arbeiten, wenn auch bisher vergebens, an der Strafverfolgung von VGRíos MonttNF und versuchen die Staatsanwaltschaft zu säubern und zu stärken, damit sie dies tun kann. Damit stärken wir den Staat und wollen das auch. In meinem Vortrag schlage ich also vor, in dieser Situation den Widerstand um dieses Konzept zu bereichern. Staat und Gesellschaft befinden sich also nicht im gleichen Boot, aber ich bin der festen Überzeugung, dass die Zivilgesellschaft den Kampf gegen die Eliten, ihre Interessen, ihre Macht ohne einen halbwegs funktionierenden Staat kaum gewinnen kann. Genauso wenig wie man die Impunidad bekämpfen kann, ohne auf den Staat zu setzen.

Noch einmal zu der Kritik des gemeinsamen Bootes. Wie andere pointierte Bemerkungen enthält mein Powerpoint die Bemerkung: "Moderner Staat und Zivilgesellschaft in einem Boot; Konzepte ändern"; das mag unglücklich formuliert sein, will aber das gleiche sagen, und ich habe das damals ausdrücklich ausgeführt: keiner kann wirklich ohne den anderen; der Staat muss begreifen, will das aber oft nicht, dass die Zivilgesellschaft seine Alliierte ist, wenn es um die augenblickliche Krise geht; und die Zivilgesellschaft kann heute kaum mehr nur Widerstand leisten, ohne die Stärkung eines demokratischen Staatskonzepts mit aufzunehmen. Das passiert z. B. letztlich, wenn der Kampf gegen die Minen durch eine VGVolksbefragungNF im Rahmen der VGKonvention 169NF der VGInternationalen ArbeitsorganisationNF (ILO) legitimiert wird, die die Regierung dann nicht anerkennt. Aber dieses Beispiel macht eben auch deutlich, dass es nicht darum geht, wie Ihr mir fälschlicherweise unterstellt, ein "Bewusstsein zu schaffen, dass Staat und Zivilgesellschaft in einem Boot sitzen". Das tun sie dann offensichtlich nicht, wenn nach der Ablehnung die Beamten mit dem Knüppel auf Dich losgehen. Sie sollten sich aber unbedingt zusammensetzen, von mir aus in einem Boot, falls sie beide an einer echten demokratischen Reform interessiert sind.

Zum Beispiel haben sich Menschenrechts - und soziale Organisationen mit der Staatsanwaltschaft 2005 über ein unglaublich kompliziertes Thema zusammengesetzt: die Erarbeitung eines Gesetzes gegen die organisierte Kriminalität. Und sind in einem Thema, in dem Strafverfolgungsbehörden und Menschenrechtler normalerweise kaum der gleichen Meinung sind, zu einem Konsens auf der Grundlage rechtsstaatlicher Prinzipien gekommen, um einen Missbrauch der verschiedenen Instrumente vorzubeugen. Diesen Konsens versuchten prompt verschiedene Abgeordnete, allen voran General Camargo von der VGGANANF, auszuhöhlen bis dahin, dass sie einen Straferlass für schwere Gewaltverbrecher einführten, der dann den Präsidenten wieder zwang, das Gesetz zurückzuweisen, bis es in diesem Punkt wieder verändert wurde. Das Beispiel zeigt das Problem. Die so genannten dunklen und illegalen Strukturen sitzen überall und können aus der Macht heraus agieren, während die Zivilgesellschaft sich bemüht, einen konsensfähigen, rechtsstaatlichen Vorschlag mitzutragen. Diesmal letztlich mit einigem Erfolg, da das dann später verabschiedete Gesetz immer noch wichtige dieser Prinzipien enthält.

Meine These provoziert übrigens in Guatemala keineswegs, sondern ich musste genau diese Zusammenhänge hier erst begreifen; ich kam nämlich vom anderen Teil des Teiches und hatte mir während meiner 12-jährigen Strafverteidigertätigkeit in VGDeutschlandNF nicht im Traum vorgestellt, dass ich nun ausgerechnet in Guatemala nicht in erster Linie die Verteidigung, sondern die Staatsanwaltschaft stärken muss. Es müssen eben Konzepte und unser traditionelles Verstehen in neuen Situationen immer wieder geändert werden. Wie hat ein schlauer Kopf mal gesagt? Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. Eingefahrene Denkschemen helfen nicht unbedingt weiter. Mir ging es darum zu sagen, dass das Konzept eines modernen Staates heute Teil des Widerstandes in Guatemala ist, dass die Menschenrechts- und sozialen Organisationen die Institutionalität des Staates oft gegen den eigenen Staat und seine Eliten verteidigen müssen.

Wir leisten also Widerstand, nehmen aber Konzepte mit auf, die den Staat, einen anderen Staat, stärken sollen. Das ist sicherlich reformistisch, aber wie soll es in einer solchen Situation auch anders sein?

In alter Verbundenheit, Miguel


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