Das Dilemma des multikulturellen Diskurses
Fijáte 408 vom 23. April 2008, Artikel 1, Seite 1
Original-PDF 408 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 --- Nächstes Fijáte
Das Dilemma des multikulturellen Diskurses
Kürzlich veröffentlichten die Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute FLACSO-Guatemala und Cirma eine Studie mit dem Titel "Mayanisierung und das alltägliche Leben: Der multikulturelle Diskurs in der guatemaltekischen Gesellschaft". Das Gemeinschaftswerk geht davon aus, dass sich in Guatemala in den letzten zwanzig Jahren ein neues Verständnis von ethnischer Differenz und Vielfalt entwickelt hat, das Teil der sich ausbreitenden multikulturellen Ideologie ist. Nicht nur in Guatemala, sondern weltweit. Wir veröffentlichen Ausschnitte aus dem Diálogo Nr. 63 vom April 2008, der Zeitschrift von FLACSO-Guatemala, in der dieses Werk beschrieben wird. Multikulturalismus ist ein Schlagwort unserer Zeit. Er ist eine zeitgenössische "Erfindung" des Liberalismus für sogenannte demokratische Gesellschaften, in denen Kultur, Differenz und Vielfalt als treibender Motor für Veränderung und gesellschaftliches Zusammenleben angesehen werden. Dieses politische Konstrukt hat jedoch seinen Ursprung in den Kämpfen einer Reihe von Bewegungen unterschiedlicher Ausrichtung: MigrantInnen, AfroamerikanerInnen, Indígenas, Frauen und Homosexuelle. Der Inhalt ihrer Forderungen variierte je nach lokalem und gesellschaftlichem Kontext und nach der Ursache ihrer Unterdrückung. So auch in Guatemala. In diesem Kontext definiert die Studie den Begriff Multikulturalismus oder multikulturelle Ideologie als "eine Form, die ethnische Differenz zu verstehen, ausgehend von der Existenz kulturell unterschiedlicher Kollektive, die als Völker eine Reihe von Rechten haben, die ihnen nicht zugestanden wurden aufgrund der historischen Situation (Kolonialismus)". Die organisierten Maya- oder Mayanista-AkteurInnen haben eine wichtige Funktion bei der Herstellung und Verbreitung der multikulturellen Ideologie. (Der Begriff Maya- oder Mayanista-AkteurInnen umfasst Personen, deren politische Forderungen auf ihrer Maya-Identität aufbauen. Während der Begriff Indígena diejenigen umfasst, die sich politisch nicht als Mayas definieren, sondern als Indígenas oder Naturales.) Im Laufe der Zeit wurde der Begriff des Multikulturalismus auch in den Diskurs von AkteurInnen aufgenommen, die keine Mayas sind. Interessant ist zum Beispiel, wie nach den Friedensabkommen alle Regierungen ihren Diskurs in Bezug auf das Thema Ethnie verändert haben, vor allem hinsichtlich der Art und Weise, wie über die Indígenas geredet wird. Aber auch die Organisationen der Internationalen Zusammenarbeit, lokale soziale Organisationen, die Medien, gewisse Kreise der katholischen Kirche und Privatunternehmen (vor allem aus der Tourismusbranche) pflegen einen anderen Diskurs als noch vor zwanzig Jahren. Den multikulturellen Diskurs gibt es in tausend Varianten, je nach Interessen, denen er dienen soll. Gelegentlich wird der Multikulturalismus als die Zauberformel verteidigt, welche die Probleme der ethnischen Beziehungen in Guatemala lösen könnte. Doch: Worin genau soll das Rezept des multikulturellen Diskurses bestehen in einer Gesellschaft, die vor kurzem einen Krieg beendet hat und in der Armut und soziale Ungleichheit herrschen? Die Studie beschäftigt sich mit der Frage, auf welche Weise die Menschen den multikulturellen Diskurs aufnehmen und sich aneignen oder aber ablehnen. Dabei müssen die unterschiedlichen Vorstellungen über ethnische Verschiedenheit berücksichtigt werden, welche die Menschen aufgrund ihrer sozialen und politischen Voraussetzungen haben. Es wird danach gefragt, welchen Einfluss diese neuen Ideen der GuatemaltekInnen als Angehörige verschiedener Kollektive oder Völker auf die Art und Weise haben, wie die Menschen sich selber definieren und wie sie über "andere" denken. Multikulturalismus und Indigene AkteureDie mayanistischen Forderungen, die in den Argumenten der Multikulturalismus-Ideologie eine universelle Tragweite sehen, offerieren der indigenen Bevölkerung eine neue Perspektive, sich selber zu sehen: Das Schimpfwort "Indio" mit seinem despektierlichen Unterton weicht einem Ausdruck des Stolzes; aus einer zweifelhaften Herkunft wird eine ehrenhafte Abstammung; statt "Dialekte" zu reden, spricht man eine "Sprache"; statt sich seiner Bräuche zu schämen, fordert man die Anerkennung einer Kosmovision, und statt sich der Ungläubigkeit und des Hexentums beschuldigen zu lassen, verteidigt man diese Praxen als Bestandteil der Mayaspiritualität. All dies ist ein politischer Vorschlag, der sich durch das Recht auf Verschiedenheit begründet. Das mayanistische Verständnis geht davon aus, dass die Indígenas ein eigenes Kollektiv bilden, das zwar dem Kollektiv der Nicht-Indígenas untergeordnet ist, aber den kulturellen Stolz und das Gemeinschaftsgefühl als Grundlage für seine Befreiung beansprucht. Der Begriff der unterschiedlichen Kollektive ist keine Erfindung der multikulturellen Ideologie, aber sie gibt dieser sozialen und historischen Zuschreibung einen politischen Inhalt. Zweifellos stellen zahlreiche und komplizierte Reaktionen diesen neuen Diskurs der Kollektive in Frage. Die Ablehnung z. B. gegen ein bilinguales Erziehungssystem oder gegen die Mayaspiritualität hat vielerlei Gründe. In erster Linie fordern die mayanistischen Ideen alte Ideologien heraus, die alles "Indigene" verachten und ihm die Schuld an der eigenen Rückständigkeit geben. Die Begriffe "Rückständigkeit" und "Fortschritt" beruhen auf der überholten Ideologie, dass Fortschritt bedeute, sich dem Puls der Zeit anzupassen, wo das indigene Leben keinen Platz mehr hat. Es gibt auch keine effizienten politischen Strukturen, bei denen das Recht auf Differenz der Indígenas eingefordert werden könnte. Ein Beispiel dafür ist die grosse Schwierigkeit, rassistische Übergriffe zu bestrafen. Ausserdem sehen sich auch viele Indígenas nicht vertreten von denen, die in ihrem Namen politisch für ihre Befreiung kämpfen. Es gibt verschiedene Ursachen, geprägt von wirtschaftlichen, politischen, geographischen Faktoren oder durch Klassen-, Geschlechts- oder Religionszugehörigkeit, welche die komplexe Heterogenität der Indígenas ausmachen und es ihnen erschweren, sich als ein Kollektiv zu verstehen, dessen Ideologie einzig auf einer ethnischen Identität beruht. Es gibt keine absoluten und allgemeingültigen Positionen seitens der Indígenas gegenüber dem multikulturellen Diskurs. Während die Mayanistas sich auf die ethnische Identität, auf ihre Geschichte und auf ihre Kultur berufen, suchen viele andere den Anschluss an die Modernität, an ein liberales Gleichheitsverständnis und an ein Leben ohne Entbehrungen. All dies fordert den heute in Guatemala gängigen Diskurs der Multikulturalität heraus und ebenso die Auseinandersetzung mit der Realität der Indígenas. Multikulturalismus und die "Ladinos"Im guatemaltekischen Multikulturalismus werden jene, die sich als Nicht-Indígenas definieren, offiziell und kollektiv als "Ladinos/as" bezeichnet. Ebenfalls wird der Begriff "MestizInnen" benutzt. Es ist aber auch hier zu kurz gegriffen, Leute, die aus ihrer Identifikation keine politischen Forderungen machen und eine höchst heterogene Gruppe darstellen, unter dem Begriff eines Kollektivs zusammenzufassen. Obwohl es auch unter diesen Leuten solche gibt, die sich aus verschiedenen Gründen bewusst als Ladinos/as oder MestizInnen bezeichnen, stösst die Verwendung ethnischer Kategorien oft auf Abwehr. Es ist offenbar unangenehm, sich als ein ethnisches Kollektiv wahrzunehmen. Nach oben |
Die Identifizierung ist ein polemisches und wenig ausdiskutiertes Thema. Wenn jemand auf seine Ethnie angesprochen wird, kommt es häufig vor, dass die Person antwortet, er oder sie sei Guatemalteke/in. Offenbar ist die nationale Identität ein homogenisierender Faktor. Das tägliche Leben der Ladinos/as ist weniger von ethnisch bedingter Unterdrückung geprägt als bei den Indígenas, weshalb auch weniger Wert auf die Diskussion von Unterschiedlichkeiten gelegt wird. Für viele Leute ist es unverständlich, die Gesellschaft aufgrund ethnischer Unterschiede zu organisieren. Viel wichtiger ist das Streben nach liberaler Gleichheit "für alle". In diesem Sinne bedeuten die Indígenas keine grössere Gefahr, solange sie als Individuen auftreten, denn sie haben dieselben Rechte und Chancen wie alle anderen. Treten sie aber als Kollektiv mit ihren Forderungen auf, werden sie mit Skepsis und Argwohn betrachtet. So werden die Kämpfe der Mayanistas als eine Form des Separatismus gesehen, als eine Spaltung, die eine Art "umgekehrten Rassismus" fördert. Es liegt in der Ladino-Bevölkerung eine starke Betonung auf der Wichtigkeit des Respekts und des kulturellen Zusammenlebens als eine Form der Konfliktregulierung. Dies könnte auf der Annahme beruhen, dass die ethnischen Beziehungen und die Positionierung der Indígenas soziale Konflikte generieren könnten, die zum Nachteil der Ladinos/as sind. Auf alle Fälle ist das Thema der ethnischen Zugehörigkeit in Guatemala nicht mehr nur ein exklusives Interesse der Indígenas und konzentriert sich nicht mehr ausschliesslich auf die indigene Frage. Die (öffentlichen) Institutionen, zu deren leitenden Positionen seit jüngstem auch Indígenas Zugang haben, sind Orte, wo sich interessante Machtverschiebungen abzeichnen. Dies hat damit zu tun, dass Strukturen angegriffen werden, welche bisher die ungleiche Verteilung von Privilegien aufrecht erhalten haben. Multikulturalismus und indigene FrauenDie Diskussion über das Recht auf Vielfalt und kulturelle Freiheit stellt auch die Geschlechterbeziehungen auf die Probe. Wenn für die nicht-mayanistischen Indígenas die Anerkennung und der Respekt ihrer Kultur schwierig ist, solange sie in einer Situation der Unterordnung und Ungleichheit leben, verkompliziert sich diese Logik für indigene Frauen, denn sie verkörpern ja diese Kultur im wahrsten Sinne des Wortes. Die Kultur wird in diesem Moment zu einem politischen Ausdruck des Stolzes, der wiederum unterdrückerische Beziehungen rechtfertigt. Im Kontext der ethnischen Unterdrückung enthalten emanzipatorische Aktionen und Forderungen der indigenen Bewegungen oft Idealisierungen kultureller Traditionen. Die Gefahr für Frauen besteht dann, wenn die kulturellen Traditionen dazu benutzt werden, ihre Unterdrückung zu verfestigen. Es gibt mayanistische Strömungen, die davon ausgehen, dass in der Maya-Kultur keine Unterdrückung der Frau vorkommt. Dieser Behauptung widersprechen die Erfahrungen vieler Frauen, die Gewalt in ihrem Alltag erleben. Aber auch die ethnozentristischen Vorstellungen, dass es in den indigenen Kulturen mehr geschlechtsspezifische Gewalt gäbe als in der westlichen, stimmen nicht angesichts der zunehmenden Zahl indigener Frauen, die zu ProtagonistInnen ihrer eigenen Geschichte geworden sind und gesellschaftlichen und politischen Raum einnehmen. Multikulturalismus und MachtDurch die Art und Weise, wie in Guatemala Macht ausgeübt wird, kann die Anwendung des Konzeptes des Multikulturalismus den Mächtigen dienlicher sein als den untergeordneten Kollektiven, die sich darauf berufen. Je nach Kontext, muss man von unterschiedlichen Formen des Multikulturalismus sprechen. - Offizieller oder staatlicher Multikulturalismus - Der Staat eignet sich einen Diskurs von Multikulturalismus an, um eine neue Form der multikulturellen Regierungsführung einzuführen. Der "Respekt der Vielfalt" wird grossgeschrieben. Dies kann durchaus politisch ernst gemeint sein. Es kann aber ebenso eine Form sein, um die soziale Ordnung aufrecht und mögliche Konflikte unter Kontrolle zu halten. - Neofolkloristischer Multikulturalismus - Die Wertschätzung der Indígenas beschränkt sich auf die Kultur als ein Ausdruck von Schönheit und Tradition. Der Staat und seine Institutionen sind in der Lage, die Symbole der indigenen Bevölkerung aufzunehmen, um sich deren Unterstützung zu sichern. Mit viel Rhetorik wird sie zur Hüterin der Moral der Nation erhoben, solange sie bloss nicht an den Machtstrukturen zu rütteln wagt. - Vermarktbarer Multikulturalismus - Der Staat und die Privatunternehmen verwandeln die untergeordneten Kulturen zu einem ausbeutbaren nationalen Gut. Die Ausbeutung der in der gesellschaftlichen Hierarchie tiefer Stehenden (speziell der Körper und die Arbeit der Frauen) vermehrt ihren eigenen Reichtum, der natürlich nicht an diese weitergegeben wird. Man beruft sich dabei auf einen diffusen Diskurs von der Anerkennung der Vielfalt. - Emanzipierender Multikulturalismus - Seine Logik entspringt einem revolutionären Verständnis. Er basiert auf Autonomie und dem Kampf gegen alle Formen ethnischer Dominanz im Staat und in der Gesellschaft. Ein solcher Multikulturalismus kann verstanden werden als ein breiter und tiefgreifender Prozess der Neu-Definition und Neu-Erfindung des Gebildes Staat/ Nation und der Beziehungen zwischen dem Staat und der Gesellschaft. ZusammenfassendDiverse Akteure in Guatemala haben ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was Multikulturalismus ist und sein soll. Auch wenn das Konzept des Multikulturalismus ein politischer Vorschlag der Liberalen ist, ist er noch lange keine Unterdrückungsideologie per se. Er kann zwar liberal interpretiert und umgesetzt, aber er kann als befreiendes und revolutionäres Konzept umgesetzt werden. Dies hängt von der Stärke und Macht der AkteurInnen ab, die zu seiner Entstehung und Verbreitung beitragen. So wie Multikulturalismus heute in Guatemala verstanden und umgesetzt wird, scheint es fast, dass er denen nützlicher ist, die an der Macht sitzen, als jenen, die in ihm ein befreiendes Element sehen. Solange es bei einem Diskurs bleibt, der seines verändernden Potentials entleert ist, werden auch die Strukturen nicht angetastet, die auf der Kolonialisierung, dem Rassismus und der ethnischen Dominanz aufbauen und die Grundlage der sozialen Ungerechtigkeit bilden. |
Original-PDF 408 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 --- Nächstes Fijáte