¡Híjole...! Die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Wenn die Opfer sich zu ZeugInnen erklären.
Fijáte 409 vom 07. Mai 2008, Artikel 6, Seite 6
Original-PDF 409 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 --- Nächstes Fijáte
¡Híjole...! Die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Wenn die Opfer sich zu ZeugInnen erklären.
Zum 10. Todestag von Bischof GerardiWir Menschen teilen die Erfahrung des Schmerzes. Diese Tatsache ist so offensichtlich, dass sie weder Diskussionen noch Ideologien zulässt, weder soziale Klassen noch Ethnien kennt. Der Schmerz funktioniert wie ein unerbittlicher Warnruf, auf den das Individuum sofort reagiert: Es hält schützend die Hände über die Wunde, schreit, der Verstand sucht nach Linderung, die Erinnerung holt vergangene Erlebnisse hervor; der Mensch hält inne oder ändert seine Prioritäten, mobilisiert seine Ressourcen, fragt um Rat und wendet sogar schmerzhafte, teure oder traumatisierende Mittel an, um den Schmerz zu besiegen. Unser Körper wendet das Gesetz der Gegenseitigkeit seiner Teile an, um dem Schmerz zuvorzukommen. Die einen verteidigen die anderen, jedes nach seinen Möglichkeiten. Wir können es bei oberflächlicher Betrachtung sehen, und es spielt sich auf biologischer Ebene in unserem Organismus ab. So funktioniert es auf der ganzen Skala lebender Systeme. Der sogenannte Kampf ums Überleben löst sich in einem weiterreichenden Gesetz der Gegenseitigkeit auf, von dem die einfachsten Lebewesen profitieren. Diese nutzen z.B. den Abfall, den andere produzieren, und können so am Lebenssystem teilhaben. Der Schmerz mobilisiert alle Kräfte, um der Unordnung, die seine Gegenwart verrät, die Stirn zu bieten. Die menschlichen Opfer sind die schmerzenden Punkte des sozialen Körpers, der ebenfalls ein lebendes System ist. Trotzdem trifft fast nichts von dem, was wir soeben gesagt haben, auf sie zu. Sie werden viel mehr als Anti-Warnruf wahrgenommen: Anstatt alle Kräfte zu mobilisieren, provozieren sie totale Ablehnung. Die Wissenschaft, die Technik, die Wirtschaft, die Politik und die Religion ignorieren sie für gewöhnlich und schliessen sie aus; sie erheben sich auf der angeblichen Inexistenz der Opfer. Nichtsdestotrotz ist es seltsam, dass die grossen wissenschaftlichen Disziplinen und politischen Projekte sich als RetterInnen der Opfer präsentieren. Die Inquisitoren gaben vor, die elenden SünderInnen vor der Hölle zu erretten; die Eroberungsunternehmungen wurden als Evangelisten der unglücklichen HeidInnen dahingestellt; die grausamen liberalen Diktaturen heuchelten, den Indios den Fortschritt zu bringen; der völkermordende Feldzug wollte die Indios vom Kommunismus befreien; und jetzt sind die neoliberalen Regierungen so sehr wegen der wachsenden Armut der Leute "besorgt", dass sie versuchen, den Staat aufzulösen, damit der Reichtum sich in wenigen Händen ansammle und… zu den Armen überschwappe. Alles im Namen der Opfer. Einerseits wird dadurch deren Existenz anerkannt - um grausame Herrschaftsprojekte absegnen zu können. Andererseits werden die Opfer ignoriert und degradiert, wenn sie das friedliche Es-sich-gut-gehen-lassen der Privilegierten stören: Dann stinken die Opfer, sie sind HeidInnen, unreiner Abstammung, minderwertige, verkommene, unwissende Menschen… Sie werden in negative Andersartigkeit gehüllt, um ihren Ausschluss zu rechtfertigen. Die menschliche Realität der Opfer ist aber nicht nur eine politische Tatsache. Wir alle produzieren Opfer in unseren ungerechten Beziehungen Ungerechtigkeit schliesst Gewalt gegen jemanden mit ein, verwandelt ihn oder sie in ein Opfer. Wenn die Opfer beschliessen, ein Eigenleben zu führen und sich als Subjekte erheben, stören sie nicht nur die Ruhe der Wohlhabenden, sondern verwandeln sich in Feinde. Sie können zum inneren Feind irgendeiner Bananenrepublik werden und ein Genozid kann über sie kommen. Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen Opfer und Zeuge/in. Das Opfer ist erniedrigt, reglos. Es ist der Gnade jener ausgeliefert, die ihm vielleicht helfen möchten. Es ist ein abhängiges und manipulierbares Wesen. Es kann genauso gut in einem Dorf sterben und von Würmern zerfressen oder in einer Wahlkampagne von PolitikerInnen umarmt werden und so ins Fernsehen kommen. Es ist ein Objekt, kein Subjekt. Es ist ein Niemand. Es hat weder Erinnerung noch ein Projekt, das über das pure Überleben hinausgeht. Es akzeptiert einen Gott, der über die gleichen Eigenschaften verfügt wie sein Chef, sein brutaler Vater oder sein autoritärer Präsident. "Du allein bist mächtig…!", wiederholen, jaulen die Lautsprecher vornehmlich der evangelikalen Sekten in meiner Nachbarschaft. Nach oben |
Der/die Zeuge/in hingegen ist ein Opfer, das klare Erinnerungen hat, ein Projekt der Gerechtigkeit verfolgt und die Realität, die es lebt, kritisch beobachtet. Der/die Zeuge/in hat viel zu entscheiden und vor allem viel zu tun; nicht andere sprechen für ihn/sie, noch sagen sie ihm/ihr was er/sie braucht. Er/sie ist kein verfügbares Objekt, sondern ein Subjekt. Darin besteht der qualitative Unterschied zwischen dem Opfer und dem zusätzlichen Zeuge/in-Sein. Den PolitikerInnen kommt es zupass, Guatemala als ein Land von Opfern darzustellen. So können sie das nationale Elend nach aussen kehren, um Gelder zu erhalten. Als Antwort darauf überbordet die Grosszügigkeit der reichen Länder, die dank unserer Auslandschulden wohlgenährt sind. Aber das Geld kommt nie bei den Opfern an, es bleibt viel weiter oben hängen. Die Industrie der lokalen Opfer ist eine groteske nationale Produktion. Deshalb ist hier die Erinnerung ein landesweites Tabu und die Straflosigkeit geniesst Verfassungsrang. Denn die Opfer sind nützlich, während die ZeugInnen stören. Am 26. April sind zehn Jahre vergangen seit dem Verbrechen gegen Bischof Gerardi. Er hatte das Projekt für das Wiedererlangen des historischen Gedächtnisses (REMHI) geleitet, das fast 6'000 Opfern die historische Chance gab, ZeugInnen zu sein. Seine Kühnheit, die Erinnerung der Indios zu wecken, verwandelte auch Gerardi in einen inneren Feind. Das herrschende System in Guatemala - es waren also nicht nur die materiellen Täter, wie die Straflosigkeit in diesem Fall beweist - wendete seine Methoden der Aufstandsbekämpfung gegen Geradi an - und dies nach der Unterzeichnung der Friedensabkommen! Es ist augenfällig, dass dieser Friede den versteckten Krieg begünstigt. Es ist der "Krieg im Filigran des Friedens", von dem Michel Foucault sprach. Es ist der Krieg gegen alle, die sich zu ZeugInnen erklären. Vielen Dank an Yvonne Joos für die Übersetzung! |
Original-PDF 409 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 --- Nächstes Fijáte