¡Híjole...! Die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Der Geruch der menschlichen Verzweiflung
Fijáte 411 vom 04. Juni 2008, Artikel 9, Seite 6
Original-PDF 411 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 --- Nächstes Fijáte
¡Híjole...! Die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Der Geruch der menschlichen Verzweiflung
Der Franzose Pierre Mac Orlan schrieb: "Nichts riecht so sehr nach menschlicher Verzweiflung wie das Erdöl". Dies ist das Mindeste, was man zu diesem zähflüssigen schwarzen Rohstoff sagen kann, der die westliche Zivilisation bis zum Selbstmord berauscht; der das nordamerikanische Imperium - das zerstörerischste der ganzen Geschichte - zementiert hat; der die Geografie vieler Länder festgelegt hat; der hunderte von Kriegen in Asien, Afrika und Lateinamerika, darunter auch in Guatemala, vom Zaun gebrochen oder eine wichtige Rolle darin gespielt hat; der wesentlich zum schlechten Zustand der Umwelt und zum Klimawandel beiträgt und der die spekulativen Geschäfte der Chefs grosser Konzerne nährt. Die erwartete Hungersnot sorgt weltweit für Schlagzeilen, die Möglichkeiten wütender Aufstände beschäftigt die höchsten Institutionen der Welt: Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-Moon, fürchtet, eine "erdrutschartige Krise" könnte das Wachstum und die Sicherheit auf der Welt gefährden, und der geschäftsführende Direktor des Internationalen Währungsfonds versichert mit Blick auf die sich ankündigenden massiven Proteste der Hungernden, dass "das Schlimmste erst noch kommt". Allerdings gilt es klarzustellen, dass dies nicht die Schuld des Erdöls ist, sondern der animalischen Rohheit, mit der die PolitikerInnen und UnternehmerInnen es nutzen - es missbrauchen -, seit es wunderbarerweise und im Überfluss auf der Erdoberfläche erschienen ist. Menschen und Unternehmen mit keiner anderen Ethik als der des Profits bemächtigten sich des schwarzen Goldes und machten es zu einem Instrument ihrer sich ausbreitenden Herrschaft, indem sie Nationen unterwarfen und das Gleichgewicht des Planeten veränderten. Heute erschauern die Erde und ihre BewohnerInnen, weil die Eigentümer des Erdöls, zusammen mit anderen, wie ein Olymp voller ungestrafter Götter über die Nationen herrschen und tollkühn mit den Preisen spekulieren. Der Preis von Rohöl ist innerhalb zweier Jahre von 60 auf 127 Dollar gestiegen und hat Preiserhöhungen der täglichen Gebrauchsgüter nach sich gezogen. Die "Götter des grossen Marketings" zögern nicht, endlose Kriege, Hungerkrisen und unwiderrufliche Umweltzerstörung zu verursachen. Die Spekulanten erproben neue Deals, um die weltweiten Energieressourcen zu kontrollieren. Sie fördern Agrotreibstoffe, die aus Getreide und anderen Grundnahrungsmitteln hergestellt werden, was die Verfügbarkeit von Lebensmitteln weiter reduziert. Um den 95 Liter-Tank eines Autos zu füllen, werden gut 200 Kilo Mais benötigt, so viel wie eine Person braucht, um sich ein Jahr lang ernähren zu können! Die globalen Spekulanten, unter ihnen die Grossbanken, schmieden Allianzen mit den Konzernen, welche den Saatgut- und Getreidemarkt kontrollieren, um in sogenannte Zukunftsmärkte zu investieren, mit der Aussicht, dass die Preise weiter ansteigen. "Je höher die Preise sind, desto mehr Hunger gibt es in der Welt und desto grösser sind die Profite." (Boaventura de Sousa Santos) Gemäss der Welternährungsorganisation FAO ist genau das passiert: Die Getreidepreise sind zwischen März 2007 und März 2008 um 88% gestiegen, gleichzeitig konnte das weltweit grösste Saatgutunternehmen, der US-Konzern CARGILL, seinen Gewinn um 83% steigern. Es schauert uns. Einige AutorInnen bezeichnen diese Vorgehensweisen als eine Art Schocktherapie, welche die Herren der Welt mit der perversen Absicht, Unterwerfung, Schweigen und somit endlose Ausbeutung der Ressourcen zu garantieren, auf Völker und ganze Kontinente anwenden. Die Leute sind verblüfft und hilflos angesichts der Brutalität dieser Vorgehensweisen. Diese Situation nutzen die perversen Götter, um mit manipulativen Strategien die öffentliche Meinung zu beeinflussen, Ablenkungsmanöver zu führen und Phantasmen wie den Terrorismus oder den Drogenhandel zu beschwören. Und wenn diese Methoden nicht funktionieren, greifen sie zusätzlich zu Intrige und politischer Destabilisierung, Krieg oder Staatsterrorismus, heizen das vor Ort vorhandene Konfliktpotential auf, oft mit ethnischen Komponenten. Beispiele dafür sind die Kriege im Nahen und Mittleren Osten oder die Aufstandsbekämpfung in Guatemala. Nach oben |
Ein anderes aktuelles Beispiel ist Bolivien. Hinter dem Referendum über den autonomen Status des Departements Santa Cruz steckt die schmutzige Hand der USA, in Gestalt ihres Botschafters Philip Goldberg, der damals auch die Aufspaltung Jugoslawiens vorangetrieben hatte. In Bolivien wird mit den imperialen Interessen das Ziel verfolgt, das Amazonasgebiet sowie die Gas- und Wasservorkommen zu kontrollieren und den südamerikanischen Integrationsprozess zu vereiteln - während die BefürworterInnen des Autonomiereferendums von rassistischen Beweggründen angetrieben wurden. Ich habe gelesen, dass die aus Santa Cruz stammende bolivianische Teilnehmerin am Miss Universe-Wettbewerb 2004 ihre bolivianische Identität mit abschätzigen Worten gegenüber bestimmten Ethnien ausdrückte: "Die Leute meinen, dass wir (in Bolivien) alle Indios seien. La Paz zeigt dieses Bild der armen Leute, die von kleiner und indianischer Statur sind… Ich repräsentiere die andere Seite des Landes, den Osten… Wir sind gross, weiss und sprechen Englisch." Wie einfach ist es doch, Ähnlichkeiten zwischen Bolivien und Guatemala zu finden! ********************************* Die menschliche Verzweiflung ist kein Naturphänomen, sondern hat menschliche Gründe. Im Leitartikel der guatemaltekischen Tageszeitung elPeriódico vom 17. Mai wurde über die wieder aufwallende Lynchjustiz, die in letzter Zeit mehrfach ausgeübt worden ist, geklagt. Der Autor findet es abscheulich, dass die Bevölkerung mit diesem "primitiven Strafverhalten" um Jahrhunderte zurückfällt. Man muss aber auch den Geruch der menschlichen Verzweiflung riechen. Was können wir, von Kriminellen bedroht, anderes tun, wenn mehr als 90% der Verbrechen in Guatemala ungestraft bleiben? Sollen wir uns an eine der privaten Sicherheitsfirmen wenden, die dem Sicherheitsberater des Innenministeriums - jawohl! - Gilberto A. Ruano Tejeda gehören? Oder sollen wir zu unserer Verteidigung eine Waffe in den einschlägigen Geschäften einiger Staatsfunktionäre kaufen? Natürlich verurteile ich die Lynchmorde wie auch die Todesstrafe. Aber ich verstehe die Verzweiflung der Leute sehr genau. Verzweiflung, die sich in unbeschreibliche Wut verwandeln würde, wenn die Leute merkten, dass die Straflosigkeit schmutzige politische Abmachungen und gefährliche Händel versteckt. Ist also nicht die guatemaltekische Straflosigkeit, mehr noch als die Lynchjustiz, ein institutionalisierter Strafprimitivismus? Vielen Dank an Yvonne Joos für die Übersetzung! |
Original-PDF 411 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 --- Nächstes Fijáte