Die Herausforderungen an den neuen Innenminister
Fijáte 415 vom 30. Juli 2008, Artikel 1, Seite 1
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Die Herausforderungen an den neuen Innenminister
Der Tod des Innenministers Vinicio Gómez und seines Vizeministers Edgar Hernández bei einem Hubschrauberabsturz Ende Juni in Purulhá, Baja Verapaz, sowie des Piloten und Copiloten (¡Fijáte! 413) führten in den folgenden Tagen nicht nur zu ausserordentlich vielen Kondolenzbezeugungen und der unverhohlenen Anerkennung des Engagements des Ministers, sondern auch zu der Notwendigkeit der Neubesetzung der Posten. Diesbezüglich äusserten zahlreiche SicherheitsexpertInnen und -analystInnen ihre Anforderungen an das Profil der KandidatInnen, doch wurden auch Stimmen laut hinsichtlich der Gefahr, dass bestimmte Gruppen ihren Einfluss auf die Wahl der neuen Führungsriege im Innenressort ausüben würden, die sich von Anfang an gegen die Ernennung von Vinicio Gómez ausgesprochen hatten. Im Folgenden veröffentlichen wir eine Analyse der Myrna Mack-Stiftung von der Situation, die sich dem Innenministerium aktuell stellt, sowie einen Zusammenschnitt zweier Artikel aus der Nr. 1760 von Inforpress centroamericana, die sich mit den neu gewählten Ressortleitern und ihren ersten Amtsaktionen beschäftigen. Francisco Jiménez trat vor einigen Tagen sein neues Amt als Innenminister in einem alles anderen als beneidenswerten Kontext an. Neben der kein Ende nehmenden Gewalt sind neue Formen von Kriminalität aufgekommen oder alte reaktiviert worden. Zu den himmelschreiendsten Phänomenen gehört der Terror, den die Jugendbanden verbreiten, die Tötung von Busfahrern, die einen markanten sozialen und politischen Impakt hatten, die Ermordung von Frauen, die Drohungen gegen Justizbeamte, die meist einen völligen Stillstand der Strafverfahren zur Folge haben, die Entführungen und Erpressungen, die Lynchjustiz, die aussergerichtlichen Ermordungen sowie die Morde "à la carte" - eine Einkommensquelle für Vollzeit- oder Teilzeitmörder. Logischerweise trägt diese Situation zu einer extremen Angst in der Bevölkerung bei und zieht Einschränkungen von Rechten und Freiheiten nach sich. Zum Teil werden diese Einschränkungen von der Regierung angeordnet, wie kürzlich der Notstand in San Juan Sacatepéquez, zum Teil sind sie das Resultat von Aktivitäten von Kräften, die ausserhalb des Einflusses der Regierung agieren. Die Kriminalität ist derart angewachsen, dass die Bevölkerung eigene Mittel entwickelt hat, sich dagegen zu wehren. Ein Beispiel dafür sind die strengen Sicherheitsmassnahmen, die gewisse soziale Schichten ergriffen haben und die von der Blockade von Zufahrtsstrassen in Wohnquartiere bis zur gefängnisähnlichen Einzäunung ihrer Wohnhäuser geht. Wer es sich leisten kann, stellt einen privaten und teuren Sicherheitsservice an oder trägt gleich selber eine Waffe zur Selbstverteidigung, was wiederum zu einer Zunahme von Kleinwaffen in Privathänden, illegalem Waffenhandel und Schwarzmarkt führt. Im schlimmsten Fall und vor allem auf dem Land, greift man zur Selbstjustiz oder organisiert Gruppen, die sich der sozialen Säuberung verschreiben. Teilweise werden "neue Formen" von Gerichts- und Strafverfahren eingeführt, die an die Ausgangssperren aus den Zeiten erinnern, als es noch keine verfassungsmässigen Garantien gab. Es weht ein rauer Wind, der die Bevölkerung und die staatlichen Institutionen noch mehr unter die Fuchtel und den Einfluss einer kriminellen Ordnung bringen könnte. Zusätzlich zu der "hausgemachten" Kriminalität kommen die irregulären bewaffneten Gruppierungen aus Mexiko, die nach Guatemala eindringen. Ihre Aufgabe ist der Schutz der mexikanischen Drogenbosse und ihrer guatemaltekischen Verbündeten und bedeutet die schonungslose Eliminierung jeder Person, Gruppe oder Sache, welche die Interessen ihrer Bosse bedrohen. Der beschriebene Kontext und die kriminellen Phänomene sind aber nichts Neues und nicht von heute auf morgen entstanden. Obwohl Jiménez die Herausforderung vor sich hat, diesem komplexen Szenario von Gewalt und Kriminalität unter kritischen und prekären Bedingungen zu begegnen, muss doch erwähnt werden, dass seine Ausgangslage besser ist als diejenige seines Vorgängers, Vinicio Gómez Ruiz. Als Gómez im Januar 2008 sein Amt antrat, konnte er weder mit Unterstützung innerhalb noch ausserhalb der Regierung rechnen. Er konnte nicht einmal eigenmächtig seine Equipe zusammenstellen und musste zeitweise gegen den Strom schwimmen. Dies veränderte sich aber nach und nach, und zum Zeitpunkt seines Todes hatte er zunehmend das Vertrauen und die Anerkennung seiner GegnerInnen gewonnen. Der tragische und unerwartete Tod von Minister Gómez Ruiz hat politische Folgen, die sich ausführlich zu analysieren lohnt. Dazu gehört: - Gleichzeitig mit der Nachricht seines Todes wurde die Unterstützung verschiedener sozialer Organisationen, Gewerkschaften und Unternehmerverbände bekannt für die geplante technische und strukturelle Reorganisation im Innenministerium. Es handelt sich dabei um wichtige Prozesse, die in der täglichen Dynamik von den wenigsten BürgerInnen wahrgenommen wurden. Nach oben |
- Es gab innerhalb der Regierung anfänglich eine beschränkte Sicht auf die institutionelle Politik und die von Vinicio Gómez angetriebenen Prozesse. Es scheint, als hätten der Präsident und seine Kollaborateure die Wichtigkeit von Minister Gómez' Arbeit erst aufgrund der verschwenderisch publizierten Todesanzeigen und Nachrufe nach Gómez' Tod entdeckt, die von UnternehmerInnen, AkademikerInnen, Menschenrechtsorganisationen etc. veröffentlicht wurden. Dieser breite Fächer von sozialen Gruppierungen drückte nicht nur sein Beileid aus, sondern bezeichnete den Tod des Ministers als ein tragisches politisches Ereignis und rühmte seine Erfolge. - Auch die Nachrichtensendungen waren grosszügig und stellten Sendezeit zur Verfügung, damit verschiedene politische Akteure die Arbeit von Gómez lobten. Dies diente nicht nur dazu, die Verdienste des Ministers öffentlich zu machen, sondern öffnete auch die Möglichkeit, über die nötigen Kompetenzen zu diskutieren, die einE NachfolgerIn mitbringen sollte. - Die anerkennenden Nachrufe reichten fast zurück in die Amtsdauer von Adela Camacho de Torrebiarte, Innenministerin während der letzten 9 Monate der vorherigen Regierung. Es wurde klar, dass die Mehrheit der technischen und politischen Prozesse noch unter Torrebiarte eingeleitet wurde und von Gómez, ihrem ehemaligen Stellvertreter, mit Geschick und Erfolg, weiterverfolgt wurden. Er handelte dabei professionell, logisch, rational, verantwortungsbewusst und seriös. - Es scheint, dass die aktuelle Regierung nicht begeistert davon ist, dass die Anerkennungen auch Adela de Torrebiarte mit einschliessen. Dies ist dort augenfällig, wo die regierungsseitigen Nachrufe den Beginn dieser Prozesse auf den Antritt des Ministeramts durch Gómez datieren. Dies ist eine kleinliche Mentalität, die aber traditionell ist für die parteipolitische Praxis. Doch auch wenn die aktuelle Regierung knausrig ist in der Anerkennung von Erfolgen der Vorgängerregierung, ist es für das Land in diesem Fall wichtig, dass der begonnene Prozess weitergeht - auch unter Gómez Nachfolger. - Dies war auch eine deutliche Forderung der sozialen und politischen Akteure. Sie forderten die Ernennung einer zivilen Person, die ähnliche Überzeugungen und Ansichten wie der verstorbenen Minister mitbringen sollte. Adela de Torrebiarte wurde als die perfekte Nachfolgerin gehandelt, die den von ihr vor 15 Monaten initiierten Prozess wieder aufnehmen könnte. Adela de Torrebiarte wurde nicht ernannt, obwohl sich die öffentliche Meinung sehr für sie aussprach. Wichtig ist jedoch folgendes: Sowohl Torrebiarte wie Gómez generierten Prozesse und interne Richtlinien im Innenministerium, die eine Art Wendepunkt darstellen. Wichtig ist ebenfalls, dass es sich hierbei um Prozesse handelt, die eine breite soziale und politische Unterstützung geniessen. Mit dem Tod von Gómez wurden diese Prozesse öffentlich und haben, mit Unterstützung des Präsidenten, den Charakter von Staatspolitik erhalten. Hier einige Beispiele: - Transformation, Restrukturierung und Modernisierung des Innenministeriums. Nennenswert ist der Aufbau von Strukturen, die es erlauben, eine Strategie in Sachen Sicherheitspolitik zu entwickeln und durchzuziehen. - Gründliche Säuberung der verschiedenen Sektoren, so z.B. innerhalb der Polizei. Ähnliche Säuberungsprozesse wurden auch innerhalb des Innenministeriums selber, bei der Migrationsbehörde und im Gefängniswesen durchgeführt. - Transformation und Stärkung derjenigen Strukturen, die für die Ausbildung und Professionalisierung des Personals zuständig sind. - Transformation und Stärkung im Bereich der kriminalpolizeilichen Untersuchung. Dies soll die Grundlage für die Arbeit der Staatsanwaltschaft bilden, nicht zuletzt im Kampf gegen die Straflosigkeit. - Konsolidierung des zivilen Geheimdienstes, ebenfalls ein wichtiges Instrument im Kampf gegen gemeine Kriminalität und organisiertes Verbrechen. Nun wurde Francisco Jiménez zum neuen Innenminister ernannt. Er ist Politikwissenschaftler und Philosoph und arbeitete die letzten Jahre eng mit Gómez zusammen, zuletzt als Chef des zivilen Geheimdienstes. Jiménez tritt ein Erbe an, das momentan ein politisches Gewicht grossen Ausmasses hat. Eine Herausforderung und Verpflichtung, die er mit Verantwortung zu tragen hat. Es ist zu hoffen, dass der unabhängige Berufsmann die Kapazität und das Können hat, den Job auszuführen, die Angriffe des organisierten Verbrechens abzuwehren, eine Equipe zusammenzustellen, die ihn unterstützt, und die angefangenen Prozesse grosso modo weiterzuführen. Er sollte auch in der Lage sein, offen genug zu sein, um seriöse Vorschläge aus der Zivilgesellschaft aufzunehmen. Auch steht er vor der Herausforderung, den Dialog mit der internationalen Gemeinschaft aufrecht zu erhalten ebenso wie mit den sozialen Organisationen, die sich auf Sicherheitsthemen spezialisiert haben. Francisco Jiménez und seine Equipe dürfen nicht vergessen, dass ausser den erwähnten technischen Prozessen, die erst mittel- bis langfristig Effekte zeigen werden, eine aktuelle Sorge und Angst der BürgerInnen um Sicherheit auf sie warten und dass sie kurzfristig konkrete institutionelle Antworten darauf bieten müssen. |
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