Austausch ja - Heirat nein
Fijáte 407 vom 09. April 2008, Artikel 1, Seite 1
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Austausch ja - Heirat nein
In Genf bereitet sich der UNO-Menschenrechtsrat darauf vor, im August die Menschenrechtssituation in Guatemala genauer unter die Lupe zu nehmen. Im Vorfeld dieses Anlasses ist eine guatemaltekische Delegation nach Genf gereist, um ihre Anliegen vorzutragen und Lobbyarbeit vor allem gegen Menschenrechtsverletzungen an der indigenen Bevölkerung Guatemalas zu machen. Mitglied dieser Delegation war Mario Manuel Calel Pixcar. Die ¡Fijáte!-Redaktion nutzte die Gelegenheit für ein Interview. Frage: Wer sind Sie? Mario Calel: Ich heisse Mario Manuel Calel Pixcar und stamme aus Santa Cruz del Quiché. Ich bin ein Quiché-Maya und gehöre der Jugendorganisation von CONAVIGUA (Guatemaltekische Frauen- und Witwenorganisation) an. Ich habe keine klaren Erinnerungen mehr an den Konflikt, dafür bin ich zu jung, aber ich habe die Angst und das Leiden meiner Mutter mit der Muttermilch aufgesogen. Das hat mich für den Rest des Lebens geprägt. Mein Vater wurde entführt und gefoltert und blieb verschwunden, wir haben ihn nicht beerdigen können. Die ganze Familie mütterlicherseits ist ermordet worden. Meine Mutter hat diese Geschichte immer offen erzählt, alles, was sie erlebt hat. Deshalb ist es in mir so präsent, wie wenn ich es selber erlebt hätte. Frage: Haben Sie eine Erinnerung an ihren Vater? M.C.: Ja, ich besitze ein Foto von ihm. Frage: Was sind die Ziele der Jugendorganisation von CONAVIGUA? M.C.: CONAVIGUA wurde im Jahr 1988 gegründet von Frauen, die ihre Männer oder Söhne im Krieg verloren haben. Sie kämpften (und kämpfen) für ihre Rechte als Frauen und Witwen und sahen schon bald die Notwendigkeit, dass auch ihre Kinder organisiert sein müssen, um sich für ihre Rechte als Jugendliche, Indígenas und Opfer des bewaffneten Konflikts einzusetzen. Zu diesen Rechten gehört das Recht auf Leben, auf eine bessere Erziehung, auf Zugang zu Land - notabene zu unserem Land, das uns während des bewaffneten Konflikts enteignet wurde. Frage: Welche Mittel setzen Sie ein, um diese Rechte einzufordern? M.C.: Die Organisation und das Ausbilden von jugendlichen Führungspersönlichkeiten in den Gemeinden ist unser Hauptanliegen. Lange Zeit setzten wir uns für einen zivilen Sozialdienst anstelle des obligatorischen Militärdienstes ein, und wir sehen es als grossen Erfolg, dass es heute ein entsprechendes Gesetz gibt. Junge Männer können heute wählen, ob sie Militärdienst leisten oder einen freiwilligen Dienst an der Gemeinde tun wollen. Damit leisten sie einen Beitrag zur Gemeindeentwicklung, z.B. durch Alphabetisierungskampagnen. Frage: Damit hat der Staat seine Verpflichtung abgegeben, für die Bildung seiner BürgerInnen zu sorgen. Sozialdienstleistende sind sicher billiger als LehrerInnen. M.C.: Das stimmt, aber es ist in unserem eigenen Interesse, dass die Leute in unseren Gemeinden lesen und schreiben lernen. Es geht uns darum, dass die Regierung anerkennt, dass die Jugend in der Lage ist, diese Entwicklungsschritte zu leisten. Und natürlich kämpfen wir für eine finanzielle Entschädigung. Gleichzeitig läuft aber auch ein Identifizierungsprozess der Jugendlichen mit ihren Gemeinden und mit ihren Mitmenschen. Sie knüpfen ganz andere Beziehungen, als wenn sie als Soldaten in die Gemeinden kämen. Frage: Erreichen Sie mit der Organisation und der Ausbildung von Jugendlichen, dass diese in den Kommunalräten (COCODES) besser vertreten sind? M.C.: Leider ist unsere Präsenz in den COCODES noch sehr gering. Aber genau darum geht es uns: Wir wollen politische, soziale und kulturelle Räume besetzen, und unsere Forderungen und Bedürfnisse sollen ernst genommen werden. Frage: Wenn wir heute von der Identität junger Indígenas sprechen, wovon sprechen wir? M.C.: Von Identität zu sprechen heisst, darüber zu sprechen, wie Jugendliche in ihren Gemeinden leben. Leider hat uns Männer die Geschichte zu stark geprägt, und wir haben unsere traditionelle Kleidung abgelegt, um westliche Second-hand-Kleider zu tragen. Es sind fast nur noch die Frauen, die corte und huipil tragen. Von Identität zu sprechen heisst, überhaupt erst einmal unsere eigene Geschichte anzuerkennen und uns dafür nicht zu schämen. Ein fundamentaler Teil der Identität ist auch die Sprache. Frage: Ist Migration ein Thema für die Jugend im Departement Quiché? M.C.: Die massive Migration ist eine der Konsequenzen unseres politischen Systems. Sie ist eine Folge von strukturellen, juristischen und zwischenmenschlichen Problemen. Dies lässt junge Leute die Entscheidung treffen, in die Städte oder in andere Länder zu gehen. Dort werden sie mit anderen Umgangsformen konfrontiert. Die Frauen müssen die Tracht ablegen, oft werden sie sexuell ausgebeutet. Wer einen Job will, muss Spanisch sprechen. Womit wir bei der Diskriminierung und dem Rassismus angelangt wären. Nach oben |
Dann kommt es nicht mehr gross darauf an, ob ich dies in Guatemala oder in einem anderen Land erdulde, wo ich wenigstens etwas mehr verdiene als hier. Wenn die Jugendlichen dann wieder in die Gemeinden zurückkommen, gibt es oft Konflikte. Sie haben andere Gewohnheiten angenommen, haben sich gewalttätige Verhaltensweisen angewöhnt, respektieren ihre Familien nicht mehr. Ein anderes Problem ist der Alkoholismus und die Drogen. Ich sehe darin den Versuch, die Jugend stillzuhalten. In der Werbung sehen wir nicht-indigene Machos, die nichts mit unserer Realität zu tun haben. Und trotzdem lassen sich viele indigene Jugendliche davon beeinflussen und haben das Gefühl, durch Alkohol so zu werden wie diese Typen. In unserer Arbeit legen wir viel Wert darauf, diese Mechanismen und Denkweisen zu durchbrechen, Bewusstsein zu schaffen, dass der Alkoholismus nicht nur das Individuum, sondern auch die Familie, die Gemeinschaft zerstören kann. Frage: Hat sich das Phänomen der maras (Jugendbanden, die Red.) bereits bis in den Quiché ausgebreitet? M.C.: Maras gibt es überall im Land. Doch die Jugendlichen sind nicht schuld! Schuld am Phänomen der maras ist das System, in dem wir leben. Ich will Gewalttätigkeit nicht entschuldigen, aber sie ist eine Frucht unserer Geschichte und der Tatsache, dass wir sie nicht verarbeitet haben. Frage: Was erwarten junge Indígenas vom neuen Präsidenten? M.C.: Leider läuft auch in dieser Regierung vieles irgendwo im Dunkeln ab. Schöne Worte sind das eine, die Praxis etwas ganz anderes. Zur Amtsübernahme hat der Präsident die Indígena-Autoritäten eingeladen, da standen die alten Männer mit ihren "Zeptern" als folkloristische Zierde. Aber das heisst noch lange nicht "Unterstützung der indigenen Bevölkerung bei der Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse", wie es der Präsident während seiner Wahlkampagne versprochen hat. Frage: Glauben Sie, dass die politische Zukunft der Mayas darin liegt, eine exklusive Indígena-Partei zu gründen? M.C.: Ich glaube nicht an dieses ausschliesslich Indigene. Es hat bisher immer wieder Indígenas in den verschiedenen Kabinetten oder im Kongress gegeben. Aber weder haben sie meine Interessen vertreten, noch haben sie effektiv Entscheidungen treffen können. Ich glaube, wir müssen beginnen, mit der Basis zu arbeiten, mit den Leuten in den Gemeinden. Wir müssen uns endlich von der kolonialistischen Ideologie befreien und unsere wirkliche Identität finden. Frage: Was hielten Sie von der Präsidentschaftskandidatur von Rigoberta Menchú? M.C.: Es war für die Mayabevölkerung ein wichtiger Moment. Es ist wichtig, dass Indígenas politische Räume besetzen. Klar, sie hatte die Unterstützung der Indígenas nicht, aber leider wurden diese auch ziemlich manipuliert - von Kräften, die verhindern wollten, dass es eine indigene Solidarität mit Rigoberta gab. Für das Selbstbewusstsein junger Indígenas ist aber eine Figur wie Rigoberta Menchú wichtig. Frage: Sie sind eine explizit indigene Jugendorganisation. Haben Sie auch Kontakt zu nicht-indigenen Gruppierungen? M.C.: Es gibt eine gewisse Verwirrung, was unsere Organisation betrifft. Viele Leute glauben aufgrund des Namens, dass ausschliesslich Mayas beitreten können. Als Organisation nennen wir uns zwar so, aber wir sind offen für den Austausch mit anderen. Gerade wir jungen Leute sollten das Ausschliesslichkeitsdenken ablegen. Wir müssen aufhören mit dieser Trennung zwischen indigen und nicht-indigen. Frage: Sind sie verheiratet? M.C.: Nein. Frage: Haben Sie eine Freundin oder Verlobte? M.C.: Ich hatte eine. Frage: Könnten Sie sich vorstellen, eine nicht-indigene Frau zur Freundin zu haben oder zu heiraten? M.C.: Pues… Mir geht es um den Austausch. Ich glaube, etwas vom Wichtigsten ist der Respekt. Wenn ich eine nicht-indigene Frau kennenlerne, mich mit ihr austausche, wir einander erzählen, heisst das noch lange nicht, dass ich mich auch gleich durchsetzen muss - oder sie. Ich respektiere ihre Kultur, sie respektiert meine Kultur, aber heiraten müssen wir deswegen noch lange nicht. Frage: Sie sind 27 Jahre alt, nicht verheiratet und Mitglied einer Jugendorganisation. Wäre es nicht langsam an der Zeit "erwachsen" zu werden? M.C.: Für uns Maya hängt das Erwachsensein nicht mit dem Alter zusammen. Ich kann nach wie vor in einer Jugendorganisation aktiv sein, solange ich mich mit deren Zielen identifiziere und mich mit den Leuten verstehe. Frage: Wie lange zählt man denn bei Ihnen zur Jugend? Bis zur Heirat oder bis zum Eintritt ins Berufsleben? M.C.: Wann die Jugendzeit aufhört? Wenn man das Handtuch wirft! |
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