Geschichte und Erinnerung
Fijáte 419 vom 24. September 2008, Artikel 1, Seite 1
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Geschichte und Erinnerung
Das Forschungszentrum von FLACSO-Guatemala veröffentlichte kürzlich eine Studie über die "Erbschaft des bewaffneten Konflikts". Die Untersuchung beschäftigt sich mit dem Thema des Vergessens und Erinnerns und der unterschiedlichen Gewichtung, die verschiedene Akteure diesen beiden Konzepten widmen. Wir veröffentlichen die Zusammenfassung eines Exposés, das im September 2008 in der Zeitschrift diálogo von FLACSO erschienen ist. Verschiedene KonzepteUm nachzuvollziehen, was Gedächtnis ("Memoria") bedeutet, muss man die unterschiedlichen Bedeutungen von Erinnerung und Vergessen verstehen. Im allgemeinen Verständnis bedeuten diese zwei Begriffe Gegensätze: Wo erinnert wird, kann es kein Vergessen geben und umgekehrt. Aber die Sache ist komplexer: Eine lange vergessene Begebenheit kann plötzlich dank einem Geruch, einem Bild oder einem Gefühl in Erinnerung gerufen werden. Der Weg des Erinnerns ist nicht gradlinig, ebenso wenig derjenige des Vergessens. Es sind verschlungene Wege, aber sie sind Teil derselben Reise, der Reise in die Geschichte. Erinnern und Vergessen sind alte Praktiken. Nehmen wir das Beispiel Ostern: Mit dem jährlichen Feiern von Ostern wird daran erinnert, dass das Volk Israel die SklavInnen der Ägypter waren. Diese Erinnerung machte einen wichtigen Teil der hebräischen Identität aus, ebenso wie heute das Erinnern bzw. Vergessen des Holocausts einen wichtigen Teil der jüdischen Identität ausmacht. Ist das Erinnern ein konstituierendes Element für die Zukunft eines Landes? Können Menschen ihre eigene Biographie entwerfen, ohne sich ihrer Vergangenheit zu erinnern? Können sie ohne Gedächtnis eine Wahl oder Entscheidung treffen? Apropos Holocaust: In Guatemala wurde eine ähnliche Debatte geführt über das Zeugnis von Rigoberta Menchú und der Beteiligung der Indígenas, ArbeiterInnen und BäuerInnen an den aufständischen Bewegungen. Als man die ZeugInnenaussagen von Auschwitz hörte, gab es Versuche, diese zu delegitimieren, und man warf den Überlebenden vor, sich in den Aussagen zu widersprechen. Ganz ähnlich verlief in Guatemala die als Menchú-Stoll-Debatte bekannte Diskussion um den Wahrheitsgehalt der Erzählung von Rigoberta Menchú. Bei dieser Kontroverse geht es einerseits um eine historische Debatte, bei der die Ursachen des internen bewaffneten Konflikts und die Legitimität der Rolle und Beteiligung der indigenen Bevölkerung in Frage gestellt werden. Andererseits geht es um das Denkmodell, das auf der Abwertung des/ der "anderen" Indígena beruht. Zusammen verlaufen sie in einer Interpretation der vergangenen Jahrzehnte, die den Genozid negiert und die Beteiligung der indigenen Bevölkerung in diesem Konflikt delegitimiert. Dieses Denkmuster kommt z.B. dann wieder zum Tragen, wenn es um die Rechtfertigung von Gewaltanwendung gegen "Verdächtige" geht, die in "irgendwelche Dinge verwickelt sind". Um die Dichotomie Erinnern und Vergessen geht es auch bei den verschiedenen Vorschlägen zur Geschichtsschreibung der jüngsten guatemaltekischen Geschichte. Die einen wollen erinnern und wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist, um aus der Gegenwart heraus eine Zukunft aufzubauen. Für sie ist es wichtig zu erinnern und zu verstehen, was geschehen ist, um so aus der Vergangenheit Geschichte zu machen. Die anderen wollen vergessen und sich nicht an die gewalttätigen Geschehnisse während des Krieges erinnern. Die Vergangenheit kennen zu wollen erwächst aus dem Bestreben, die Wahrheit zu kennen und einen Horizont von Freiheit zu erspähen. Erst dann ist es möglich zu verzeihen und vielleicht zu vergessen. Oder es hilft, den Schmerz der Erinnerung zu lindern. Die Wahrheit spricht nicht für sich allein, sie braucht jemanden, der sie erzählt, und jemanden, der sie anhört. Wenn ein Opfer seine Geschichte erzählt, geht es nicht um die (Selbst-) Darstellung als Opfer, sondern darum, den Opferstatus zu überwinden. Oder mit den Worten von Dominick LeCapra: "Sich zu erinnern, bedeutet, in die Vergangenheit zurückzukehren und gleichzeitig in der Gegenwart zu leben, ohne dies als Widerspruch zu erleben. Man erinnert sich an das, was damals geschah, ohne aus den Augen zu verlieren, dass man im Hier und Jetzt lebt, vor allem auch in Momenten, wenn einen die Vergangenheit zu überwältigen droht." Diese Erinnerungspolitik findet auf unterschiedlichen Ebenen statt, und es sind verschiedene Akteure daran beteiligt: Lokale Gemeinden, nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen, Regierungen, die Medien und (...) die Vereinten Nationen. Oft finden wir gerade bei offiziellen Akteuren den Hang zur Polarisierung, als würden wir uns immer noch im bewaffneten Konflikt befinden. Es gibt aber auch die ethische Frage nach den Risiken der Interpretation und den unterschiedlichen Methoden, die z.B. von ForscherInnen oder PsychologInnen angewendet werden. Auch die Schrift ist ein Werkzeug der Macht, das den oder die "andere" repräsentiert, in diesem Fall die in die Gewalt involvierten Personen: TäterIn und Opfer. Die Arbeit der historischen Aufklärung ist es, herauszufinden WAS genau passiert ist, wie genau die Regierungspolitik auf lokaler oder regionaler Ebene akzeptiert oder abgelehnt wurde. Dies zu wissen, trägt dazu bei, die Ursachen des guatemaltekischen bewaffneten Konflikts zu verstehen. Leider wurde diese Arbeit nach der Ermordung von Bischof Gerardi und der Auflösung der Wahrheitskommission selbst von den ForscherInnen vernachlässigt, was man u.a. daran sieht, dass es keine Projekte gibt, die Universitäten oder Forschungszentren einbinden, um das Wissen um die guatemaltekische Geschichte der letzten 60 Jahre zu vertiefen. Persönliche und kollektive GeschichtenViele AnwältInnen und JuristInnen bezeichnen die guatemaltekische Gesetzgebung als "sehr gut". Sie sind sich einig darüber, dass mindestens was die normativen, konstitutionellen und substantiellen Gesetze betrifft, die guatemaltekische Gesetzgebung genug bietet, um die gravierenden Menschenrechtsverletzungen sowohl der Vergangenheit wie auch der Gegenwart zu verfolgen. Bezüglich Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit besteht die grosse Herausforderung darin, die adäquaten Rechtsmittel zu suchen und zu finden. Auf der einen Seite sind die finanziellen Kosten dieser Arbeit sehr hoch, sowohl für das Opfer wie für den oder die AnwältIn. Auf der anderen Seite braucht es eine Begleitung des Opfers, was nochmals ganz andere Fähigkeiten erfordert als das juristische Wissen. Man muss zuhören können, verstehen wollen und das Verständnis von Wiedergutmachung des Opfers auf die Möglichkeiten der Gesetzgebung übersetzen oder herunterbrechen können. Gemäss AnwältInnen und VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen liegen die Gründe, weshalb die Justiz in solchen Fällen nicht effizient ist, im mangelnden politischen Willen. Dazu kommt, dass die Ernennung von RichterInnen oft politischen Interessen dient bzw. politisiert wird. Ein weiterer Grund ist das beschränkte Budget, über welches das Justizwesen verfügt. Selbstverständlich liegt es auch an der Komplexität und Menge der Fälle. Es bräuchte eine Reform des Justizsystems und die Revision einiger die Prozesse behindernden oder verzögernden Rechtsmittel, wie zum Beispiel den "amparo" (eine spezielle Art von Einsprache), während dessen Behandlung der ganze Prozess zum Stillstand kommt. Nach oben |
Auch wenn es Verurteilungen gab in Fällen wie dem Mord an Monseñor Gerardi, Myrna Mack oder dem Massaker von Río Negro, werden diese von MenschenrechtsaktivistInnen als nur "halbe Urteile" oder "partielle Fortschritte" bezeichnet. Es gibt aber Leute, die es positiver sehen und erstaunt sind, dass es TROTZ der Politisierung des Verfassungsgerichts und TROTZ den Mängeln in der Staatsanwaltschaft Fortschritte gibt wie z.B. die Einführung eines nationalen Wiedergutmachungsprogramms und die Urteilssprechung in einigen Präzedenzfällen. Im Gegensatz zu dieser eher positiven Einschätzung steht diejenige der Opfer, die den Eindruck haben, dass die Justiz nicht funktioniert. Dies drückt sich in Gegenden wie Quiché, Huehuetenango oder Alta Verapaz in einem profunden Misstrauen der Justiz gegenüber aus. Für die Opfer ist es eine zeit- und geldaufwendige Angelegenheit, einen Prozess zu führen. Für viele Menschen ist denn auch die soziale Anerkennung ihres Leidens wichtiger als ein Gerichtsurteil, denn "die zerstörte Jugend kann nicht mehr rückgängig gemacht werden", wie eine Zeugin erklärte. Viele GuatemaltekInnen, speziell StädterInnen, wollen den internen bewaffneten Konflikt "vergessen". Es fällt ihnen einfacher, über die Conquista zu sprechen, weil diese länger zurückliegt und sie direkt nichts damit zu tun haben. Aber wenn es um die Gräuel des Konflikts geht, gibt es immer wieder Stimmen, die sagen "was vorbei ist, ist vorbei". Oft meinen dies Menschen, welche die Gewalt nicht selber erlebt haben. Zwar beschweren sie sich über die aktuelle Gewalt, doch es kommt ihnen nicht in den Sinn, einen Zusammenhang mit der Vergangenheit darin zu sehen. Viele guatemaltekische StädterInnen wissen, dass es den bewaffneten internen Konflikt gegeben hat. Doch sie sahen nie ein niedergebranntes Dorf, sie können sich nicht vorstellen, was es heisst, auf der Flucht zu sein und sich in den Bergen und Wäldern zu verstecken. Sie haben vielleicht im Fernsehen gesehen, wie "Guerillas" oder "TerroristInnen" aus ihren Verstecken geholt wurden. Oder sie sahen, wie ihre NachbarInnen abgeholt wurden oder nicht identifizierte Leichen in den Strassengräben gefunden wurden. Sie erlebten die Gewalt völlig anders als ihre Mitmenschen in den ländlichen Gegenden. Doch die Konsequenzen und die Hinterlassenschaften dieses Krieges erleben heute alle auf ähnliche Weise. Es fragt sich, welche Rolle die städtischen GuatemaltekInnen während des bewaffneten Konflikts innehatten: Jene Leute, die heute eine bestimmte Partei wählen, die sich täglich in den Medien und durch eigenen Erfahrungen über die Morde und Korruptionsfälle informiert halten, jene, die von "all dem genug haben". Können sich diese StädterInnen nicht mit ihren MitbürgerInnen identifizieren, die den Konflikt auf eine andere Weise erlebt haben? Am 30. Mai 2008 wurden fünf Männer als die materiellen Täter des Massakers von Río Negro verurteilt. Diese Nachricht erschien jedoch tags darauf nicht in den Zeitungen, wahrscheinlich weil die Nachrichten über Korruption für die Medien wichtiger waren. So wie die Veröffentlichung einer Nachricht über diese Verurteilung Teil des "Rechts zu Wissen" ist und ein solcher Präzedenzfall die zukünftige Rechtsprechung beeinflussen kann, so ist es auch eine Pflicht der BürgerInnen, sich darüber zu informieren, was geschehen ist. Doch es ist fast unmöglich zu erfahren, was während dem bewaffneten Konflikt geschehen ist, geschweige denn, dessen Ursachen zu verstehen und zu erklären. Im Fall von Río Negro wurden viele der damaligen Kinder zu Waisen, ihre Familien wurden zerstört. Wenn man die Erlebnisse und Erfahrungen dieser Menschen kennen würde, könnte man einiges darüber lernen, wie die guatemaltekische Gesellschaft heute weniger gewalttätig sein könnte. Doch Teil der Verunmöglichung der Straflosigkeit ist, dass genau solche Erfahrungen nicht ausgetauscht und verbreitet werden. Aus der Dualität Opfer/ TäterIn wird eine Triade, die alles noch viel komplizierter macht. Es gibt nämlich noch die ZuschauerInnen dieser Gewalt, die sich zum Theater der Kriegspolitik gesellen und die mit ihrem Schweigen zu KomplizInnen der Gewalt werden. Diese dritte Gruppe einzubeziehen ist einerseits eine Herausforderung, könnte aber auch die Möglichkeit bieten, der Gewalt anders zu begegnen - der vergangenen wie der aktuellen. |
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