Zur Stimmung vor den Wahlen in Guatemala
Fijáte 393 vom 12. Sept. 2007, Artikel 2, Seite 4
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Zur Stimmung vor den Wahlen in Guatemala
Der vorliegende ¡Fijáte! wurde am Vorabend der guatemaltekischen Wahlen geschrieben. Bis er im Briefkasten oder der Mailbox der LeserInnen ist, sind die Wahlergebnisse bereits bekannt. Wir haben uns bewusst dagegen entschieden, den Redaktionsschluss um einen oder zwei Tage zu verschieben, weil wir davon ausgehen, dass es länger dauert, bis die ersten wirklich brauchbaren Wahlanalysen vorliegen. Um den LeserInnen aber trotzdem etwas vom Wahlfieber - oder ist es vielleicht eher Wahlpragmatismus? - vermitteln zu können, veröffentlichen wir den folgenden Bericht von Yvonne Joos, die zur Zeit für Peace Watch Switzerland (www.peacewatch.ch) in Guatemala ist. Die bevorstehenden Wahlen verfolgen einen auf Schritt und Tritt - in den Städten, die mit Wahlplakaten voll geklebt sind, genauso wie auf dem Land, wo einem die Köpfe der KandidatInnen und die bunten Symbole der Parteien von allen Hauswänden und Steinen am Strassen- und Wegrand entgegenleuchten. Die Panamericana (Hauptverbindungsstrasse quer durchs Hochland) wird genauso von Wahlpropaganda gesäumt wie die ungeteerten, holprigen Überlandstrassen. Wer sich dieser visuellen Dauerberieselung (oder -belästigung) entziehen will, muss weit gehen. Zum Beispiel in die Berge im Norden des Departements Huehuetenango, nahe der Grenze zu Mexiko, wo keine camioneta hinfährt, wo man nur noch zu Fuss weiterkommt, oder mit etwas Glück mit einem der selten verkehrenden Pickups. Auf den einsamen Wegen zwischen den verstreut liegenden, manchmal nur zwei Dutzend Häuser zählenden Dörfern, hat das Auge Ruhe. Erst in den aldeas holen einen die Plakate und bepinselten Steine wieder ein, unausweichlich, unerbittlich. Die fast flächendeckende Präsenz der Wahlpropaganda einerseits und die Information über die Inhalte der Parteiprogramme und die Versprechungen der KandidatInnen andererseits sind allerdings zwei Paar Schuhe. Manchmal wissen die campesinos/-as nicht einmal die Namen der Parteien, deren Plakate an ihren Hauswänden hängen. In einer comunidad an den oft von dichten Nebelschwaden behangenen, steilen Berghängen Huehuetenangos zum Beispiel, werden bei den Bürgermeisterwahlen viele für die Partei Desarrollo Integral Auténtico (Authentische Integrale Entwicklung) stimmen - ohne zu wissen, was das Kürzel DIA bedeutet, ohne lesen zu können, was auf dem Flugblatt der Partei steht, das sie bei einer Wahlveranstaltung in die Hand gedrückt bekommen haben. Auf diesem verspricht die Partei, sich für "trabajo, tortilla, tierra, techo" (Arbeit, Tortilla, Land, Dach) einzusetzen. "Die sind hier vorbeigekommen, sie wissen, wie wir hier leben und werden sich für uns einsetzen", meint Isidro*. "Wahrscheinlich werde ich für diese Partei stimmen." Isidro hat 1982 als zwölfjähriger Junge seine Eltern in einem von der Armee verübten Massaker verloren. Nur weil er die Schafe und Ziegen in den Bergen hütete, als die Soldaten ins Dorf kamen und die BewohnerInnen, inklusive Kinder, grausam umbrachten, ist er heute noch am Leben. Er hat seine Zeugenaussage gegen Ríos Montt, den Hauptverantwortlichen dieses und zahlreicher weiterer Massaker in den Jahren 1982 und 83, abgegeben und einen Antrag auf Wiedergutmachungs-Zahlungen gestellt. In der Asociación para la Justicia y la Reconciliación (AJR) engagiert er sich mit viel Herzblut dafür, dass Ríos Montt für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen wird. An der Wand seiner einfachen Lehmhütte hängen nebst der Propaganda der Unidad Nacional de la Esperanza (UNE) (Partei des bei den Meinungsumfragen an der Spitze liegenden Alvaro Colom) und des DIA auch zwei Plakate der Frente Republicano Guatemalteco (FRG), der Partei von Ríos Montt. Auf die Frage, warum er diese Plakate hier habe, wo er sich doch aktiv im Prozess gegen den Ex-General engagiere, lacht er nur: "Das hat nichts miteinander zu tun. Sie haben mir dafür, dass sie die Plakate an mein Haus hängen durften, ein refresco (Süssgetränk, das umgerechnet ca. 70 Rappen oder 50 Eurocents kostet) geschenkt." Die Besucherin ist sprachlos... Die Partido Patriota (PP), deren Propaganda sowohl in den Städten als auch auf den Hauptverkehrswegen und in den Zeitungen omnipräsent ist, ist in den Dörfern im Norden Huehuetenangos kaum vertreten. Orange, die Farbe der PP, sieht man hier allenfalls in Kombination mit grün - mit den Farben orange und grün sowie dem unverkennbaren Maiskolben als Symbol schmückt sich die Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG), die ehemalige Guerilla. In einem Dorf nahe der mexikanischen Grenze wollen 80 Prozent der Bevölkerung die URNG wählen. Der Rest tendiert zu UNE oder PP - wobei die UNE gemäss Auskunft eines seit Jahren dort lebenden Europäers 400 Quetzales (knapp 70 Franken) pro Stimme bezahlt. Das ist hier, wo eine Banane keine 5 Rappen kostet, viel Geld. Nach oben |
Auch wenn sich die Leute in den abgeschiedenen Dörfern über den Mangel an Informationen beklagen, wissen einige doch, dass Otto Pérez Molina, der Präsidentschaftskandidat des PP, ein ehemaliger Militär ist. In den Bergen Huehuetenangos, wo viele Familienangehörige in den von der Armee verübten Massakern der 1980er Jahre verloren haben, ist das ein wichtiger Grund, Pérez Molina nicht zu wählen. "Die mano dura (die 'harte Hand' ist das Symbol des PP) richtet sich gegen uns Indígenas", bringt Pablo* die Befürchtungen auf den Punkt. Er ist campesino in einem Weiler, in dem u.a. Angehörige von Opfern eines Massakers im Jahr 1982 seit ihrer Rückkehr aus dem Exil in Mexiko leben. Gleichzeitig führt die fehlende Information aber auch zu einer gewissen Beliebigkeit im Wahlverhalten. Die Leute auf dem Land kennen meist nur jene Parteien, die mit einem fähnchengeschmückten und mit einem Megaphon versehenen Pickup ihre Gemeinde besucht und eine Wahlveranstaltung durchgeführt haben. Diese Parteien werden am Wahlsonntag die Leute mit Bussen abholen und sie "gratis" in eines der Wahlzentren chauffieren - als Gegenleistung wird das Wählen der entsprechenden Partei erwartet. Obwohl im Hochland von Huehuetenango fast ausschliesslich Indígenas leben, sind die indigene Präsidentschaftskandidatin und Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú und ihre Partei Encuentro por Guatemala (EG) dort kaum präsent. Überhaupt sind Indígenas wie Frauen unter den KandidatInnen - sowohl fürs PräsidentInnenamt als auch fürs nationale Parlament und die Bürgermeistereien - einmal mehr krass untervertreten. Während in den Meinungsspalten der Zeitungen mit Argumenten wie Vaterlandsliebe und der Notwendigkeit der Zukunftsgestaltung für die Teilnahme an den Wahlen geworben wird, ruft das Colectivo de Organizaciones Sociales (COS) in ganzseitigen Inseraten zur Wahlabstinenz auf. "No vote por militares", "no vote por empresarios corruptos", "no vote por mafias y crimen organizado" und "otra Guatemala es posible" sind ihre Slogans (wähle keine Militärs, wähle keine korrupten Unternehmer, wähle keine Vertreter der Mafia oder des organisierten Verbrechens, ein anderes Guatemala ist möglich). Ein Lehrer und Maler aus Quetzaltenango fasst die dahinter stehende Überzeugung so zusammen: "Solange die Oligarchie - namentlich der Unternehmerverband CACIF - die neuen Reichen (zu ihnen gehört auch Ríos Montt) und das Militär die Macht in den Händen haben, ändert auch ein neuer Präsident nichts in diesem Land." * Name geändert |
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