Guatemala, 10 Jahre danach... Den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben, Teil 2
Fijáte 373 vom 29. November 2006, Artikel 1, Seite 1
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Guatemala, 10 Jahre danach... Den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben, Teil 2
Nachdem Mario Garavito, Leiter der Liga Guatemalteca de Higiene Mental, im letzten ¡Fijáte! über die Notwendigkeit der psychosozialen Arbeit zur Wiederherstellung der durch den Krieg zerstörten Subjektivität der GuatemaltekInnen spricht und das Liga-Projekt der Wiederzusammenführung von während des Konflikts verlorenen Kindern und Familienangehörigen vorstellt, geht es im zweiten Teil des Interviews um den Umgang und die psychosozialen wie historischen Zusammenhänge der aktuellen Gewaltsituation in Guatemala. Dabei warnt Garavito davor, die Ursachen heutiger Gewalttaten einzig in der Vergangenheit zu suchen. Die Liga Guatemalteca de Higiene Mental wurde 1952, noch unter der Regierung von Jacobo Arbenz gegründet und verfolgt seit jeher einen präventiven Ansatz in der psychosozialen Arbeit. Heute setzt sie sich u.a. für die Suche nach im Krieg verschwundenen Kindern ein und arbeitet mit Jugendlichen in marginalisierten Quartieren sowie in den Gefängnissen. Sie produziert Radio- und Fernsehsendungen, um die guatemaltekische Gesellschaft auf das Gewaltthema zu sensiblisieren. Frage: Guatemala hat kaum den Krieg hinter sich gelassen, steckt noch mitten in einem "Heilungsprozess" und ist bereits mit einer neuen "Gewaltwelle" konfrontiert. Wie erklärst du dir das? M.A.G.: Auch hier muss man ein bisschen differenzieren. Diese famose Gewaltwelle spielt sich nicht so sehr in den ländlichen Gemeinden ab, sondern vielmehr in den Städten, vor allem in der Hauptstadt. Frage: Aber auch für die Leute der Hauptstadt muss es schrecklich sein, wenn ihre Liebsten "einfach so" und auf brutalste Weise umgebracht werden. M.A.G.: Selbstverständlich, ich streite nicht ab, dass das grösste gesellschaftliche Problem in Guatemala momentan die Gewalt ist. Ich glaube, wir haben es mit dem so genannten psychosozialen "Posttraumatischen Belastungssyndrom" zu tun, das die ganze Bevölkerung betrifft. Einige mehr, andere weniger. Indikatoren dafür sind folgende: Wir GuatemaltekInnen sind nicht mehr in der Lage, organisiert auf unsere Probleme zu antworten. Früher gab es sowohl in den Gemeinden wie in den städtischen Quartieren sehr viel Gemeinschaftsarbeit. Man organisierte sich, um Abwasserkanäle zu graben, um Telefonleitungen zu verlegen, um einen Sportplatz zu bauen. Solche Initiativen sieht man heute immer weniger. Wir unterliegen einer Individualisierungslogik, wo sich jeder um sich selber dreht. Das hat viel mit Fatalismus und mit fehlenden gemeinsamen Perspektiven zu tun. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist, wie die Leute der Gewalt begegnen: Die Gewalt in ihrem Viertel nimmt zu und als Antwort darauf umgeben sie ihre Häuser mit Zäunen, elektrischem Stacheldraht, hohen Mauern und kaufen sich einen aggressiven Hund. Doch von ihren NachbarInnen kennen sie nicht einmal die Namen. Frage: Es gibt doch jetzt diese selbstorganisierten, bürgerwehrähnlichen Sicherheitsgruppen in den Quartieren? M.A.G.: Ja, aber die bringen nicht viel. Ausserdem habe ich den Eindruck, dass die von aussen organisiert und nicht wirklich aus der Nachbarschaft erwachsen sind. Und - diese Organisationen beschränken sich ausschliesslich auf die Sicherheitsfrage. Ein weiterer Indikator für diese post-traumatische Belastung ist, dass sich unsere Möglichkeiten, auf Probleme zu reagieren, immer mehr einschränken und immer gewalttätiger werden. Nimm das Beispiel der zunehmenden häuslichen Gewalt. Doch das Phänomen ist allgegenwärtig, du siehst es z.B. auch im Stossverkehr, wo sich die Leute mitten im Stau niederschiessen. Das heisst, unsere Fähigkeit, rational mit der Realität umzugehen, ist einem primitiven Umgang - der Gewalt - gewichen. Als dritten Faktor möchte ich die gelernte Hemmung nennen. Politisch gesehen ist dies z.B. das Fehlen von einem staatsbürgerlichen Bewusstsein (Ciudadanía). Die Leute - wenige zwar - gehen wählen, aber damit hat es sich. Andere Formen von Partizipation oder von politischem Aktivsein im eigenen Umfeld kennen wir nicht. Weshalb? Die gelernte Hemmung führt dazu, dass du dich von der Gesellschaft isolierst. Beispiel Konsum: Wir leben in einer Gesellschaft, wo das Haben wichtiger ist als das Sein. Dein Wert als Person wird durch deinen Besitz definiert und nicht dadurch, wer du bist. Das ganze Wertesystem, die Ethik, ist total individualisiert, es gibt keine gemeinsamen Werte, keine soziale Ethik mehr. Auch dazu kann ich dir ein Beispiel nennen: Ich kenne einen Polizisten, der zugibt, dass er Leute ausnimmt oder erpresst. Begründen tut er dies damit, dass sein Lohn nicht reicht, um seinen Kindern die Ausbildung zu finanzieren. Dass die Leute, die er bestiehlt, nun ihrerseits kein Geld mehr haben, um ihren Kindern das Schulgeld zu bezahlen, ist ihm vollkommen egal. Welch Mangel an sozialer Ethik! Frage: Ist es nicht ein bisschen vereinfacht, die aktuellen Gewalttaten mit einer "vom Krieg traumatisierten Gesellschaft" zu erklären? Verwischt man damit nicht die Tatsache, dass es auch aktuelle Ungerechtigkeiten und Anlässe gibt, die Menschen dazu bringen, mit Aggression und Gewalt zu reagieren? M.A.G.: Man kann das sicher nicht alles als "Erbe des Krieges" abtun. Dies wäre eine zu ideologisierte Sichtweise. Zweifellos hinterliess der Krieg Wunden und Folgeerscheinungen, aber man kann ihm nicht die Schuld an allem anlasten. Es gibt auch ganz aktuelle Verantwortlichkeiten, die man aber gerne hinter dem "Krieg" versteckt. Ich gebe dir ein Beispiel aus den sozialen Bewegungen, die diesen Diskurs führen, um ihre Nachwuchsprobleme zu erklären. Es stimmt, während des Krieges wurden viele wichtige und mutige Menschen umgebracht, speziell auch die Führungspersönlichkeiten der sozialen Organisationen. Wenn du nun aber ins Innere dieser Organisationen schaust, merkst du, dass es keine Leader gibt, weil diese Organisationen caudilistisch, autoritär und individualistisch aufgebaut sind und man jüngeren Leuten keine Chance lässt, Verantwortung und Protagonismus zu übernehmen. Dies hat überhaupt nichts mit dem Krieg zu tun, sondern mit internen Machtproblemen. Ein anderes Beispiel: In Nebaj gab es vor einigen Jahren eine sogenannte Suizidwelle unter Jugendlichen (siehe ¡Fijáte! 254 und 255). Die Erklärung dafür: Der Krieg. Ich glaubte nicht an dieses Erklärungsmuster und zusammen mit UNICEF führten wir eine nationale Studie zum Thema Jugendsuizid durch. Dabei war die grosse Erkenntnis, dass in Regionen wie z.B. dem Osten des Landes, der vom Krieg weitgehend verschont blieb, die meisten Selbstmorde unter Jugendlichen verübt werden. Der Grund dafür ist nicht der Krieg, sondern eine autoritäre Gesellschaft, die den Jugendlichen keine Perspektiven zu bieten hat. Ich weiss von zwei Fällen von jungen Frauen in der Nähe von Monterrico - die beiden kannten sich nicht einmal - die brachten sich um, weil die Eltern ihnen verboten hatten, mit den Jungen auszugehen, in die sie sich verliebt hatten. Ich will damit nicht sagen, dass der Krieg keine Spuren in unserer Gesellschaft zurückgelassen hat, wie gesagt, die Zerstörung der Subjektivität wurde systematisch betrieben, aber wir dürfen nicht einfach alle unsere Probleme, mit denen wir nicht zurecht kommen, auf den Krieg schieben. Frage: Menschen, deren Angehörige während des Krieges verschwunden sind oder umgebracht wurden, finden heute Unterstützung durch Organisationen wie z.B. der Liga. Im besten Fall sind sie daran, ihre Wunden zu heilen und sich mit ihrer Geschichte zu versöhnen. Doch noch mitten in diesem Prozess sind sie mit einer neuen Gewalt konfrontiert, einer Gewalt, die in so genannten Friedenszeiten stattfindet. Wer wird sich je um die Opfer und Hinterbliebenen der "neuen" Gewalt kümmern? Nach oben |
M.A.G.: Hoffentlich dauert es nicht lange, bis man sich um diese Leute kümmert. Leider ist es aber vom Willen der aktuellen PolitikerInnen abhängig, ob und wann mit dieser Arbeit begonnen werden kann. Es ist offensichtlich, dass viele der Morde, die heute geschehen, mit dem organisierten Verbrechen und dem Drogenhandel in Zusammenhang stehen. Meine jahrelange Arbeit im Gefängnis und mit Sektoren, die noch einmal ganz anders Bescheid darüber wissen, was für unvorstellbare Dinge in Guatemala laufen, haben mich zu dieser Überzeugung kommen lassen. In dieser Schattenwelt geschehen Dinge, von denen wir uns keine Vorstellung machen können. Leider fehlt es in Guatemala an einer Sozialpolitik, die Gewaltprävention vorsieht. Die Tendenz ist, den Jugendbanden in den marginalisierten Quartieren mit der Politik der "harten Hand", also mit Repression zu begegnen. Das Tragische ist, dass die Leute darauf reagieren und nicht mehr in der Lage sind, überhaupt über andere Möglichkeiten als Repression nachzudenken. Es fehlt an politischer Erziehung, die Leute sind nicht in der Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wir - vor allem die Jugendlichen - müssen wieder Denken lernen, damit wir uns nicht übers Ohr hauen lassen von irgendwelcher Propaganda. Ein weiteres menschliches Phänomen und eine wichtige Komponente von Entwicklung ist die Kommunikation. Unsere zwischenmenschliche Kommunikation ist völlig gestört. Entweder sie ist gar nicht vorhanden oder sie ist konfliktbeladen. Aushandeln heisst bei uns, den anderen oder die andere dazu zu bringen, meinem Willen zu gehorchen. Sämtliche Versuche von politischen Allianzen sind in Guatemala gescheitert, weil man unter Allianz versteht, dass der andere sich mir unterzuordnen hat. Wie wichtig die Kommunikation ist, sehen wir auch bei unseren re-encuentros (den Wiedertreffen zwischen im Krieg vermissten/verlorenen Kindern und Familienangehörigen, die Red.). Am Anfang dachten wir, die Arbeit wäre erledigt, wenn wir die Menschen physisch wieder zusammenbringen, doch dann haben wir gemerkt, dass ein wichtiger Teil der Arbeit erst dann beginnt. In den Beziehungen der Leute, die sich wieder finden, gibt es ein Zeitloch bis zu 20 Jahren. Dieses Loch kann man nicht einfach auffüllen, aber man kann Steine legen, um es zu überbrücken. Und dabei ist die Kommunikation enorm wichtig. Noch beim ersten Wiedersehen-Treffen schenken wir den Leuten einen Kalender und zwingen sie, darin einzutragen, wer wen wann anruft, wer wen besucht etc., damit sie sich austauschen, miteinander sprechen und gemeinsam diese verlorenen Jahre aufarbeiten können. Ein weiterer Faktor ist die Erinnerung. Unsere historische Erinnerung ist verzerrt. Wenn man heute in den Schulen über die conquista spricht, errichtet man den "Eroberern" quasi jedes Mal ein neues Monument! All dies ist Teil der Subjektivität und es beeinflusst, wie du dich und deine Umwelt wahrnimmst. Frage: Wenn du der Arzt oder der Psychiater Guatemalas wärst, was würdest du dem Land und seinen Leuten für eine Medizin verschreiben? M.A.G.: Man muss im Kopf behalten, dass die materielle Absicherung für die Leute fundamental ist. Also muss man in öffentliche Politiken investieren, die mit der Absicherung der Lebensgrundlagen der Menschen zu tun haben: Gesundheit, Bildung, Erholung. Dies ist ein wichtiger und grundlegender Teil. Daneben würde ich eine grosse, nationale Kampagne lancieren, in welche die Regierung, die Medien, die sozialen Organisationen, die Kirchen usw. involviert sind, um humane, soziale zwischenmenschliche Beziehungsformen aufzubauen. Dabei geht es darum, neue Werte zu definieren, den anderen oder die andere als wichtig für mich anzuerkennen. Denn, wenn du für mich wichtig bist, werde ich dich nicht bestehlen, dich nicht misshandeln und dich nicht umbringen. Wichtig ist, dass eine solche Kampagne ohne partei-politische oder philosophisch-religiöse Absichten durchgeführt wird. Im Kern geht es darum, uns wieder beziehungsfähig zu machen, denn genau diese Fähigkeit hat man uns zerstört. Unsere Medien tragen das Ihre dazu bei, indem sie jeden Tag auf der Titelseite der Zeitung das Bild eines ermordeten Menschen bringen. Die Leute gewöhnen sich daran, und das Bild muss jedes Mal blutiger, die Geschichte schrecklicher sein, damit sie überhaupt noch beeindruckt. Deshalb hätten die Medien eine wichtige Rolle bei dieser Kampagne. Die Liga hat eine Serie von Radiospots aufgenommen zum Thema Gewalt und Jugend. Dazu haben wir nationale Persönlichkeiten interviewt. Wir sind uns bewusst, dass wir damit das Problem als solches nicht lösen können, aber wir können der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, den Leuten zeigen, was in ihrem Land geschieht und wie sie damit umgehen können. Denn sie haben sich bereits an diese Gewalt gewöhnt, sie erscheint ihnen normal und mit unseren Spots wollen wir den Leuten sagen, dass das überhaupt nicht normal ist. Vielen Dank für das Gespräch! |
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