Sturm auf das Pavón
Fijáte 369 vom 04. Okt. 2006, Artikel 3, Seite 4
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Sturm auf das Pavón
Guatemala, 30. Sept. Noch in der Sonntagsbeilage der Tageszeitung Prensa Libre gab es einen ausführlichen Bericht der Reporter, die über Wochen dem grössten und bekanntesten Gefängnis des Landes, der so genannten "Modellfarm für Rehabilitation Pavón", im Volksmund schlicht "Pavón" genannt, Besuche abgestattet hatten und ihren Einblick in das Innere der Gefängnismauern veröffentlichten, in das Innere, in das selbst die Autoritäten seit mehr als zehn Jahren keinen Zugang hatten. Und im Morgengrauen zum Montag wird das Pavón gestürmt, von 1´700 Polizeikräften, 1´200 Militärs, 100 Gefängniswärtern, mit Rückendeckung von vier Panzern und drei Helikoptern. Als Zuständige der konzertierten und wohl seit einem halben Jahr geplanten Aktion - genannt "Operation Pavo Real", auf deutsch "OP Pfau" - gilt an erster Stelle der Direktor des Gefängnissystems, Alejandro Giammattei. Und es ist Giammattei, der jetzt sowohl im Rampenlicht als auch an erster Stelle der Empfänger von Morddrohungen steht, hat er doch dem Organisierten Verbrechen einen empfindlichen Schlag versetzt, was als mutige und dringend notwendige Tat von der breiten Öffentlichkeit begrüsst, von den "Geschlagenen" indes als Provokation aufgefasst wird. Der Überraschungsangriff - der so überraschend nicht war, wurden die Sicherheitskräfte doch mit Schüssen und Molotowcoctails empfangen - hatte sieben tote Gefangene, einen verletzten Häftling und einen verletzten Polizisten zum Saldo. Ausser einer kleinen Gruppe von als zu gefährlich eingestuften Jugendbandenmitgliedern, wurden die übrigen der 1´651 Sträflinge in das nahe gelegene Untersuchungsgefängnis "Pavoncito" verlegt und eine gründliche Durchsuchung des Pavón-Geländes angeordnet. Unter den Häftlingen befinden sich Noel de Jesús Beteta, verurteilt des Mordes an der Anthropologin Myrna Mack im Jahr 1991 sowie Vater und Sohn Lima, die beiden Militärs, die im Zusammenhang mit dem Mord an Bischof Gerardi 1998 ihre Strafe absitzen. Als schräg imponieren dabei sowohl der Grossteil der Berichterstattungen und Darstellungen als auch der Reaktionen ob der vermeintlichen Enthüllungen durch die Stürmung des Gefängnisses. Die "Modellfarm" war ursprünglich mit landwirtschaftlichen Produktionsprojekten konzipiert, um die Haft für die Verurteilten tatsächlich zu einem Rehabilitationsaufenthalt zu machen. 1989 wurde in Folge einer Meuterei die letzte Razzia im Pavón durchgeführt und 1996 unter Präsident Álvaro Arzú und Innenminister Rodolfo Mendóza die Kontrolle über die Einrichtung schliesslich komplett in die Hände des COD - des Komitees für Ordnung und Disziplin - gelegt, bestehend rein aus Insassen des Pavón. Seitdem gibt es keine offiziellen Zahlen über die Insassen mehr. Und, das stellte Giammattei bei seinem Amtsantritt vor 11 Monaten fest, der Grossteil der Registrierkarteikarten ist verändert, nur 3% zeigen ein Foto des entsprechenden Häftlings. Als bei der Verlegung der Pavón-Häftlinge nun gezählt wurde, "fehlten" laut der offiziellen Zahlen rund 40 Personen. Die Vermutung Giammatteis, dass es auf dem Gelände Gruben gäbe, in denen innerhalb des Gefängnisses Ermordete vergraben seien, konnte in der ersten Woche der Durchsuchungen nicht bestätigt werden. Was aber - nach dem Artikel in der Prensa Libre in den Medien breitgetreten wurde, letztendlich jedoch seit Jahren bekannt ist, war der Zustand des "Staates im Staate". Neben den offiziellen, völlig heruntergekommenen Zellbaracken gibt es auf dem Terrain mehr als 300 Wohnhäuser, von Blech- und Kartonhütten, über Holz- und Steinhäuser bis hin zu mindestens einem "Chalet" im kanadischen Stil, mit gekacheltem Boden, Jacuzzi, TV-Flachbildschirm, Fitnessraum und Bar - Eigenheim des zweiten Mannes an der Spitze des COD. Dieser, aber auch der Chef, Luis Alfonso Zepeda González, verurteilt unter anderem wegen Mordes zu 27 Jahren Haft, sowie drei weitere Mitglieder des Komitees sind unter den Toten und waren beim Angriff bewaffnet. Noch stehen die Ermittlungen hinsichtlich der Vorwürfe von Seiten der Pavón-Häftlinge aus, es habe sich dabei um aussergerichtliche Hinrichtungen, sprich, spezifische Exekutionen dieser Männer gehandelt. Und diese, eine kleine Gruppe, waren die wahren Herrscher im Pavón, die den Rest der Gefängnisbevölkerung mittels Unterdrückung, Sklavenhaltung, Bestechung, Überfälle, Geiselnahme und Inhaftierung im Gefängnis selbst unter Kontrolle hatten. Und ausserdem dirigierten sie einen beträchtlichen Teil der Verbrechen, die ausserhalb desselben begangen wurden. Während die staatlichen Autoritäten allein den Verwaltungstrakt - ca. 10% der Anlage - betraten und deren Aussenmauern von 70 Militärs bewacht wurde - war das COD perfekt organisiert, finanziert von "Ausseneinnahmen" sowie durch an den Insassen erhobenen "Steuern", von Generalsteuern über Vorteilssteuern bis hin zur Vergabe von Grundstücken, Bauerlaubnis und Krediten mit progressiven Zinsen. Wurden die Schulden nicht rechtzeitig gezahlt, folgte gnadenlos die Strafe, oft in Form der Forderung nach "sexuellen Gefallen", was heisst, dass der Schuldner dem Gläubiger ein weibliches Familienmitglied zur sexuellen Verfügung zu stellen hatte. 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Die Struktur ist klar hierarchisch: Präsident, Vize, Aufseher von Operationen, Sicherheit und Logistik, 16 Sektorzuständige und mindestens 200 "Dienstleute", die die interne Bevölkerung im Zaum hielt, "Gegner" meldete und das COD über alles auf dem Laufenden hielt. Zepeda hielt derweil ein Heer an bewaffneten Bodyguards und genoss soviel Macht, dass selbst sein Sohn Samuel, der auch "im Geschäft" ist, jedoch nicht verurteilt, sich lieber im Pavón aufhält, weil er draussen Morddrohungen erhalten hat. Auch wenn das Pavón mit seinen eigenen Drogenlabors, der Schnapsbrennerei, der im letzten Jahr aufgelösten Autowerkstatt - in der, wie sich herausstellte, gestohlene Fahrzeuge repariert, Chassisnummern und Kennzeichen gefälscht und für neue Verbrechen genutzt wurden -, seiner Funktion als "Call-Center" für Erpressungen ausserhalb und der zahlreichen Verbindungen zwischen COD und draussen agierenden Entführern, Auftragsmördern, Erpressern und Drogenhändlern sicherlich ein wichtiges Operationszentrum des organisierten Verbrechens war, ist die allgemeine Entrüstung, die sich auf den Wohlstand der COD-Köpfe konzentriert, und die katastrophalen Haftumstände der grossen Masse zwar erwähnt, jedoch nicht problematisiert, fragwürdig. Durchaus wird in der Presse erwähnt, dass es die staatseigene Verantwortung sei, der seit mehr als vier Regierungsperioden das Gefängnissystem sich selbst überlassen hat. Sich von Regierungsseite auf einmal aber über die Umstände aufzuregen - wobei die meisten Mitglieder nicht erst unter Berger in den Kongress eingezogen sind, und doch erst vor wenigen Wochen das allererste Gesetz zum Gefängnissystem verabschiedet wurde, das aber immer noch des Segens der Exekutive bedarf, ist genauso scheinheilig, wie die tölpelhafte Selbstdarstellung zweier Möchtegernprotagonisten: Efraín Ríos Montt, inzwischen auf internationaler Ebene des Völkermordes beschuldigt, mahnt angesichts der "Pfau-OP", es müssten doch bitteschön die Menschenrechte der Inhaftierten respektiert werden und Otto Pérez Molina, Ex-General, der als Präsidentschaftskandidat der Patriotischen Partei schon seit langem die "harte Hand" gegen alles Übel fordert, kritisiert die Stürmung als politische Show. Tatsächlich liegt es nun an allen Beteiligten, dass die Aktion nicht im Sande verläuft, soll heissen, es darf nicht bei der Kontrollübernahme des einen Gefängnisses bleiben, aber auch nicht bei dem Aufrechterhalten des gesellschaftlich verbreiteten Stigmas gegenüber Häftlingen, diese seien einmal kriminell, ergo ihre Leben lang Verbrecher. Es bedarf also einer kompletten Neuorientierung des gesamten Strafsystems, inklusive menschlicher Haftbedingungen, funktionierenden und ernst gemeinten Rehabilitationsangeboten, und darüber hinaus einer Säuberung des Justizsystems von zu Komplizen korrumpierten RichterInnen und Gefängnispersonal, angemessene Gehälter für letzteres und Präventionsmassnahmen sowie Alternativen für diejenigen, die im Verbrechen eine Überlebensstrategie sehen, die für viele gar als die einzige erscheint. Mit Hilfe der bezahlten Arbeitskraft eines Teils der "alten" Pavón-Bewohner und des Ingenieur-Korps des Militärs, soll nach Abriss der nichtbrauchbaren Konstruktionen und Rückgabe des Materials an die Besitzer bzw. Familienangehörigen, ein neues Gefängnis mit neuen Standards errichtet werden - einige der Wohnhäuser, darunter das kanadische Chalet, werden wohl zu Werkstätten umfunktioniert. Nur von wenigen wurde ein wesentlicher Umstand in Frage gestellt: drei Tage vor der Operation beschloss der Kongress - ähnlich wie wenige Wochen zuvor im Departement San Marcos - für das Munizip Fraijanes, Departement Guatemala, in dem das Gefängnis liegt, für acht Tage den Präventionszustand und somit erneut die Aufhebung grundlegender Bürgerrechte wie Versammlungs- und Bewegungsfreiheit sowie das Tragen von Waffen. Auch wenn diese Form des Ausnahmezustands schon nach zwei Tagen wieder aufgehoben wurde, und selbst das Menschenrechtsprokurat (PDH) trotz seiner Zweifel an der Rechtmässigkeit der gesamten Aktion aufgrund der Tatsache, dass seine Anwesenheit nicht in Betracht gezogen worden war, die Operation an sich begrüsste, waren doch alle BewohnerInnen und PassantInnen im Munizip betroffen. Der Sturm und Einsatz des Militärs waren jedoch auf das Innere der Gefängnismauern, ca. 4,2 ha, beschränkt. Besorgnis erregt, dass die Regierung offenbar nur unter besonderen Umständen und unter Zurücksetzung von allgemeinen Rechten, in Aktion tritt und sich traut für "Recht und Ordnung" zu sorgen. Und, dass sie anscheinend eher zur Rechtsaufhebung greift und sich somit gewisse Freiheiten sichert, als sich hinterher vorwerfen zu lassen, Grund- und Menschenrechte verletzt zu haben. |
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