Guatemaltekische Wahlspekulationen
Fijáte 364 vom 19. Juli 2006, Artikel 1, Seite 1
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Guatemaltekische Wahlspekulationen
In verschiedenen Ländern Lateinamerikas fanden (oder finden) dieses Jahr Wahlen statt. Obwohl Guatemala erst im September 2007 an die Reihe kommt, ist das Thema bereits omnipräsent. Sei es, weil aktuelle politische Themen wie z.B. die Unsicherheit/Gewalt mit wahlpolitischen Absichten ausgeschlachtet werden, sei es, weil der Wahlsieg von Evo Morales in Bolivien die Spekulationen auf eine indigene Präsident(innen)schaft in Guatemala weckten, oder sei es, weil die ersten Regierungsmitglieder von ihren Ämtern zurücktreten, um sich ihrer politischen Karriere zu widmen - es besteht kein Zweifel mehr: Guatemala befindet sich im Wahlkampf. Eigentlich ist es noch zu früh, um im ¡Fijáte! ernsthaft mit der Berichterstattung über die Wahlkampagne zu beginnen. Trotzdem möchten wir in dem Zusammenhang zwei Tendenzen aufnehmen, die uns für die kommenden Wahl-Diskussionen (aber auch ganz allgemein) interessant erscheinen: Die Frage um die indigene Partizipation und die Gründung einer indigenen Partei und das Erstarken einer (nebst der Republikanischen Front Guatemalas - FRG) zweiten Partei, die verspricht, mit Hilfe der "Politik der starken Hand" der Gewalt ein Ende zu setzten. Grundlage für den Artikel sind verschiedene Zeitungsmeldungen aus Guatemala und ein Artikel aus Inforpress Centroamericana Nr. 1663. Eine Partei der Indígenas: Der richtige Zeitpunkt?Am 20. Juni veröffentlichte die Tageszeitung Prensa Libre die Ergebnisse einer Meinungsumfrage über die Akzeptanz eines oder einer indigenen Präsidenten/-in: Sieben von zehn GuatemaltekInnen (71%) sehen dies als eine durchaus gangbare Möglichkeit, was in den Medien umgehend eine polemische Diskussion über die Gründung einer von Rigoberta Menchú angeführten indigenen Partei auslöste. Menchú, Friedensnobelpreisträgerin von 1992 und aktuell Botschafterin des guten Willens der Regierung Berger, erklärte gegenüber der Presse, sie sei "absolut bereit, eine Partei anzuführen, denn es fehle an einem politischen Instrument, das den Indígenas zur Macht verhilft". Die Umsetzung eines solchen politischen Projekts ist jedoch erst auf die Wahlen von 2011 realistisch, da die Frist zum Einschreiben neuer Parteien für die Wahlen 2007 Ende Mai abgelaufen ist. Vilma Sánchez von der politischen Maya-Frauenorganisation Moloj teilt die Meinung Menchús. Die Indígenas im Allgemeinen hätten, obwohl sie die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, keine adäquate Vertretung auf politischer Ebene, Frauen im Speziellen verfügten eh über keine politische Stimme im gegebenen institutionellen Rahmen: "Es gibt in Guatemala 18 politische Parteien, alle haben Ladino-Männer als Generalsekretäre. Von den 158 Kongressabgeordneten sind bloss 12 Indígenas", erklärt Sánchez. In den Medien wird die Möglichkeit einer Indigenen Partei als eine Neuheit präsentiert, doch gab es bereits vor 30 Jahren eine solche Initiative. Im Jahr 1974 wurde die Partei Patinamit gegründet, um die Kanditatur von Fernando Tetzhauic Tohon zu unterstützen, und zwei Jahre später gründete sich die Frente de Integración Nacional (FIN). In den 70er-Jahren, in denen Rassismus und Gewalt Hand in Hand gingen, wurden jedoch viele Menschen, die solche indigenen Initiativen unterstützten, ermordet. Und heute? Haben solche Projekte zehn Jahre nach der Unterzeichnung der Friedensabkommen eine Chance? "Wir sind schon seit längerem bereit für die Gründung einer indigenen Partei, doch wurden uns formale Hindernisse in den Weg gestellt. Und ausserdem fehlte es uns an finanziellen Mitteln", erklärt Vilma Sánchez. Nicht ganz derselben Meinung ist Rigoberto Quemé Chay, ehemaliger indigener Bürgermeister von Quetzaltenango. Er sieht Schwierigkeiten bei der Gründung einer Partei, deren einzige Gemeinsamkeit die ethnische ist. Allein schon die sozioökonomische Realität der Mayas sei sehr unterschiedlich und heterogen, was sich auch auf ideologische Unterschiedlichkeiten ausdehne. Quemé Chay setzt denn auch mehr auf eine pluralistische Partei, wo sich kulturelle und wirtschaftliche Unterschiede ergänzen. Dies brachte ihn zur Entscheidung, im nächsten Dezember an den internen Wahlen der aktuellen Regierungspartei GANA teilzunehmen. Quemé Chay, der bisher keine Parteierfahrungen hat, kandidierte er doch damals für ein BürgerInnenkomitee, ist von der Parteileitung der GANA eingeladen worden und sieht in dieser Einladung eine Öffnung der Spielräume für indigene Interessen. Er sei sich der möglichen Gefahren bewusst und rechne damit, dass er der Kooption beschuldigt werde, doch glaube er, dass man nur aus dem Innern eines Systems heraus Veränderungen bewirken kann, erklärte er gegenüber Inforpress. Während der CONIC-Vertreter Rodolfo Pocop genau vor der von Quemé Chay erwähnten Vereinnahmung warnt, sieht der Politologe Carlos Mendoza allein in der Tatsache, dass die GANA die Möglichkeit eines indigenen Kandidaten in Betracht zieht, eine Mentalitätsveränderung und eine vermehrte Akzeptanz der indigenen Bevölkerung als politische Akteurin. Über die Notwendigkeit, Identitäten zu definierenAuch wenn noch keine konkreten Vorschläge vorliegen, hat allein die Möglichkeit, dass eine indigenen Partei an den Wahlen von 2011 teilnehmen könnte, alle Arten von Spekulationen geweckt. Zentral in den Diskussionen ist die Frage, ob das Ergebnis der Gründung einer indigenen Partei zu einer Segregation führe, die jegliche Diskussion darüber verhindere, in welcher Weise die Maya-Kosmovision die guatemaltekische Demokratie bereichern könne. In konservativen Kreisen wird allein die Möglichkeit einer solchen Initiative als ausschliessend und "umgekehrter Rassismus" verurteilt. So hiess es z.B., eine solche Partei würde "unter Erbsünde geboren werden", denn sie hätte das Ziel, einerseits den existierenden Rassismus zu bekämpfen und wäre anderseits diskriminierend gegenüber allen Nicht-Indígenas. Aber nicht nur die Konservativen sind gegen eine indigene Partei. Der Maya-Politologe Alvaro Pop spricht sich auch gegen eine Partei aus, die einzig auf der Maya-Identität beruht: "Leider wird immer noch davon ausgegangen, die Maya müssten sich in einer Partei zusammenschliessen, weil sie ausgegrenzt werden. Dies zu tun, würde die Logik der Segregation reproduzieren und weiterführen." Vilma Sánchez hingegen sieht genau in der Abgrenzung die Herausforderung: Die mächtigen (Ladino-)Politeliten seien nicht bereit, Macht abzugeben, deshalb müssten die Mayas das ihnen per Verfassung zugestandene Recht ergreifen und sich in einer Partei zusammenschliessen. Nach oben |
Der Analytiker Edgar Gutiérrez kann der Gründung einer indigenen Partei durchaus einen "Nutzen für die Demokratie" abgewinnen, weist aber darauf hin, dass eine auf Ethnizität begründete Partei der marxistischen Ideologie des Klassenkampfes widerspreche. Man sei mit einer Herausforderung konfrontiert, mit der sich in der heutigen Zeit niemand gerne auseinandersetzt: Der Definition der eigenen Identität. "Die Linke scheiterte bei der Integration der ethnischen in die Klassenfrage. Man kann weder sagen, alle Indígenas sind BäuerInnen, also arm, noch kann man sagen, alle Armen sind Indígenas. Wenn wir die Geschichte analysieren, ist es durchaus verständlich, dass die Indígenas sich kulturell abgrenzen mussten, obwohl sie als Volksgruppen die Gesellschaft vertikal (Klasse), horizontal (Ideologie) und sogar territorial durchzogen", erklärt Gutiérrez. Der Herausforderung, über parteipolitische Grenzen hinweg eine gemeinsame Position als Indígenas zu definieren, standen die indigenen Regierungsmitglieder im April gegenüber, als sie von den in Sachen Landfrage demonstrierenden BäuerInnenorganisationen aufgefordert wurden, sich mit ihnen zu solidarisieren und aus der Regierung zurückzutreten. "Ich fühle mich den protestierenden BäuerInnen gegenüber verpflichtet und bin bereit, im Falle eines Scheiterns des Dialogs von meinem Posten zurückzutreten", erklärte damals die Leiterin des Nationalen Entschädigungsprogramms für die Opfer des Krieges, Rosalina Tuyuc. Norma Quixtán, Leiterin des Friedenssekretariats, vertrat hingegen die Meinung, die indigenen Regierungsmitglieder könnten die Rolle von VermittlerInnen übernehmen und entschied sich, sich von "innen heraus" für die indigenen und bäuerlichen Anliegen einzusetzen und das Bild einer "integrativen" Regierung zu stärken. Mit eiserner HandEnde Mai trat der Kongressabgeordnete der Patriotischen Partei (PP), Otto Pérez Molina von seinem Amt zurück, nachdem ihn seine Partei als ihren Präsidentschaftskandidaten für 07 nominiert hatte. Seither führt er eine Kampagne, die ihm zwar bereits Scherereien mit der Wahlbehörde einbrachte, aber offenbar bei der Bevölkerung ankommt: eine Meinungsumfrage der Tageszeitung elPeriódico platziert ihn nach Alvaro Colóm auf dem zweiten Platz der Rangliste möglicher zukünftiger Präsidenten. Das Erfolgsrezept von Ex-General Pérez Molina heisst, mit eiserner Hand gegen Gewalt vorzugehen, die Methode, mit der in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts schon Diktatur-General Jorge Úbico versprach, das Land aus dem Chaos und der Unregierbarkeit herauszuholen. Damit macht sich Pérez Molína ein Thema zunutze, das im Moment die ganze Bevölkerung beschäftigt: Die Gewalt, die zunehmenden Morde, deren Ursachen vom "einfachen" Raub eines Mobiltelefons bis zu politischen Meinungsverschiedenheiten reichen. Die allgemeine Verunsicherung und die offensichtliche Unfähigkeit der aktuellen Regierung, das Problem Gewalt wirksam anzugehen, fördern ein Klima, in dem man gerne bereit ist, das Schicksal des Landes in "eiserne Hände" zu legen und sich einem militärisch-autoritären Regime unterordnet. Dass solche "eiserne Hand"- oder "Nulltoleranz"- Methoden vor ein paar Jahrzehnten dazu dienten, als staatsfeindlich deklarierte Menschen ohne Gerichtsurteil und ohne das Recht auf Verteidigung verschwinden zu lassen, ist offenbar im Gedächtnis vieler Menschen nicht mehr präsent. Der Diskurs mit den "Anderen" (damals waren es die "KommunistInnen", heute sind es die maras und die Drogenhändler) funktioniert bestens. Ein ähnliches Phänomen war bereits in den letzten Wahlgängen mit der Kandidatur von Ríos Montt bzw. seiner Partei der FRG zu beobachten, die eine ähnliche Flagge schwang und vor allem in Regionen, die während des Krieges unter Repression und Verfolgung litten, einen beträchtlichen Stimmenanteil holte. Zum Glück gibt es auch andere Stimmen, die davor warnen, das Problem der Gewalt mit Gewalt anzugehen. Marco Antonio Barahona, Berater vom Studienzentrum ASIES, meint zum Beispiel, es brauche nicht einen starken Mann in Militäruniform, sondern eine gemeinsame Zukunftsvision, konkrete (wirtschafts-)politische Aktionen, soziale Reformen und Ressourcen, um Guatemala voranzubringen. Diese Meinung wird von vielen unabhängigen AnalystInnen geteilt. Direkt angegriffen wurde Pérez Molina auch vom Direktoren des Gefängniswesen, Alejando Giammettei, der sagte: "Diese Wölfe im Schafspelz, die von sich glauben, die Gurus der Sicherheit zu sein und der Öffentlichkeit versprechen, mit harter Hand durchzugreifen, sind in Wirklichkeit diejenigen, die hinter den Aufständen und Aggressionen der mareros in den Gefängnissen stecken". Auf wen er damit anspielte, war allen klar. In Anbetracht der Tatsache, dass bereits 18 Monate vor den Wahlen in Guatemala die politisch motivierten Morde zunehmen, muss befürchtet werden, dass das Thema "Gewalt" ein wichtiges Thema und ein entscheidender Faktor sein wird im Wahlkampf. |
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