Eine Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit ihren Kindern umgeht
Fijáte 367 vom 30. August 2006, Artikel 1, Seite 1
Original-PDF 367 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 --- Nächstes Fijáte
Eine Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit ihren Kindern umgeht
(Eduardo Galeano) "Es ist nicht mehr wie früher..." - wer hat diesen Satz nicht schon gehört, meist aus dem Mund von Erwachsenen, wenn sie über die "heutige Jugend" sprechen, deren Verhalten oder deren vermeintliches politisches Desinteresse sie nicht verstehen oder nachvollziehen können oder wollen. Dieser Satz ist dann verständlich, wenn die Person, die ihn ausspricht, von einer Jugend ausgeht, wie sie uns die Massenmedien verkaufen wollen: Eine Jugend, die nur an Mode und Musik denkt, die sich in Einkaufszentren oder teuren Bars vergnügt und für die Konsum das höchste aller Glücksgefühle ist. Oder aber, der oder die Sprecherin sieht in der Jugend einzig eine verletzbare Gruppe die es zu beschützen und zu integrieren gilt - wie die oft die Ansicht von politischen oder sozialen Sektoren ist. Doch die Mehrheit der guatemaltekischen Jugend entspricht nicht diesem Bild. Zwar ist sie - wie überall - das Zielpublikum von WerbestrategInnen und VermarkterInnen, doch mit geringem Erfolg, sind doch die meisten Jugendlichen in Guatemala mit ihrem täglichen Überleben beschäftigt in einem System, das Jugendliche, Indígenas und Frauen vom politischen Leben ausschliesst. Daneben gibt es sehr wohl politische Jugendorganisationen, die einfordern, dass die Jugend ein wichtiger Faktor für die strukturellen Veränderungen der staatlichen, politischen und sozialen Strukturen ist und deshalb entsprechend an diesen Veränderungen beteiligt werden muss. Will man sich ernsthaft mit der Frage beschäftigen, was die Gründe sind für die relativ schwache politische Partizipation der guatemaltekischen Jugendlichen, muss man bedenken, dass sie die ErbInnen von gewaltsam eingesetzten, autoritär-kolonialen (1523 - 1821), oligarchischen (1821 - 1944) und aufstandsbekämpfenden (1945 - 1996) Staatsstrukturen sind. Und dass die guatemaltekische Politik und Gesellschaft sich in einem Demokratisierungsprozess befindet, der im März 1982 auf dem Fundament autoritärer Strukturen und Institutionen begann und sich im Verlauf der letzten 20 Jahre hin zu partizipativeren Regierungen entwickelt hat. Abgeschlossen ist dieser Prozess aber noch nicht, im Gegenteil, es ist - und dies in den heutigen Friedenszeiten - eine gewisse Ermüdung zu verzeichnen. Ebenfalls muss man sich beim "Es ist nicht mehr wie früher..."-Vergleich bewusst sein, dass die guatemaltekische Jugend der 60er und 70er-Jahre stark geprägt war z.B. von der Anti-Vietnam-Kriegsbewegung oder von der kubanischen Revolution, Ereignisse, die zweifellos zu ihrer politisch-ideologischen Radikalisierung beitrugen und in ein verstärktes politisches Engagement der damaligen Jugend mündeten. Ein weiterer Faktor der die damalige politische Aufbruchstimmung der Jugend beeinflusste war die Tatsache, dass der damalige Wohlfahrtsstaat nicht dermassen zersetzt war wie das heute der Fall ist. Dies hatte zur Folge, dass es mehr Spielraum gab für Jugendliche, sich mit sich selber und ihren AltersgenossInnen auseinander zu setzen. Daraus entstanden jugendliche Subkulturen, die Jugend nahm an vorderster Front teil an den sozialen Mobilisierungen gegen den Autoritarismus und die Ungerechtigkeiten und beim Versuch, die politischen Realitäten zu verändern. Die staatliche Antwort darauf war eine eskalierende institutionelle Gewalt, das Verschliessen sämtlicher demokratischer Spielräume, eine Strategie, die sich auch in der wirtschaftlichen (mehr Armut, Abhängigkeit und Zentralisierung), politischen (Intoleranz, Ausschluss und Traditionalismus), und in der psychosozialen (Angst, Misstrauen und Apathie) Befindlichkeit der guatemaltekischen Gesellschaft niederschlug. Nach oben |
Zweifellos hilft dieser Kontext, die aktuelle Situation zu verstehen, in der sich 42% der guatemaltekischen Bevölkerung, nämlich 2'734'840 junge Menschen, zwischen 18 und 30 Jahren befinden. Heute beschränkt sich die Rolle der Jugend auf einzelne Beteiligungen am politischen Geschehen, nicht nur auf staatlicher, nationaler Ebene, sondern auch in der Gemeindepolitik, in politischen Parteien oder in der politischen Opposition. Oft enden solche Initiativen aber in Frustration und einer gewissen Gleichgültigkeit. Wenn wir dieses Panorama anschauen wird schnell klar, dass es nicht nur eine sofortige Mehrbeteiligung der Jugend am aktuellen Politgeschehen braucht, sondern dass dem ein Organisations- und Bewusstseinsprozess vorausgehen muss. Klar ist auch, dass die meisten politischen Parteien für die Jugend nicht attraktiv sind, und dass Politik und politisches Engagement für die heutige Jugend nicht mehr das selbe bedeutet wie für die Jugendlichen der 60er und 70er-Jahre. Heute drückt sie ihre politische Befindlichkeit mehr in spektakulären, künstlerischen Formen aus, z.B. durch die Musik, Tatoos oder Graffitis. Es ist deshalb auch an der Zeit, dass parteipolitische oder soziale Organisationen diese veränderte Realität erkennen und sie, wenn sie sich tatsächlich für die Jugend als die Zukunft dieses Landes interessieren, diese endlich als reale Subjekte eines Veränderungsprozesses wahrnehmen und nicht einfach als "simple Menschen, die eine schwierige Etappe ihres Lebens durchlaufen". Der vorliegende ¡Fijáte! versucht, das Bild der guatemaltekischen Jugend, das oft auf die Beschreibung krimineller Jugendbanden reduziert ist, etwas zu erweitern und ist den obengenannten "realen Subjekten von Veränderungsprozessen" gewidmet. |
Original-PDF 367 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 --- Nächstes Fijáte