Landwirtschaft und Klassische Musik: Das "Gemüseorchester"
Fijáte 367 vom 30. August 2006, Artikel 2, Seite 2
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Landwirtschaft und Klassische Musik: Das "Gemüseorchester"
Während es in der guatemaltekischen Hauptstadt Universitäten, Theater, zahlreiche kleine und grosse Kinos, Sportanlagen, Fitnessstudios, Konzerte, Opern-Aufführungen, Literaturveranstaltungen, einen Zoo, Diskotheken, Kultkneipen und Billiardhallen gibt und für zahlende Eltern ein beachtliches Freizeitangebot für ihre Kinder, darunter Scouts, Ferienkurse, Ballett, Sport und Instrumentalunterricht, ist die "Kultur- und Freizeitversorgung" in ländlichen Gemeinden ausser einem Fussballplatz für gewöhnlich gleich null. Als entsprechend aussergewöhnlich und besonders hebt sich der bereits zur tönenden Realität gewordene Traum eines jungen Mannes hervor, der vor einigen Jahren in der Hauptstadt dem Konzert eines privaten Jugendsinfonieorchesters zuhörte und sich entschloss, ein solches Orchester in seiner knapp 5´000 Seelen-Gemeinde, dem Ort Santa Cruz Balanya, Departement Chimaltenango, auf die Beine zu stellen. Obwohl er weder von "Tuten und Blasen" noch Geigen oder Dirigieren eine Ahnung hatte, folgte er der Antwort des hauptstädtischen Dirigenten auf seine Frage, was er dafür brauche: Geld und Instrumente. Doch den Eltern war nicht zuzumuten, Instrumente auf eigene Rechnung zu kaufen. Also wurde ein Verein gegründet, dessen Mitglieder während einem Jahr die überschüssigen Gewinne aus ihrer landwirtschaftlichen Produktion zur Verfügung stellten. Die Akademie der Schönen Künste war gegründet und zählte bis Ende 2003 fünfzig erfolgreich das Jahr abschliessende Jugendliche zwischen sechs und 30 Jahren, die musikalische Grundlagen erlernt hatten. Mit dem gesammelten Geld zurück zum Dirigenten in der Hauptstadt, wurden die ersten Instrumente gekauft: Violinen, Violas und Violoncelli. Einzelne Instrumente wurden von lokalen Unternehmern gespendet, die von der Initiative gehört und selbst in irgendeiner Form mit klassischer Musik zu tun hatten. "So wie ein neuer Tag voller neuer Hoffnungen und Sehnsüchte beginnt, entstand für uns eine neue Motivation, und ein Hauptziel besteht darin, in unseren Schülerinnen und Schülern das Interesse für die Orchestermusik und eine neue Art des Denkens zu wecken und auf diese Weise unser Dorf zu einem Exempel für die anderen Gemeinden zu machen", beschreibt der Verein in einem Projektantrag seine Vision. Ausser einer kurzen Einführung im Instrumentalunterricht und sporadischer Begleitung in den Orchesterproben durch MusikerInnen des Nationalen Sinfonieorchesters, die sich für ihren Besuch aus der Hauptstadt stets teuer bezahlen liessen, lernen die Jugendlichen das Geigen- und Violoncellospiel vor allem über ein Computerprogramm, mittels dem mit Musikbeispielen, Zeichnungen und schriftlichen Erklärungen beschrieben wird, wie die Instrumente zu handhaben sind. Inzwischen gehören auch zwei FlötistInnen, zwei KlarinettistInnen und ein Trompeter zu dem Jugendsinfonieorchester von Santa Cruz Balanyá, deren Instrumente wurden zum Teil von der Deutschen Botschaft gesponsert. Und immer noch ist der Verkauf von selbst angebautem Gemüse die einzige Einnahmequelle, aus der weitere Instrumente, Noten, Notenständer, Ersatzsaiten und anderes Material finanziert werden kann. An professionellen Musikunterricht ist gar nicht zu denken. Der Spitzname "Gemüse-Orchester" machte schon bald auch in einer Sonntagsbeilage einer Zeitung in der Hauptstadt die Runde und weckte das Interesse von Freiwilligen, diese Initiative durch musikalische Begleitung oder auch Instrumentenspenden zu unterstützen, denn immer noch teilen sich manche der Jugendlichen ein Instrument. Der Initiator, von seiner Ausbildung her Lehrer, hat seine Stelle in der Schule inzwischen verloren, da er ein einziges Mal wegen eines der ersten Konzerte des Orchesters einen halben Tag Unterricht versäumt hatte, wofür die Direktorin kein Verständnis aufbrachte. Nun widmet er sich vormittags dem Ackerbau und übt nachmittags gemeinsam mit den werdenden JungmusikerInnen im Stundentakt und in Kleingruppen die Orchesterstücke ein. Im Moment trainiert er fünf AnfängerInnen intensiv, damit sie bald die Stimme der zweiten Geigen im Orchester übernehmen können. Nach oben |
Da auch für die Familien die Landwirtschaft die eigene Subsistenz darstellt, ist neben dem Schulbesuch die Arbeit auf dem Acker für die Jugendlichen schon immer Alltag. Im Zusammenhang mit dem Orchester gewinnt sowohl die Landwirtschaft aber auch die selbst "verdiente" Musik einen ganz neuen Wert und stärkt die Zusammenarbeit und das gemeinsame Ziel. Gleichzeitig stehen sich beide Momente aber auch im Wege, wird doch auf der einen Seite die Arbeitskraft auf dem Feld benötigt, aber für das Vorankommen des Orchesters ist sowohl die individuelle Vorbereitung als auch das Mitspiel bei den Tuttiproben vonnöten. Und beide Beschäftigungen - von Hausaufgaben ganz zu schweigen - verlangen körperliche und mentale Energie, Konzentration und Zeit - sowie Verständnis, vor allem für das Interesse an der Musik, von Seiten der Familie. Gleichzeitig sind die Wohnhäuser klein und hellhörig, verfügen selten über mehrere Zimmer, so dass das Üben zu Hause oft in der rauchigen Küche oder neben dem tobenden Spiel der Geschwister stattfinden muss. Dennoch sind mit Ausnahme einiger weniger, die ausgestiegen sind, rund 40 Jugendliche aktiv und dem Orchester treu. Die Motivation des Vereins ist ungebrochen, obwohl sich die finanzielle Situation der Gemeinde und somit auch des Jugendsinfonieorchesters vor allem im vergangenen Jahr als schwierig gestaltet hat. In den ersten Monaten des Jahres wurden die Anpflanzungen von ständigen Frosteinbrüchen zerstört, anschliessend verhinderte der anhaltende regenreiche Sommer das Reifen der Kulturen. Zu guter Letzt machte der tropische Sturm Stan Anfang Oktober 2005 alle Hoffnungen zunichte, mit den Gemüseernten weiterhin den professionellen Unterricht und ferner die Anschaffung weiterer Musikinstrumente zur Vervollständigung des Orchesters zu finanzieren. Das Fehlen von Geldern für die Verwaltung desselben sei gar nicht erst erwähnt. Auftritte im Gemeindesalon, aber auch in der Hauptstadt und in Quetzaltenango stellen, wie Konzerte für jedes Orchester, die Höhepunkte im Jahr dar. |
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