Guatemala, 10 Jahre danach... Den Staat neu gründen
Fijáte 370 vom 18. Oktober 2006, Artikel 1, Seite 1
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Guatemala, 10 Jahre danach... Den Staat neu gründen
Am 29. Dezember begeht Guatemala den zehnten Jahrestag der Unterzeichnung des letzten Abkommens über einen festen und dauerhaften Frieden. Die guatemaltekischen Friedensabkommen setzten nicht bloss einen Schlusspunkt unter den internen bewaffneten Konflikt, sondern sie dienten als Referenzrahmen, um die gravierenden und dringenden Probleme des Landes anzugehen. Sie sollten die substantielle Grundlage bilden für einen Frieden, der mehr ist als die blosse Abwesenheit von Krieg, nämlich die Veränderung der Ursachen, die zu diesem Krieg führten. Die Friedensabkommen einzuhalten würde bedeuten, den Staat von Grund auf neu zu gestalten, ihn von einem autoritären und militaristischen Staat in einen einschliessenden, multikulturellen, gerechten, die Menschenrechte achtenden und demokratisch funktionierenden Staat zu transformieren. Dies ist zweifelsohne eine schwierige Aufgabe, denn die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Strukturen widersprechen solchen Visionen. Wir werden in den kommenden Nummern des ¡Fijáte! in unregelmässiger Folge verschiedene Personen aus Guatemala zu Wort kommen lassen, die im Rahmen ihrer Arbeit oder ganz persönlich Bilanz ziehen über die vergangenen 10 Jahre. Den Anfang macht Carlos Gonzales, alias Ricardo Rosales, damaliger Generalsekretär der Guatemaltekischen Arbeiterpartei PGT, einer der vier Guerillaorganisationen, die vor zehn Jahren die Friedensabkommen mitunterzeichnet haben. Das hier abgedruckte Interview erschien Anfang Oktober in der Internetzeitschrift www.revistaweb.org. Frage: Was hat sich in Guatemala seit dem 29. Dezember 1996 verändert? Entsprechen diese Veränderungen und der Rhythmus, in dem sie stattfinden, den Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung? Carlos Gonzales: Es gibt, wenn auch zum Teil nur formell, Fortschritte bei der Umsetzung der Abkommen zu verzeichnen, ebenso wie es Stagnation oder gar Rückschritt gibt. Ein Fortschritt ist, dass es in dem Sinne keinen Staatsterror mehr gibt. Das Konzept von innerer Sicherheit hat sich verändert. Mit wenigen Ausnahmen findet heute keine politische Verfolgung mehr statt, wie das in den Jahren zwischen 1965 und 1985 der Fall war. Negativ ist sicher, dass es keine Kontrolle über die parallelen Kräfte gibt, welche die Staatsmacht völlig kontrollieren. Negativ ist ebenso der existierende Rassismus und Ausschluss sowie die Tatsache, dass die mikroökonomischen Indikatoren in keiner Weise die Situation dieser ausgeschlossenen Bevölkerung verbessert. Ich sehe keine substantiellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Regierungen, die seit 1954 an der Macht waren. Sie treten unterschiedlich auf, aber im Kern entsprechen sie demselben politischen Konzept, das je länger desto mehr fremdbestimmt wird. Ein Ziel der Friedensabkommen war die Erhöhung der Steuereinnahmen - doch wir sind weit von den festgelegten 12% entfernt. Ausserdem sprach man von progressiven Steuern: Wer mehr hat, soll mehr bezahlen. Im Moment werden aber die ökonomisch starken Sektoren begünstigt, die durch Steuervermeidung ihre Einkünfte erhöhen. Daneben haben wir einen Staat, der nicht in der Lage ist, eine Sozialpolitik zu entwickeln, die dazu betragen würde, die Kaufkraft der Bevölkerung zu erhöhen und somit die Industrie, das Handwerk oder den Dienstleistungssektor anzutreiben. Die guatemaltekische Kaufkraft beschränkt sich auf einen kleinen, urbanen Markt und die UnternehmerInnen scheuen sich, Initiativen oder Risiken einzugehen, um diesen Markt zu erweitern. Das war damals der grosse Erfolg der Agrarreform der Oktoberrevolution: Innerhalb eines Jahres entwickelten sich die Gebiete, wo Land an die BäuerInnen verteilt wurde, spürbar. Man hatte das Gefühl, dass man in Guatemala etwas verändern könnte. Heute ist das Gegenteil der Fall. Man fördert die Investition in Luxusgüter, es wird künstlich eine urbane Nachfrage und Käuferschaft kreiert - kurz, in Guatemala lebt man von Illusionen. Frage: Sie bezeichnen den Unternehmenssektor als konservativ und werfen ihm Mangel an Initiative vor. Hat sich diese Mentalität seit der Unterzeichnung der Friedensabkommen verstärkt? C.G.: Es gibt in Guatemala keinE UnternehmerIn, der/die nicht von Wachstum sprechen würde. Aber zwischen Wachstum und Entwicklung ist eine grosse Kluft, die es durch eine Sozialpolitik zu überwinden gilt und nicht, indem man die starken Sektoren noch mehr privilegiert. Es gibt Geschäftsleute, die für eine Öffnung bereit sind, doch die Unternehmensspitze lässt dies nicht zu. Die internen Strukturen des Unternehmertums sind dermassen rigide, dass ich nicht glaube, dass es zum momentanen Zeitpunkt möglich wäre, ein Wirtschaftssystem aufzubauen, das mit einer neuen Vision das Land von der Basis her entwickeln könnte. Frage: Die Friedensabkommen schufen - schaffen theoretisch immer noch - Grundlagen für Entwicklung und lockten die internationale Gemeinschaft und viel Geld an. Weshalb konnte daraus nicht mehr Nutzen gezogen werden? C.G.: Die Friedensabkommen verkamen zu einem Propagandawerkzeug. Es besteht keinerlei politischer Wille für ihre Umsetzung. Ein grosser Fehler war auch die Unterteilung in quantitativ und qualitativ. Das war wirklich eine ausgeklügelte Idee: Heute rühmt man sich damit, dass soundsoviele Abkommen umgesetzt wurden. Dabei handelt es sich aber um die quantitativen Abkommen, bei den Qualitativen läuft jedoch nichts. Es gibt nicht ein einziges Abkommen, in dem nicht der Begriff "integral" vorkommt. Von Integralität sprechen zwar alle, aber umgesetzt wird sie nicht. Man macht konzeptlos hier ein bisschen und dort ein bisschen, womit man dem Friedensprozess keinen Dienst leistet. Frage: Welche Verantwortung haben die linken Parteien und die sozialen Bewegungen bei der Nicht-Umsetzung der Friedensabkommen? Was ist die Rolle einer Volksbewegung über die formale Unterzeichnung der Abkommen hinaus? C.G.: Das Hauptproblem liegt darin, dass den sozialen Kompetenzen der Abkommen nie die Stärke verliehen wurde, um die Abkommen zu einem Instrument des Friedens(-aufbaus) nutzbar zu machen. Ich spreche jetzt von der URNG, die als Mitunterzeichnende und später als politische Partei prädestiniert gewesen wäre, eine soziale Bewegung der Veränderung anzuführen. Leider hat sie diese Rolle nicht übernommen. Die soziale Bewegung in Guatemala ist sehr breit, hat diverse Ausdrucksformen, was sicher positiv ist. Doch es fehlt ihr an einem gemeinsamen, vertrauenswürdigen politischen Referenzrahmen. Dies hat zu einer Verzettelung geführt. Die Indígenas schreiben sich das Abkommen über die Identität und Rechte der indigenen Völker auf die Fahne, die MenschenrechtlerInnen dasjenige über die Menschenrechte, etc. Die Abkommen werden als je separat wahrgenommen. Auch hier fehlt es eindeutig an Integralität. Nach oben |
Frage: Im Jahr 2005 wurde endlich das Rahmengesetz unterzeichnet, das die Friedensabkommen zu einer Staatsangelegenheit machte und den Nationalen Rat für die Umsetzung der Friedensabkommen (CNAP) ins Leben rief. Gibt dies den Friedensabkommen neuen Impuls? C.G.: Ich denke, das war eine rein formale Angelegenheit, einer dieser quantitativen Schachzüge, der problemlos gemacht werden konnte, weil die URNG kein Gegenüber ist, das in der Lage wäre, für den Aufbau eines wirklichen Friedens zu kämpfen. Über die Abkommen zu sprechen ist eine Routineangelegenheit geworden, man bezieht sich auf sie, wenn es nötig ist: Die einen ein bisschen häufiger, die anderen etwas weniger. Die Abkommen sind zu einem Teil der Geschichte geworden, aber ohne dass man sich ihnen wirklich verpflichtet fühlte. Frage: Diese zehn Jahre der Nicht-Umsetzung haben zu Enttäuschungen geführt, vor allem wenn wir die damaligen Hoffnungen mit dem real Erreichten vergleichen. Drei Regierungen zogen seit der Unterzeichnung der Friedensabkommen durchs Land, nächstes Jahr wird eine neue gewählt, die voraussichtlich auch keine Antworten auf die sozialen Probleme Guatemalas hat. Sind die Friedensabkommen tatsächlich noch wichtig auf der nationalen Agenda und bilden sie ein nützliches Instrument, um soziale Veränderungen zu erreichen? C.G.: Davon bin ich absolut überzeugt. Wichtig ist dabei aber, dass man bei der Anwendung und Umsetzung dieser Abkommen auch die Entwicklungen mit einbezieht, die sich seit 1996 ergeben haben, zum Beispiel das Problem der Korruption. Ich will damit nicht sagen, dass es vor 1996 keine Korruption gegeben hätte, aber seither ist sie angewachsen. Andere Themen sind das organisierte Verbrechen, der Drogenhandel, die Alltagsgewalt, die parallelen Strukturen, welche die Institutionen schwächen und den Staat unterwandern. Jetzt geht es darum, eine nationale und soziale Plattform zu erarbeiten, die die Veränderungen seit 1996 mit einbezieht. Die Friedensabkommen sind dafür eine Basis, aber der ganze Prozess muss als etwas Integrales und Eigenständiges angesehen werden. Es geht darum, die Republik neu zu gründen, den Staat neu zu gründen, das Land und die guatemaltekische Nation neu zu gründen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Guatemala eine multiethnische, mehrsprachige und kulturell vielfältige Nation ist. Frage: Diese Neugründung bedeutet eine tief greifende Verfassungsreform. Ginge das nicht viel weiter als die Friedensabkommen? C.G.: Das wäre eigentlich in den Friedensabkommen alles vorhanden, sie sehen Verfassungsänderungen vor, die einfach nie durchgesetzt wurden, weil sich die Regierung und die politischen Parteien dagegen gestellt haben. Klar geht es nicht darum, die Abkommen so wie sie damals unterzeichnet wurden, wortwörtlich umzusetzen, sondern die Probleme und Widersprüche, die in den vergangenen zehn Jahren aufgetaucht sind, müssen bei einer heutigen Umsetzung der Abkommen selbstverständlich berücksichtigt werden. Der Staat steht heute kurz vor dem Kollaps. Seine Institutionen sind weder handlungsfähig noch effizient. Der Staat muss von Grund auf neu aufgebaut werden und es muss ein neuer institutioneller Rahmen geschaffen werden. Geschieht dies nicht, sehe ich durchaus die Gefahr, dass es zu einem sozialen Aufstand kommt. Frage: Mit welcher Strategie muss heute an den Friedensaufbau herangegangen werden? C.G.: Organisation, Bewusstseinsarbeit, Mobilisierung und Kampf, das sind die wichtigsten Komponenten einer solchen Strategie. Die sozialen Sektoren, die BäuerInnen, die Gewerkschaften, die indigenen Völker müssen sich die Friedensabkommen zu eigen machen und sie in eine Plattform umwandeln, die als Grundlage für soziale nationale Veränderungen dienen kann. Es braucht neue Akteure, neue Köpfe, neue Ideen und vor allem eine breitere Unterstützung für Visionen, die über den Konsumrausch und die Freihandelsabkommen hinausgehen. Es müssen Konzepte entwickelt werden, um die Probleme anzugehen, die in den Strukturen Guatemalas verankert sind. Es gibt legitime und wertvolle Alternativen, die versuchen, an den Fundamenten der Ausbeutung, der Unterdrückung, der Diskriminierung, des Ausschlusses, der Privilegien, der Korruption und des Wahlverhaltens, mit dem in diesem Land alle vier Jahre nichts verändert wird, rütteln. Da ist es, wo wir ansetzen müssen. |
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