Sehen und spüren, um zu glauben
Fijáte 310 vom 19. Mai 2004, Artikel 9, Seite 6
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Sehen und spüren, um zu glauben
Seit 2000 mussten vier ,,demokratisch" gewählte Präsidenten in der Region Lateinamerika vor Ende ihrer offiziellen Amtszeit ihr Mandat aufgrund mangelnder Unterstützung durch die Bevölkerung niederlegen. Diese Tatsache lässt im ersten Moment verwundern. Doch eine kürzlich in Lima, Peru, veröffentlichte Studie mit dem Titel ,,Die Demokratie in Lateinamerika: In Richtung einer Demokratie für Bürgerinnen und Bürger", die vom UN-Entwicklungsprogramm PNUD durchgeführt wurde, setzt die Realität in den regionalen und somit politisch-historischen Kontext. Der Report findet sich im Internet unter ,,http://www.undp.org/ democracy_report_latin_america/". Dania M. Rodríguez Martínez hat ihn am 7. Mai für Incidencia Democrática kommentiert: Die interessanten Daten, die der Bericht enthüllt, sind nicht völlig überraschend, vielmehr bestätigt sich das, über das wir bereits wiederholt nachgedacht haben: Auch wenn Wechsel in den Institutionen stattfinden, Gesetze für eine breitere Beteiligung der Gesellschaft am politischen Leben erlassen werden, Konventionen, Abkommen ratifiziert, Vereinbarungen unterschrieben und Zeichen des guten Willens gesetzt werden, verändert sich doch nichts, solange sich diese Veränderungen nicht letztendlich auch im alltäglichen Leben der Bevölkerung widerspiegeln. Stattdessen bleiben deren Lebensbedingungen gleich, oder schlimmer noch, sie werden jedes Mal noch elendiger. All die angeblichen Veränderungen verbleiben als Schlagzeile in den Nachrichten oder auch Teil der wohlklingenden Fortschritts- bzw. Regierungserfolgsdiskurse der PolitikerInnen und FunktionärInnen. Die PNUD-Studie weist darauf hin, dass in den Ländern Lateinamerikas, die in die Untersuchung mit einbezogen wurden, zwar durchaus grundlegende Voraussetzungen eines demokratischen Regimes erfüllt sind. Gleichzeitig sieht sich die Bevölkerung konfrontiert mit hohen Ausprägungen von Armut und Ungleichheit sowie starken Spannungen zwischen der Expansion der Demokratie und der Wirtschaft auf der Suche nach Gleichheit und der Überwindung der Armut. Auf der anderen Seite führt der Report die wichtigen erreichten Fortschritte in den Ländern hinsichtlich der Gesetzgebung an, der Funktionsfähigkeit des Wahlsystems, dem Schutz gegen die Diskriminierung, Arbeitsrechte, Rechte der Frauen, der Kinder, Ratifizierungen von internationalen Konventionen. Doch, wie eingangs erwähnt und wie in dem Bericht ebenfalls deutlich gemacht, besteht eine offensichtliche Diskrepanz zwischen den Praktiken der Staaten und den Realitäten in den Gesellschaften. Ein Beispiel dafür ist, dass eine gesetzliche Bestimmung gegen Diskriminierung noch lange nicht das Verschwinden dieses Phänomens garantiert, wenn das Gesetz nicht begleitet wird von anderen, weiterreichenden Politikansätzen und Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen. Ebensolches geschieht mit den Rechten für arbeitende Kinder, die weiterhin unter Risikobedingungen tätig sind, trotz der Ratifikation internationaler Konventionen und der Annahme neuer Gesetze, die angeblich zum Schutz der Betroffenen erarbeitet wurden. Auch ist in dem Bericht davon die Rede, dass die Verletzungen des Rechts auf Leben, auf physische Integrität und Sicherheit in lateinamerikanischen Ländern in keinster Weise abgenommen habe, auch wenn sie inzwischen weniger von Seiten des Staates als von parastaatlichen Kräften begangen würden, während der Staat selbst nicht in der Lage sei, diese zu kontrollieren. Bestes Beispiel: Guatemala. Ein guter Teil der im Rahmen der PNUD-Studie Interviewten würde auf die Demokratie verzichten, wenn eine autoritäre Regierung ihre wirtschaftlichen Probleme lösen könnte. Nach oben |
Und gerade die Notwendigkeit, die Bedürfnisse zum Überleben zu befriedigen, spielt in den armen Familien verständlicherweise eine herausragende Rolle. Damit übereinstimmend äusserten sich laut der Untersuchung diejenigen als ,,nichtdemokratisch", die eine niedrigere Bildung und weniger Optionen haben, ihren Anspruch auf ein würdiges Leben zu erfüllen. Eben diese Menschen sind es auch, die das stärkste Misstrauen in demokratische Institutionen, die Parteien und die PolitikerInnen zur Sprache bringen. Betrachtet man die Wahrnehmung der Bevölkerung gegenüber der Demokratie proportional, so ist festzustellen, dass deren Glaubwürdigkeit im Laufe der Jahre sinkt und, ohne Zweifel, je mehr die ökonomischen und sozialen Probleme sich verschärfen. Noch 1996 zogen 61% der Befragten die Demokratie jedem anderen Regime vor, 2002 sank ihr Anteil auf 57%. Zieht man einen Vergleich in Bezug auf die Wahrnehmung der guatemaltekischen BürgerInnen hinsichtlich der Friedensverträge, die vor mehr als sieben Jahren in unserem Land unterzeichnet wurden, lautet das Ergebnis gleich: viele Menschen nehmen immer noch keine Veränderungen wahr oder sehen noch keinen sich widerspiegelnden Nutzen dieses Friedens, der diesen mit sich bringen sollte und der deswegen noch viele VerleumderInnen findet. Für viele war die Ablehnung der Verfassungsreformen 1999 eine Überraschung, genauso wie das Misstrauen vieler GuatemaltekInnen gegenüber den Friedensverträgen und was aus diesen folgt. Die Verträge haben für einen Grossteil der Bevölkerung des Landes noch keine Bedeutung. Die Tausenden von Publikationen, die über die Friedensverträge erstellt wurden, sind zweifelsohne gut aufbewahrt in Kisten und Schubladen vieler Nichtregierungsorganisationen - potentiell, um verloren zu gehen, ohne dass ihr wahrer Wert sich in der Gesellschaft niederschlagen könnte. Wenn die Bevölkerung sich wirklich der wahren Bedeutung dessen ermächtigt, was heisst, in einer Demokratie zu leben und die Stimme gemeinsam zu erheben, damit diese sich erfüllt - was nicht nur beinhaltet, jedes Mal am Wahlprozess teilzunehmen dann sähe die Geschichte unseres Lateinamerikas ganz sicher anders aus, das derweil noch verfolgt und bedrängt wird von jenen, die nicht mehr als persönliche Triumphgelegenheiten in einem Volk ohne Bildung sehen, geschwächt von so vielen PolitikerInnen, die heute vor allem aufgrund ihrer erschreckenden Praktiken denn wegen tatsächlichen, von ihnen in die Wege geleiteten Veränderungen, die allen zu Gute kommen, auf sich aufmerksam machen. Solange die Demokratie und in unserem Fall auch die Friedensverträge sich nicht in wesentliche Veränderungen für die Bevölkerung übersetzen, werden sie allein als eine Zusammenstellung von Wörtern betrachtet werden, ohne Bedeutung und ohne Nutzen. |
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