Guatemala 2008, unter den sieben Plagen
Fijáte 425 vom 17. Dezember 2008, Artikel 1, Seite 1
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Guatemala 2008, unter den sieben Plagen
Quasi als Wort zum Jahreswechsel und stellvertretend für all die zu erwartenden Analysen und Rückblicke veröffentlichen wir diesen Text von Teófilo Cabestrero, weil er kurz und bündig zusammenfasst, was die Umstände sind, die Guatemala plagen. Teófilo Cabestrero ist Klaretiner-Theologe und hat verschiedene Bücher und Texte zu Guatemala, Nicaragua und Theologie veröffentlicht. Die Klaretiner sind eine Missionsgesellschaft katholischer Priester, zu denen etwa der brasilianische Bischof Pedro Casaldáliga gehört oder auch P. Elias Ruiz, Pfarrer von La Peronia, nahe der Hauptstadt Guatemalas. Der Text wurde am 26. November auf www.alainet.org veröffentlicht. Guatemala besitzt mit seinen 109'000 km² und 13 Millionen BewohnerInnen einen enormen Reichtum an Naturschätzen, Kulturen und Spiritualität. Unter der Erde sind Gold und andere Metalle verborgen. Seine geographische und klimatische Vielfalt drückt sich in Bergen, Ebenen, Wäldern und Urwäldern aus. Es finden sich 19 Ökosysteme, 300 Mikroklimate, die Maya-Biosphäre, 33 Vulkane (fünf davon aktiv). Es werden verschiedenste Landwirtschaftsprodukte kultiviert. 60% der Bevölkerung sind Indígenas, die 21 verschiedenen Ethnien angehören. Ausser dem Spanisch werden 23 Sprachen gesprochen. Doch die ganze Bevölkerung Guatemalas hat im vergehenden Jahr 2008 insgesamt sieben Plagen gelitten. Die Plage der Angst und der Verzweiflung vor der tödlichen und straflosen GewaltStraflosigkeit und Gewalt nehmen zu und wachsen in Zahlen und Grausamkeit: Entführungen, Erpressungen, Überfälle, scheussliche Morde an Personen, Familien, Frauen und Kindern, Lynchjustiz, Rache, wilde Abschlachtereien... So viel und vielfältig sind die kriminellen Mächte (von den Drogenhändlern und dem organisierten Verbrechen über die mafiösen Entführungsbanden bis zu den bezahlten Killern, den Maras oder den Jugendbanden), dass sich Guatemala ein "multikriminelles" Land nennen kann. Niemand kann dem etwas entgegensetzen: Die Regierung ist unfähig, die Polizei oftmals Komplize, die RichterInnen (67 wurden dieses Jahr bedroht), trauen sich nicht und fliehen, andere werden umgebracht. Die Bevölkerung flüchtet sich in die Angst oder in die privaten Sicherheitskräfte und wird unsensibel: "Haben wir Sirup in unseren Venen?", fragt die Tageszeitung elPeriódico in einer Novemberausgabe. Die Tore des Landes stehen sperrangelweit offen für die vielfache kriminelle Gewalt, welche die katholische Bischofskonferenz im Oktober als "schrecklich" und "unerträglich" bezeichnete: Von Januar bis September 2008 wurden 4'000 Menschen umgebracht (15 bis 20 pro Tag); 106 Fahrer von öffentlichen Bussen ermordet sowie deren Helfer und Passagiere; fünfzig Jugendliche werden monatlich Opfer der "sozialen Säuberung" etc. etc. Die Plage der Armut und der chronischen Unterernährung; die extreme Ungleichheit und die Nahrungsmittel-Unsicherheit60% der GuatemaltekInnen leben in Armut, 20% in extremer Armut. Dies sind 700'000 Personen mehr als letztes Jahr und 500'000, die von der Armut in die extreme Armut fielen. 50% der Kinder leiden unter chronischer Unterernährung, unter den indigenen Kindern sind es 70%. 6´150 Gemeinden leiden in unterschiedlichem Ausmass unter der Unterernährung, 332 sind in grosser Gefahr. Guatemala ist das Land Lateinamerikas mit den grössten Ungleichheiten. Die weltweite Wirtschaftskrise und die Verteuerung der Nahrungsmittelpreise, zusammen mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und der Deportation von Hunderttausenden illegalen MigrantInnen aus den Vereinigten Staaten (womit die Geldüberweisungen abnehmen werden), verschlimmern die Armut in Guatemala. Der Grundnahrungskorb kostet heute 2´000 Quetzales, der Mindestlohn beträgt 1´660 Quetzales. Zum Defizit an angemessenen Wohnungen (es fehlen mehr als 1,5 Millionen Unterkünfte, die diesen Namen verdienen) kommt das Defizit an Trinkwasser, an Gesundheit, Bildung und Arbeit. Nach oben |
Die Plage der generalisierten Korruption"Ganz Guatemala ist von der Korruption betroffen", sagt ein Guatemalteke. Sie ist bis in die höchsten Ebenen anzutreffen, mit zwei Ex-Präsidenten, die vor der Justiz geflohen sind, hochrangigen öffentlichen Funktionären, die entweder flüchtig sind, vor Gericht stehen oder im Gefängnis sitzen, und mit einem Kongress, bei dem dieses Jahr 82,8 Mio. Quetzales "verschwunden" sind. Die Korruption pervertiert so wichtige Institutionen wie die Nationale Zivilpolizei (ca. 2´000 Agenten wurden dieses Jahr "gesäubert", im Sinne von "Schwamm drüber und weiter so".) Das Geschwür der Korruption verbreitet seine Metastasen im ganzen sozialen Körper Guatemalas. In unterschiedlichem Ausmass ist die ganze Bevölkerung am Mogeln und praktiziert Vetternwirtschaft. Die Plage der gescheiterten BildungDie Kinder und Jugendlichen machen 40% der Bevölkerung Guatemalas aus. Und trotzdem scheitern Jahr für Jahr die Vorschläge für ein nationales Bildungskonzept, das von der Primarschule bis zur Universität geht. Zurzeit mangelt es an Primarschulen, und der Zugang zur Universität bleibt (wegen der Armut) für viele verschlossen. Die Lehrerschaft steht in einem konstanten Konflikt mit der Regierung und kämpft für bessere Löhne, bessere Ausbildung und Material. Die Plage des RassismusObwohl die Indígenas mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, ist das Zusammenleben und alle anderen Dimensionen des Lebens von zwei negativen historischen Charakteristiken geprägt, die einfach nicht verschwinden: Die Spaltungen innerhalb der indigenen Gruppen und die Diskriminierung und der Rassismus gegen sie als Ganzes, womit das 1996 unterzeichnete Teil-Friedensabkommen über die Identität und Rechte der indigenen Völker verletzt wird. Die Plage des übermässigen BevölkerungswachstumsWegen der Armut und aus kulturellen und religiösen Traditionen wird die sexuelle Aufklärung und die Geburtenkontrolle vernachlässigt. Die armen Familien sind die kinderreichsten. Dazu kommt die "ausserfamiliäre" Fortpflanzung im grossen Stil: 30% der Kinder werden von alleinstehenden Müttern geboren, und die Zahl der jugendlichen Mütter (ab 14 Jahren) nimmt zu. Die Bevölkerung wächst dermassen rapide, dass in 20 Jahren Guatemala seine Bevölkerungszahl auf 25 Mio. verdoppelt haben wird. Und es bestehen keine realen Aussichten, dass die aktuellen Defizite in Sachen Wohnungen, Gesundheit, Bildung und Arbeitsplätze überwunden werden könnten. Deshalb sind es bereits jetzt jährlich 200'000 GuatemaltekInnen, die auf der Suche nach einem besseren Leben in ein anderes Land gehen. Die Plage der Regierungsunfähigkeit der aktuellen RegierungNach dem Ende der Militärdiktaturen hat sich bisher noch keine Regierung als fähig erwiesen, soziale und strukturelle Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu nivellieren, die während 40 Jahren den bewaffneten internen Konflikt schürten. Die aktuelle Regierung enttäuscht - wie ihre Vorgängerregierungen - die Hoffnung der Bevölkerung. Sie hat sich schon als unfähig deklariert, dem Drogenhandel und dem organisierten Verbrechen zu begegnen, und ist nicht einmal in der Lage, die Sicherheit der Bevölkerung zu garantieren. Das einzige, was sie tut, ist, in paternalistischer und populistischer Weise dazu aufzurufen, Nahrungsmittel und Hilfe, "soziale Gerechtigkeit" zu verteilen. Das Schlimmste an diesen Plagen ist, dass sie nicht momentan, sondern permanent sind. Sie kommen von weit her, und es scheint nicht, dass sie in absehbarer Zeit verschwinden würden, im Gegenteil: sie haben in den letzten Jahren zugenommen. |
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