Grossdemonstrationen gegen Mehrwertsteuererhöhung
Fijáte 241 vom 8. Aug. 2001, Artikel 3, Seite 4
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Grossdemonstrationen gegen Mehrwertsteuererhöhung
Guatemala, 3. Aug. Am Donnerstag, 26. Juli nahm die FRG-Mehrheit im Kongress das lang diskutierte Steuerpaket an, dessen umstrittenster Punkt die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 10 auf 12% war. Unterstützt wurde sie bei ihrem unpopulären Entscheid von der Christdemokratischen Partei (DCG) und der Demokratischen Union (UD), während die Partei des Nationalen Fortschritts (PAN) und die Allianz Neue Nation (ANN) dagegen stimmten und den Beizug des Verfassungsgerichtes forderten. Letzte Versuche auf legaler EbeneDamit unterstützten die PAN und die ANN eine Beschwerde des Zentrums für die Verteidigung der Verfassung (CEDECON) beim Verfassungsgericht, der die Gültigkeit sämtlicher vom Kongress seit dem 4. Mai verabschiedeten Gesetze und Erlasse anfechtet. Begründet wird die Beschwerde damit, dass gegen 21 FRG-Abgeordnete und zwei PAN-Abgeordnete immer noch gerichtliche Verfahren wegen Gesetzesfälschung laufen. Die Tatsache, dass sich die Abgeordneten durch Kaution von einer Untersuchungshaft freigekauft hatten, dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie eigentlich von ihrem Amt hätten suspendiert werden müssen. Einen weiteren Rekurs reichten verschiedene Volksorganisationen ein, die sich ebenfalls auf das Grundgesetz beziehen, in dessen Artikel 243 es heisst: "Wer mehr besitzt, soll mehr bezahlen". In Guatemala würden 80% der Bevölkerung in Armut leben und sie seien es, die in erster Linie die Konsequenzen einer Mehrwertsteuererhöhung zu tragen hätten, argumentierte die Gewerkschaftsvertreterin Florencia Castañeda. Für das Verfassungsgericht werden die Entscheide über diese beiden Rekurse zu einer Prüfung seiner Neutralität und seines unabhängigen Arbeitens. Erste ProtesteWährend der ganzen Woche fanden auf der Strasse Protestkundgebungen gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer statt. Die grösste dieser Demonstrationen war auf den 1. August angesetzt, dem Tag, an dem die Mehrwertsteuererhöhung in Kraft trat. Breite Teile der Bevölkerung, darunter StudentInnen, GewerkschafterInnen, HändlerInnen und UnternehmerInnen, Kongressabgeordnete und PolitikerInnen nahmen an den Protesten teil. Die Zahlen der DemonstrationsteilnehmerInnen varieren je nach Quelle zwischen 25'000 und 50'000. Die guatemaltekische Handelskammer und der UnternehmerInnenverband CACIF riefen zu einem Boykott auf, dem die HändlerInnen landesweit nachkamen: Ein Grossteil der Geschäfte blieb geschlossen und auch der Schulunterricht wurde für den Rest der Woche suspendiert. Entsprechend der unterschiedlichen sozialen Schichten, die an den Demonstrationen teilnahmen, und obwohl sie alle "im Namen der Bevölkerung" demonstrierten, waren die Parolen und Forderungen sehr divergierend: Während die Volksorganisationen vor allem die Unpopularität der Massnahme und einen Rückschritt in der Diskussion um die Steuerpolitik kritisierten, lehnten sich UnternehmerInnenkreise vielmehr gegen die Abschaffung ihrer Privilegien auf und darüber, dass Steuerhinterziehung schärfer bestraft werden soll. Von diversen AnalytikerInnen wird dem CACIF unterstellt, nur deshalb so vehement gegen die Mehrwertsteuererhöhung zu protestieren, um damit andere, für sie noch unvorteilhaftere, Steuermassnahmen zu verhindern. "Am Schluss werden sie sich mit der Regierung einigen, denn auch die UnternehmerInnen profitieren von der Erhöhung, fliesst doch ein Teil davon in ihre eigenen Taschen", kritisierte Nery Villatoro in einer Kolumne der Zeitung Siglo XXI. Die Proteste gegen die Mehrwertsteuer beschränkten sich nicht nur auf die Hauptstadt, fast in allen Departements kam es im Verlauf der Woche zu Protesten. Genuesische ZuständeWie von den OrganisatorInnen befürchtet, kam es zu gewalttätigen Übergriffen seitens der Polizei gegen die Demonstrierenden. Landesweit waren rund 16'000 Polizeiangehörige im Einsatz, unterstützt von Spezialeinheiten und dem Militär. Die OrganisatorInnen kritisierten, dass sich viele Zivilpolizisten unter die Demonstrierenden gemischt hatten, um Verhaftungen vorzunehmen. Insgesamt wurden rund 250 Personen verhaftet, es kam zu Verletzungen und Tränengasvergiftungen. In Asunción Mita, Jutiapa, erschossen Polizisten einen Demonstranten. Nach oben |
Zu schweren Zwischenfällen kam es auch in Sololá, Cobán und Totonicapán. Die Reaktion der Polizei: Hartes, gewalttätiges Vorgehen, das verschiedentlich als "an frühere Zeiten erinnernd" kritisiert wurde. In Totonicapán setzten die Demonstrierenden die Gebäude der Finanzverwaltung, des Sozialfonds und eines kommerziellen Radios in Brand. Die Reaktion Präsident Portillos darauf war die Ausrufung des estado de sitio, was soviel bedeutet wie "auf Kriegsfuss stehen" und, ebenso wie der nach dem Ausbruch von 87 Häftlingen ausgerufene estado de alarma, eine Form des Ausnahmezustandes ist, nur dass damit noch ein paar Grundrechte mehr ausser Kraft gesetzt werden. Während dem estado de sitio gilt der Präsident in seiner Qualität als Oberster Befehlshaber der Armee als die höchste Autorität. Zwar fehlte der FRG im Kongress die nötigen Abgeordnetenstimmen, um den Ausnahmezustand zu ratifizieren und es ist ein Rechtsstreit darüber ausgebrochen, ob er nun gilt oder nicht. Derweil die Panzer bereits im Zentrum von Totonicapán stationiert sind... Trotzdem hielten sich weiterhin rund 1000 Personen im Stadtkern von 'Toto' auf und es hiess, aus den umliegenden Gemeinden kämen unterstützende Demonstrationszüge Richtung Zentrum. Die Menschenrechtsbeauftragte der Region, Sonia Arreaga, bezeichnete die Ausrufung des estado de sitio und die Entsendung eines Militärkontingents als gravierende Verletzung der Menschenrechte und der Friedensabkommen. Die guatemaltekische Gesellschaft befände sich in einer Übergangsituation und es sei nicht angebracht, mit Repression auf die Proteste der Bevölkerung zu reagieren, meinte Arreaga. Portillo selber gibt sich in der ganzen Sache unbeugsam. In einer Fernsehansprache vom 2. August gab er bekannt, er sei nicht bereit, auch nur einen Schritt von seiner Position abzuweichen. Mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer erfülle er die Friedensabkommen und den Willen des Volkes. Politische NebengeräuscheDiverse Sektoren verlangen den Rücktritt des Präsidenten. Einer, der Portillo am meisten attackiert, ist der Präsident der Handelskammer, Jorge Briz. Bereits vor einer Woche forderte er Alfonso Portillo zu einer verbalen Debatte heraus, die dieser jedoch ablehnte mit der Begründung, Briz habe politische Ambitionen und solle doch mit anderen zukünftigen Präsidentschaftskandidaten debattieren. Der relativ erfolgreiche, landesweite Streik kann durchaus als Spiegel der Popularität von Briz innerhalb der Bevölkerung gewertet werden. Und die Frage, ob es sich bei Briz' Engagement nicht vielmehr um eine Wahl-Vorkampagne als um die Sorge um die arme Bevölkerung geht, stellt der Kolumnist Gustavo Berganza in der Zeitung El Periódico sicher zu recht. |
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