Psychotisierende Gewalt
Fijáte 432 vom 08. April 2009, Artikel 3, Seite 4
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Psychotisierende Gewalt
Guatemala, 03. April. Es waren in erster Linie die Gerüchte, die am 24. März zum Höhepunkt einer, wie in einigen Medien tituliert, allgemeinen Psychose der Bevölkerung in der Hauptstadt geführt haben. Am Morgen dieses Tages wurden etwa zeitgleich drei Stadtbusse überfallen, bei dem drei Menschen getötet und sechs durch Schüsse verletzt wurden. Kurz darauf wurde ein Polizist bei einem bewaffneten Angriff auf eine Polizeipatrouille verletzt, zwei dafür mutmasslich verantwortliche Täter gefasst. Im Vergleich zu anderen Tagen war diese Nachricht grundsätzlich nicht aussergewöhnlich, sind doch im letzten Jahr insgesamt 137 Busfahrer und 40 Kassierer während der Arbeit erschossen worden, in diesem Jahr sind es bis Anfang April bereits 43 Busfahrer und 11 ayudantes, die auf diese Weise ums Leben gekommen sind. Bislang wurden diese Morde stets in Verbindung gebracht mit den Erpressungen von Schutzgeldern durch die Jugendbanden. Doch der synchronisierte Mord vorletzte Woche scheint ersten Ermittlungen zufolge nicht in diesem Zusammenhang zu stehen. Zur Paralyse der Stadt trug massgeblich die per Radio wie ein Lauffeuer sich verbreitende Nachricht bei, der Präsident werde aufgrund der Eskalation den Ausnahmezustand ausrufen. Offenbar war am Morgen eine Reihe von Busfahrern von Kriminellen genötigt worden, an diesem Tag nicht zu fahren. Dies führte zu einem erheblichen Ausfall des öffentlichen Nahverkehrs, den Presseangaben zufolge rund 90% der städtischen Bevölkerung nutzt, um zur Arbeit zu gelangen. Dabei hat es nicht erst seit Anfang des Jahres bereits vermehrt Busstreiks gegeben, die als Antwort auf die Morde an den Kollegen und als Forderung nach mehr Sicherheit von Seiten der Busfahrer spontan initiiert, oder aber zumindest als Drohung von diesen instrumentalisiert wurden im Streit um die vom Verkehrsministerium geforderte Reduzierung des Tarifes, der durch den Anstieg der Benzinpreise im letzten Jahre angehoben worden war. Das Gerücht über den Ausnahmezustand veranlasste am Dienstag Schulen und Universitäten, den Unterricht frühzeitig abzubrechen und die SchülerInnen und Studierenden nach Hause zu schicken. Auch viele ArbeitgeberInnen schickten ihre Angestellten, die auf den Bustransport angewiesen waren, früh heim, viele Geschäfte schlossen und selbst die informellen Verkaufsstände räumten die Strassen mitten am Tag. Präsident Colom versuchte - den folgenden Kommentaren in Presse und Zivilgesellschaft, aber auch aus der Parteienlandschaft offenbar wenig überzeugend - die Bevölkerung zu beruhigen. Er selbst bezeichnete die konzertierte Panik-Situation als erneuten Versuch von Regierungsgegnern, seine Regierung zu destabilisieren und in die Knie zu zwingen. Dies erinnert an die Gewaltwelle gegen die Busfahrer und ihre Kassierhelfer während der Wahlkampagne 2007, die danach kein Ende fand. Und wieder wird der pensionierte General und Chef der oppositionellen Patriotischen Partei (PP), Otto Pérez Molina, der gegen Colom bei den Präsidentschaftswahlen unterlag, ins Gespräch und indirekt in Verbindung mit den Morden gebracht. Ähnlich wie kurz nach Amtsantritt Coloms im letzten Frühjahr bietet Pérez Molina auch dieses Mal dem Präsidenten das Sicherheitsprogramm der Patriotischen Partei, sogar als "Geschenk" an und wettert gegen Colom, den er als "Heulsuse" bezeichnet, der alles, was er nicht im Griff habe, als "Destabilisierungskampagne" bezeichne (siehe ¡Fijáte! 404). Derweil beinhaltet Pérez´ Vorschlag, seinem Wahlmotto der "harten Hand" entsprechend, den verstärkten Einsatz des Militärs, die fokussierte Deklaration und Durchsetzung des Ausnahmezustandes (der mit der Einschränkung grundlegender BürgerInnenrechte wie Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, verschärfte Personal- und Gebäudedurchsuchungen durch Polizei und in erster Linie Militär einhergeht) in den ohnehin als rote Zonen eingestuften Stadtbezirken, die Stärkung des Geheimdienstes und die Wiederaufnahme der Diskussion um die Todesstrafe sowie deren Vollzug. Colom und Innenminister Salvador Gándara stimmen darin überein, dass die verschärften Gewaltaktionen darauf zurückzuführen seien, dass die von der Regierung implementierten Operationen gegen das organisierte Verbrechen, den Drogenhandel und die Jugendbanden Früchte in Form von gezielten Verhaftungen und Verstärkung der Sicherheitsstrukturen zeigten, auf die die Banden wütend reagierten. Gleichzeitig macht sich Gándara selbst unglaubwürdig mit seiner Behauptung, die Attacken am Dienstag gingen auf das Konto eines Jugendbandenmitglieds alias "Smiley", der sie orchestriert habe. Auch wundert die Gelassenheit der beiden Verantwortlichen, mit der sie die "Reaktionen" hinnehmen, mit denen sie angeblich bereits aus gemachter Erfahrung rechnen, anstatt entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Ähnlich wie im Jahr zuvor versichert Colom, dass es bereits einige heisse Spuren gebe und die Vorbereitungen auf weitere Verhaftungen liefen. Bleibt demnach nur zu hoffen, dass die Beweisführungen wasserdicht und die Gerichte standfest sind, die Strafprozesse tatsächlich mit angemessenen Konsequenzen durchzuziehen. Ob das guatemaltekische Strafvollzugssystem die grundlegenden Voraussetzungen für seine Funktion erfüllt, steht dabei auf einem anderen Blatt. Nach oben |
Entgegen der Ankündigung durch Präsident Colom, die Gewalt würde schon am nächsten Tag zurückgehen, forderte diese am Mittwoch weitere Opfer, darunter ein 85jähriger Mann, der kurz vor dem Überfall den betroffenen Bus erst betreten hatte, sowie ein zweimonatiges Baby, dessen Mutter erst, nachdem sie nach der Schiesserei im Bus heimgerannt war, dort feststellte, dass ihr Kind von einem Querschläger getroffen war. In Folge dieser Nachrichten kochten die Emotionen erneut hoch. Konkreter Anlass für die Gewaltepisode am 24. sei, so Colom und Gándara, die Aufdeckung eines Meutereiplans für den 8. April in den vier Haftanstalten, um die kürzlich inhaftierte Gruppe des mexikanischen Drogenkartells "Los Zetas" zu befreien. Diese sitzen unter anderem auf Grundlage der Ermittlungen der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) wegen der Massaker, die es seit letztem Jahr zwischen Drogenbanden gegeben hat, in Untersuchungshaft. Die Mordaktion am 24./ 25. und die damit beabsichtigte Provokation eines Regierungs- und Sicherheitschaos sollte die Aufmerksamkeit der Zuständigen auf sich ziehen und die Flucht der Inhaftierten erleichtern, so die Vermutung. Während sowohl Menschenrechtsorganisationen Coloms Auftritt als ängstlich und schwach bewerten und konkrete Taten statt Worte fordern - darunter den Schutz von RichterInnen und die Säuberung der staatlichen und Regierungsreihen von FunktionärInnen, die den Kampf gegen die Sicherheit und gegen das organisierte Verbrechen behinderten - versichert der Präsident zuversichtlich, dass es ´nach der langen Nacht, die auf Guatemala liege, ein institutionelles Morgengrauen geben werde´. Drei Aktionen kündigte er sogleich an: die Schaffung einer Sonderermittlungskommission, die sich um die Morde an den Busfahrern kümmern wird, die zügige Beantragung der Verlängerung des Mandats der CICIG sowie die Verstärkung der öffentlichen Sicherheit. Im Moment sind diesbezüglich vermehrt SoldatInnen auf die Strasse geschickt worden. Doch der Aspekt der CICIG-Aktivitäten, die inzwischen durchgreifende Resultate zeitigen, wird neben anderen gleichzeitig als ein Grund genannt, wegen dem das organisierte Verbrechen und die in irgendeiner Form mit diesem in Verbindung stehenden Personen nervös zu werden scheinen. Dazu summieren sich die just für den 24. angekündigte und mittlerweile tatsächlich vollzogene Verabschiedung des Waffen- und Munitionsgesetzes, die Ankündigung einer Nationalen Vereinbarung zum Fortschritt der Sicherheit und Justiz, dann, ebenfalls am 24., die Eröffnung des Archivs der Nationalpolizei, das vom Menschenrechtsprokurat (PDH) seit 2006 analysiert und gesichert wird, für die Allgemeinheit, sowie die Präsentation eines ersten Berichtes darüber (siehe sep. Artikel). Und schliesslich die überraschende Festnahme von ehemaligen Miltärs wegen der Millionenhinterziehung im Verteidigungsministerium unter Ex-Präsident Portillo (siehe sep. Artikel). Alles also tatsächlich Schritte, die noch manch anderen, der sich bislang unter dem allgemeinen Schweigen und der garantierten Straffreiheit sicher gefühlt hat, aufschrecken können. Gemäss der Angaben des Nationalen Forensikinstituts (INACIF) sei die Mordrate nach der Eskalation Mitte der vorletzten Woche tatsächlich bereits erheblich zurückgegangen und die von Colom genannten Festnahmen durchgezogen. |
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