Die Suche nach den verschwundenen und verschleppten Kindern Guatemalas
Fijáte 281 vom 26. März 2003, Artikel 1, Seite 1
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Die Suche nach den verschwundenen und verschleppten Kindern Guatemalas
Sechs Jahre sind verstrichen seit der offiziellen Beendung von 36 Jahren Staatsrepression und Genozid in Guatemala. Über zwanzig Jahre sind vergangen seit Militärmassaker und berechneter Staatsterrorismus die Achi-Gemeinden in der Gegend von Rabinal in Baja Verapaz zerrissen haben. Heute beginnen Witwen und Überlebende des Massakers nach ihren Kindern und Grosskindern zu suchen, die während des Konflikts verschwunden sind. Der Autor des folgenden Artikels, der Kanadier Aaron Bates, ist Mitglied der Menschenrechtsorganisation Human Right Watch und arbeitet als Praktikant für ADIVIMA (Vereinigung für eine integrale Entwicklung der Gewaltopfer in den Verapaces, Maya Achí) in Rabinal. ADIVIMA, eine Vereinigung, die sich für die Gewaltopfer in Alta und Baja Verapaz einsetzt, ist eine Basisorganisation mit Sitz in Rabinal. Sie engagiert sich in der Erinnerungsarbeit und in der Würdigung der Opfer, kämpft dafür, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet werden und organisiert soziale und ökonomische Hilfeleistungen für Überlebende solcher Verbrechen. Neben dieser Arbeit hilft ADIVIMA, zusammen mit der Nationalen Kommission für die Suche nach verschwundenen Kindern, Kinder zu suchen und zu identifizieren, die entführt wurden oder während der Zeit des Genozids und der Repression adoptiert wurden. Die nationale Wahrheitskommission (CEH) kam 1999 zum Schluss, dass während des bewaffneten Konflikts über 200'000 Personen (meist Mayas) massakriert oder verschleppt, nahezu 1,5 Millionen Menschen zwangsumgesiedelt und mehrere hunderttausend Kinder zu Waisen wurden. Ausserdem stellte sie fest, dass die Regierung Guatemalas (damals wie heute gedeckt von den USA, anderen westlichen Staaten, der Weltbank, globalen Konzernen und Banken) in Rabinal und in andern, vorwiegend von Mayas bewohnten Regionen, Völkermord beging. Am 14. November 2002 erschien eine Gruppe von 40 Witwen, begleitet von VertreterInnen von ADIVIMA und der Nationalen Kommission für die Suche nach verschwundenen Kindern, vor den gut polierten Türschwellen der Zona Miliar 21, einer Militärbasis nahe Cobán, Alta Verapaz. Am Eingang der Militärbasis werden BesucherInnen von einer Tafel begrüsst, verziert mit gekreuzten amerikanischen und guatemaltekischen Flaggen, welche an den Tod guatemaltekischer und amerikanischer Fliegerpiloten erinnert, die während gemeinsamen Militärübungen gefallen sind. Als Zeichen dafür, dass sich gewisse Dinge verändert haben seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages 1996, war der amtierende Kommandant der Militärzone 21 bereit, die Delegation zu empfangen. Während des Treffens übergaben die Überlebenden von Rabinal dem Kommandanten der Basis ein Dokument, das belegt, dass sie am 14. Mai 1982 am Rio Negro während der Massaker in Los Encuentros ZeugInnen der Entführung von 44 Menschen waren. Bei den Entführten handelte es sich vor allem um Kinder, aber auch Frauen und ältere Menschen wurden mit Militärhelikopter der Militärzone 21 weggebracht. Vierzig weitere Menschen wurden am selben Tag durch Paramilitärs und Soldaten ermordet. Es ist ein positives Zeichen, dass einige der schwächsten Mitglieder der guatemaltekischen Gesellschaft heute die soziale Kraft haben, sich mit einer Institution zu konfrontieren, die ehemals alles unternahm, um sie zu zerstören. Wie wenig sich gewisse Dinge in Guatemala verändert haben, zeigt aber die Reaktion des Kommandanten auf den Besuch und das ihm überreichte Dokument. Viele schreckliche Sachen seien während des Krieges passiert, sagte er. Das sei die unglückliche Realität der Kriegsführung. Das moderne Militär unternehme heute alles, um mit den Menschen zusammen zu arbeiten. Und so weiter und so fort. Die Familien verliessen die Militärbasis mit nichts ausser dem vagen Versprechen, dass das Militär in den Archiven (von welchen behauptet wird, sie würden alle drei Jahre zerstört) nach Informationen über das Massaker in Los Encuentros suchen würde. So weit, so schlecht. Dennoch nahmen die Überlebenden auch das Wissen mit, dass sie ihren früheren Unterdrückern gegenüber getreten sind und ihre Geschichte denjenigen erzählt hatten, die ihre Kinder entführten und ihre Familien folterten. Während der Kriegsjahre engagierten sich gewisse Mitglieder der katholischen Kirche aktiv und mutig im Verstecken von Waisen und von Kindern, die durch Vergewaltigung gezeugt wurden. Vergewaltigung war damals eine weitverbreitete Repressionsform der Armee und von Paramilitärs. So besuchte ADIVIMA und die Überlebenden der Massaker mit ihrer Delegation auch katholische Schwestern in Cantabál und in der Gemeinde Pacux in der Nähe von Rabinal In Pacux (wo die Überlebenden des Rio Negro Massakers heute leben) konnte eine katholische Schwester, die während des Krieges mit Waisen gearbeitet hatte, die Adoption von 32 Kindern durch irische, norwegische und schwedische Familien mit Fotos belegen. Während dieses Treffens wurden möglicherweise vier Kinder aus den um- Nach oben |
liegenden Dörfern von Canchún, Chichupac und Chuateguá wie auch aus Pacux von Familienangehörigen identifiziert. Drei dieser Kinder wurden damals vom Militär in Gefangenschaft gehalten, das vierte wurde der katholischen Kirche anvertraut, da die Mutter durch Militärangehörige vergewaltigt wurde. Kinder zu identifizieren (mittlerweile sind all diese Kinder erwachsen, zwischen 20 und 30) ist nicht unbedingt der erste Schritt in der Wiedervereinigung der Familien. Potenzielle Familienzusammenführung ist auch unter besten Voraussetzungen ein komplexer, schmerzhafter Prozess. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass sich das Leben der jungen Erwachsenen in Europa stark vom Leben ihrer Familien im ländlichen Guatemala unterscheidet. Sie sprechen Englisch, Norwegisch und Schwedisch. Ihre biologischen Familien sprechen die Mayasprache Achí und vielleicht ein wenig Spanisch als erste Fremdsprache. Es ist gut möglich, dass aus diesem Grund erst 12 von 32 Kindern zugestimmt haben, mit ihren biologischen Familien in Kontakt zu treten. Wahrscheinlich erinnern sich die Kinder kaum an das Ausmass von Repression und Völkermord gegenüber ihren Gemeinden und wurden später auch nicht über die Zusammenhänge ihrer Adoption informiert. Unter diesen Bedingungen mag man sich fragen, ob die Suche nach Kindern, die vor über 20 Jahren verschleppt wurden, überhaupt Sinn macht. Was bringen schmerzliche Treffen mit hochmütigen und oft rassistischen Militärvertretern, wenn die Auskünfte, die sie offerieren, nur leere Worthülsen sind? Was bringt es, von europäischen Familien adoptierte Kinder zu suchen, wenn wir in Betracht ziehen, dass diese Kinder ihre Muttersprache nicht kennen, keine Ahnung von der Kultur ihrer Eltern haben und vielleicht nicht mal einem Kontakt zustimmen? Selbstverständlich sind diese Treffen und der laufende Prozess existenziell für die überlebenden Familienmitglieder, die immer noch in extremer Armut und konfrontiert mit Rassismus leben, die oft einen halben Tag zu Fuss zum nächsten Treffen unterwegs sind. Für Menschen, denen alles genommen wurde, ist es ein wichtiger Prozess, ihre zerrissenen und verstreuten Familien und Gemeinden wieder zusammenzubringen. Ausserdem bilden die Treffen eine Plattform, wo Frauen meist zum ersten Mal ihre Geschichte erzählen können, im Wissen darum, dass die anderen sich dafür interessieren, was sie zu sagen haben. Viele Frauen weinen, während sie beschreiben, wie sie aus Verzweiflung ihre Kinder der Kirche übergeben haben. Noch schlimmer schluchzen die Frauen, deren Kinder entführt und von Militärhelikoptern vor ihren Augen weggeflogen wurden. Diese Frauen sprachen womöglich zum ersten Mal in ihrem Le- ben über ihr Leid und ihre Erfahrungen. Alte Wunden können auf verschiedene Arten geheilt werden; zu wissen, dass andere mit Mitgefühl zuhören, ist eine davon. Carlos Chen Osorio ist selbst ein Überlebender der Massaker vom 13. März 1982 in Rio Negro. Damals hatte er seine schwangere Frau und zwei kleine Kinder verloren. Heute ist er verantwortlich für die Menschenrechtsabteilung von ADIVIMA. Für ihn sind die Zusammenkünfte sehr wichtig, weil einerseits über die eigene Geschichte gesprochen wird und andererseits zumindest die Hoffnung besteht, herauszufinden, ob die eigenen Kinder noch leben. Individuelle und gemeinsame Heilungsprozesse bilden den entscheidenden ersten Schritt in Richtung sozialer Wiederherstellung und wirtschaftlicher Entwicklung in den Gemeinden. Trotz ihres Mutes, ihren Unterdrükkern gegenüber zu treten, offen und menschlich über die erlittenen Verluste zu sprechen und verschwundene Kinder zu suchen und zu identifizieren, bleiben diese Menschen arm und ausgegrenzt. Ausserdem erhalten sie für ihre entsetzlichen Verluste durch 36 Jahre Krieg in Guatemala keine Wiedergutmachung. Nichts desto trotz helfen kleinste Erfolge in Menschenrechtsfragen, auch wenn sie kaum spür- oder messbar sind, den Heilungsprozess voranzubringen und Gerechtigkeit aufzubauen. |
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