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Eine neue Solidarität in einem neuen historischen Umfeld

Fijáte 215 vom 2. Aug. 2000, Artikel 1, Seite 1

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Eine neue Solidarität in einem neuen historischen Umfeld

Andererseits die fortschreitende Schwächung der Solidaritätsbewegung mit Zentralamerika - sei es auf schweizerischer oder europäischer Ebene -, was im Verlust an Mobilisierungskraft und den organisatorischen Einbussen abzu- lesen ist. So sind in den vergangenen Jahren Hunderte von Solidaritätskomitees verschwunden und es mangelt an neuer "Sauerstoffzufuhr". - Der Preis einer Krise mit viel konzeptioneller Untätigkeit und noch mehr selbstmörderi- schem bequemem Verharren bei "traditionellen Formen" der Solidarität, ohne eine Grundsatzdebatte über die unab- dingbare Neuschaffung und -definition der neuen, zukünftigen Solidarität.

Die momentane Explosion der Post-VGMitchNF-Solidarität (Ende 1998 und 1999) zeichnete sich mehr durch eine quantitative (Hilfeleistungen) als eine qualitative Note (Überdenken der Essenz) aus. Die geschrumpfte Solidaritätsbewegung blieb auf die Ebene der Förderung und Ausführung humanitärer Entwicklungs- und Wiederaufbauprojekten beschränkt. Der ursprüngliche Versuch dieser Bewegung, die gesamte Zusam-menarbeit von Staat und traditionellen NGOs in Richtung kritischerer Positionen zu lenken, brachte keinen bedeutenden Ertrag. Eher blieb die Bewegung an der Ausführung von Initiativen kleben, die zwar gut gemeint, aber der traditionellen Zusammenarbeit völlig angepasst und mit ihr vergleichbar waren.

Eine Zukunft voller Herausforderungen: Hypothesen

Die Neuschaffung oder Neuformulierung eines Vorschlags der Solidarität mit Zentralamerika konfrontiert die schweizerische Bewegung mit einer

grundlegenden Überlegung hinsichtlich des Konzeptes, dem Sinn, der PartnerInnen und VermittlerInnen sowie der Erfahrungen.

Wiederholungen oder Schlendrian aus Untätigkeit können in dieser Etappe zum schlimmsten Feind der unabdingbaren kreativen Neuerfindung werden. Daraus abgeleitet folgen einige Hypothesen, welche als Annahmen betreffend einiger möglicher und zukünftiger Aspekte dienen sollen.

Angesichts der Explosion der neuen AkteurInnen sowie BürgerInnen- und Volksbewegungen, sowohl im Norden wie im Süden, muss sich jegliche Art zukünftiger Solidarität mit diesen neuen leibhaften Manifestationen in Verbindung setzen, sich mit ihnen liieren. Die traditionelle Solidarität ist ermattet und leidet unter einer ernsthaften Krise hinsichtlich Konzepten, angepasster Organisationsformen und Vernetzung.

Ein Nicht-Aufgreifen in diesem Sinne droht einer Art "operativer Schizophrenie" vieler Militanter der Solidarität Vorschub zu leisten, welche geteilte Rollen in anderen Bewegungen einnehmen, aber ohne eigenes Konzept und dementsprechend mit geschwächtem Einfluss auf ihre Aktion.

Viele Militante und Gruppen haben die Solidarität mit Zentralamerika bereits verlassen, um sich anderen Engagements zuzuwenden, welche sie für adäquater, aktueller oder breiter halten, ohne auf die notwendige Neuformulierung der Solidaritätsbewegung von innen heraus zu setzen. Diese Zeichen deuten darauf hin, dass sich die Bewegung einer grundlegenden Herausforderung gegenüber sieht: Entweder erfährt die Ausrichtung der Solidarität mit Zentralamerika eine Neukonzeptualisierung oder es besteht die Gefahr eines langsamen Todes durch Trockenlegung.

Mit Blick auf den globalen Kontext und die Vernetzung, innerhalb derer sich die neuen Formen der BürgerInnenbewegung des Nordens entwickeln, muss festgehalten werden, dass sich die Länder- und Regionensolidarität in dieser Dynamik nicht widerspiegelt. Bedeutender als der nationale oder regionale Rahmen sind in dieser Phase zwei zentrale Aspekte: Der Typ der PartnerInnen oder VermittlerInnen, mit denen die neue Solidarität, die Konzepte und Themen formuliert werden. Angesichts der "konsequenten Delegitimierung" des neoliberalen und Globalisierungskonzeptes als zentrale Aufgabe der Gegenwart, stellt die Vereinbarung über Themen mit wichtigen VermittlerInnen eine Rückversicherung für die treffende Schwerpunktsetzung und langfristig einer solidarischen Option dar.

In diesem Sinne ist es von entscheidender Bedeutung, den eigentlichen Sinn der neuen Solidarität zu definieren. Einerseits als horizontale Übung, welche jegliche Art von Übertragung oder Paternalismus (weder von Zentralamerika/Süden nach Norden, noch vom Norden nach Zentralamerika/Süden) abwendet. Andererseits soll die Solidarität als integrierende und globale Aktivität verstanden werden, die sowohl den AkteurInnen des Nordens wie des Südens einen Nutzen bringt. Auf einem globalisierten Planeten führt der zentrale Sinn jeglicher Solidarität richtigerweise über die Globalisierung einer neuen Beziehung der weltweiten Kräfte, indem sich die AkteurInnen und VermittlerInnen des Nordens und Südens auf rationale Weise durch ihr jeweiliges Engagement ergänzen.

Aus dieser Sicht birgt der Rückzug in eine vorwiegend (oder ausschliess-lich) lokal ausgerichtete Solidarität, wie sie von den Städtepartnerschaften in den vergangenen Jahrzehnten im besten Stile praktiziert wurde, gewisse Risiken in sich, sofern die grundlegenden Konzepte, welche den Sinn einer neuen Solidarität definieren und präzisieren, nicht auf diese Ebene überführt werden. Jede Leere an strategischen Inhalten wird eine Vereinigung, eine Gruppe, ein Komitee, eine Städtepartnerschaft zu einer unumkehrbaren konzeptuellen Verkümmerung verurteilen, was mit dem Risiko verbunden ist, den Fortbestand der Folklore, menschlicher Nähe, Freundschaft, Philanthropie oder einfach der Trägheit zu verdanken.

Klärung der Herausforderung: Szenarien

Es gibt tausend Möglichkeiten. Die zwei Hauptszenarien für die nächsten fünf Jahre basieren auf der Variante, ein bisschen mehr dessen zu machen, was bisher gemacht wurde - einschliesslich kosmetischer Reformen -, oder eine neue konzeptuelle und operative Form festzulegen, die unterschiedliche Definitio- nen beinhalten kann.

Die Notwendigkeit des Wachs- tums, der Ausbreitung solidarischer Beziehungen mit den dynamischsten und kohärentesten AkteurInnen der sozialen Bewegung Lateinamerikas kann als Vorschlag für eine Debatte dienen. Wenngleich das Risiko besteht, sich zu verzetteln und Realitäten zu integrieren, welche der Solidaritätsbewegung mit Zentralamerika weniger vertraut sind, so ist die Notwendigkeit der Globalisierung unserer eigenen Wahrnehmung der

historischen Phase, die jener Kontinent durchlebt, ebenso gewiss. Weshalb sollen La Trinidad, Achuapa oder der FSLN auf mehr Solidarität zählen können als die Siedlungen der Landlosenbewegung MST in Pará (Brasilien) oder die Nationale Konföderation der Indigenen in Ecuador, welche die Protestbewegung im Andenland anführt?

Ebenso wichtig ist das Ziel, die Präsenz der Solidaritätsbewegung - mit dem enormen Erfahrungsschatz, der einen echten "Mehrwert" darstellt -, in jenen Netzen zu stärken, die sich im Norden vermehrt und in den letzten Jahren die wichtigsten oppositionellen Antworten hervorgebracht haben. Sich nicht innerhalb dieser Dynamik zu befinden, schwächt nicht nur die zentralamerikanische Solidarität, sondern konfrontiert sie mit einem konzeptuellen Widersinn.

Wenngleich nicht völlig neu, so ist es wichtig, in Ergänzung dazu, Gedanken darüber anzustellen, wie der Ansatz einer neuen Solidarität in "natürliche" soziale Räume einzubringen ist. Handle es sich dabei um KonsumentInnenorganisationen, die sich für einen gerechteren Handel einsetzen, gewisse NGOs, Bäuerinnen- und Bauernorganisationen,

VGGewerkschaftenNF oder auch Initiativen, die sich durch eine Regelmässigkeit auszeichnen, wie die 1. Mai-Komitees oder Vorbereitungsgruppen internationaler Ereignisse wie zum Beispiel des Alternativen Sozialgipfels.

Es sind dies Szenarien, die nicht beabsichtigen, die kreativen und unlimitierten Fähigkeiten des Volkes und der BürgerInnen auszuschöpfen. Aber sie zeigen wahrscheinliche zukünftige Akti- onslinien der Solidarität auf, die, unter dem Dilemma von Leben oder Tod, darauf wartet, dringend neukonzeptualisiert zu werden.


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