Gewalt gegen das Justizsystem
Fijáte 340 vom 03. Juli 2005, Artikel 1, Seite 1
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Gewalt gegen das Justizsystem
Das guatemaltekische Justizwesen ist immer wieder Ziel von politisch motivierter Gewalt und Drohungen gegen seine MitarbeiterInnen. Dahinter steckt die Absicht, dem Justizwesen die Hände zu binden und im Land eine Stimmung von Straflosigkeit und fehlender Rechtsstaatlichkeit zu verbreiten. Die Urheber dieser Drohungen sind unter Mitgliedern des organisierten Verbrechens und im Drogenhandel zu suchen. Ihr Ziel ist, durch Terror die gegen sie eingeleiteten Strafprozesse zu blockieren und sich den Weg für ihre Machenschaften freizuhalten. Oder sie stammen aus Politik- und Militärkreisen, und zielen darauf ab, die während und nach dem Krieg begangenen Menschenrechtsverletzungen in der Straflosigkeit zu belassen. Eine dritte Gruppe möglicher Urheber sind ehemalige, in Korruptionsfälle involvierte Staatsfunktionäre, die eine Untersuchung gegen ihre administrativen Fehlgriffe verhindern wollen. In der nachfolgenden Analyse deckt die Mirna-Mack-Stifung Schwachstellen im Justizwesen selber und mangelnden politischen Willen seitens der Regierung auf, an dieser Situation etwas zu verändern. Zwischen Januar bis Ende Juni 2005 wurden in Guatemala sechs Morde an Angestellten des Justizwesens gezählt, doppelt so viele wie im selben Zeitraum des Vorjahres. Die Behörden zeichnen sich diesem Phänomen gegenüber durch ihre Unfähigkeit aus, den RichterInnen und dem Gerichtspersonal Sicherheit zu garantieren. Drohungen gegen das Justizwesen sind aber nichts Neues, die Behörden haben sich bisher bloss nie mit der notwendigen Ernsthaftigkeit und Überzeugung der Aufgabe gewidmet, das Problem an seiner Wurzel anzugehen. Der damalige Sonderbeauftragte für die Unabhängigkeit von RichterInnen und AnwältInnen der Vereinten Nationen, Param Cumaraswamy, erliess nach seinem Besuch im Jahr 2000 wichtige Empfehlungen an die Regierung: Die Schaffung einer dem Obersten Gerichtshof (CSJ) unterstehenden Kommission, die in Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft das Problem angehe; die Erarbeitung eines Leitfadens, nach dem Anzeigen von Angriffen auf RichterInnen und JustizbeamtInnen aufgenommen und weiter verfolgt werden könnten; das Ergreifen von angebrachten Massnahmen, um diesen Personen den notwendigen Schutz zu garantieren sowie das Abschliessen einer Lebensversicherung für alle RichterInnen. Ein Jahr später ergänzte der Sonderbeauftragte seine Empfehlungen: die Erhöhung des Budgets, um dem Justizpersonal Sicherheit zu garantieren sowie die Ausbildung und angemessene Entlohnung der Mitglieder der Nationen Zivilpolizei (PNC) und des Obersten Gerichtshofs, die mit dem Schutz des Justizpersonals beauftragt sind. Weiter rief er die Medien auf, bei der Berichterstattung zum Thema Justiz ein Gleichgewicht herzustellen, ohne dabei die Unabhängigkeit deren Arbeit anzuzweifeln und so Verleumdungen und Hetzkampagnen zu vermeiden. Der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof (CIDH) gab im selben Jahr ähnliche Empfehlungen ab. Diese Empfehlungen wurden nie in ihrer Gesamtheit umgesetzt und die Behörden beschränkten sich darauf, eine Spezialeinheit der Staatsanwaltschaft einzusetzen, die entsprechende Drohungen untersucht. Doch die Arbeit dieser Einheit war mangelhaft und es fehlte ihr eine Vision, ebenso wie die notwendigen personellen und finanziellen Mittel. Innerhalb des Justizwesens wurde kürzlich die Kommission zur Sicherheit der Justiz gegründet, deren Aufgabe die Einführung von Sicherheitmassnahmen für RichterInnen und Justizbeamte ist. Diese Massnahmen beschränken sich jedoch bisher auf das temporäre Zuweisen von Leibwächtern. Die Drohungen gegen das Justizpersonal haben sich derweil nicht verringert. Gemäss Angaben der Staatsanwaltschaft wurden im Jahr 2004 insgesamt 99 Anzeigen wegen Mordes, Telefondrohungen, Einschüchterungsversuchen und Verfolgung an oder gegen JustizbeamtInnen erstattet. Im laufenden Jahr sind bereits 50 solcher Anzeigen eingegangen, wobei mit einer beträchtlichen Dunkelziffer gerechnet wird. Die Behörden reagieren meist erst, wenn es zu spät ist, geschehen z. B. im Fall des Sonderrichters von Chiquimula, José Víctor Bautista Orozco sowie dem Staatsanwalt des selben Ortes, die im April und Mai dieses Jahres ermordet wurden. Sicherheitsmassnahmen für ihre MitarbeiterInnen wurden erst als Reaktion auf den öffentlichen Druck ergriffen (siehe ¡Fijáte! 334). Solche Massnahen bestehen zum Beispiel in der Ausbildung von PolizistInnen durch kolumbianische Fachleute oder durch die Zuweisung von mehr Personal zum Schutz der Gerichte. Ebenso wurden kürzlich dem Justizwesen 19 Mio. Quetzales überwiesen, um das Sicherheitssystem zu verbessern, bisher weiss aber niemand etwas über konkrete Investionen, die getätigt worden wären. Der aktuelle Sonderstaatsanwalt von Chiquimula, der nach der Ermordung seines Vorgängers Bautista Orozco ernannt wurde, erklärte gegenüber der Stiftung Mirna Mack, er habe von all den geplanten Sicherheitmassnahmen durch die Medien erfahren, verändert habe sich aber die Situation nicht. Diese offensichtliche Gleichgültigkeit der Behörden beweist das grundsätzliche und totale Fehlen einer Strategie, der Gefahr zu begegnen, der das Justizpersonal ausgesetzt ist und mit der die entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen zu treffen wären. Als erstes müssten zudem überhaupt einmal die Ursachen analysiert werden, die solchen Gewaltformen zu Grunde liegen. Es mangelt aber auch an Koordination unter den für Schutz, Untersuchungen und Bestrafung zuständigen Institutionen des Justizwesens. Das führt im Endeffekt dazu, dass die Verantwortlichen dieser Aggressionen und Gewalttaten sich in der Straflosigkeit sonnen können. Viel schlimmer noch als das Versäumnis der Regierung, etwas gegen die Gewalt gegen JustizbeamtInnen zu unternehmen, ist ein perverses Verhaltensmuster, dem sämtliche staatlichen Institutionen verfallen sind: Man reagiert bloss und es fehlen umfassende, langfristige Perspektiven. Dies führt zu einer weiteren Schwächung der bereits angeschlagenen staatlichen Strukturen und verhindert systematisch eine Stärkung des Rechtsstaates, den man ja gemäss Verfassung so sehr anstrebt. Nichts tun und nichts verhindern: Die Dynamik des Staates gegenüber den Aktivitäten krimineller Gruppen Das Aufkommen krimineller Banden, deren Aktivitäten krasse soziale Auswirkungen haben (Drogenhandel, organisiertes Verbrechen, Korruption) kann unterschiedlich erklärt werden. Man ist sich aber insofern einig, dass das Entstehen dieser Gruppen in die Zeit des bewaffneten Konflikts und der autoritären Militärregierungen der 70er und 80er Jahre fällt. Im Rahmen der Aufstandsbekämpfungsmassnahmen dieser Jahre, erlebte der Staatsapparat eine tiefgreifende Militarisierung, speziell in jenen Institutionen, die strategisch für die Kontrolle der Bevölkerung und des nationalen Territoriums zuständig waren, wie z. B. die Grenz- und Migrationsbehörde, Gemeinde- und Finanzbehörden, etc.. Auch die Kontrolle über die Vereinnahmung der politischen Parteien wurde aufrechterhalten, was erlaubt, die öffentliche Verwaltung, die politische Repräsentation und die Legislative zu beherrschen. Dazu kommen die Geheimdiensttätigkeiten, die seit jeher dem Militär unterstehen, wodurch dessen Macht über die Jahre stetig erhöht wurde. Die Kontrolle des Militärs über den ganzen Staatsapparat schaffte die Bedingungen, damit gewisse Militärkreise ihre eigenen Strukturen schaffen konnten und sich illegalen Geschäften wie dem Handel von Gütern und Menschen, der Korruption im grossen Stil, dem Raub staatlicher Ressourcen usw. widmen konnten. Dabei bedienten sie sich ,,treuen" PolitikerInnen und sonstigen Personen, die begannen, sich ihren Teil des Kuchens abzuschneiden - auf Kosten der staatlichen Institutionen, der Steuern der BürgerInnen und der Staatseinnahmen. Das Phänomen dieser kriminellen Gruppen hat in den vergangenen zehn Jahren zugenommen, neue Gruppen, die nach dem selben Modell arbeiten, sind dazu gekommen, womit es nicht mehr nur das Privileg von Militärangehörigen ist, solchen Strukturen anzugehören. Die Macht dieser Gruppen wirkt soweit in die Gesellschaft hinein, dass es im Extremfall zu einer Art Bewunderung und Respekt kommt gegenüber jenen, die es geschafft haben, den legalen Rahmen zu überschreiten und Gewinn und Wohlstand für ihre Familien und Angehörigen zu erreichen. In einigen Regionen oder Ortschaften sind diese Gruppen zu solcher ,,Berühmtheit" gelangt, dass sie gezwungen sind, soziale Kompensationen einzuführen. Damit erkaufen sie sich das Stillschweigen und die Komplizenschaft der Bevölkerung und sichern sich die vorteilhaften Bedingungen für ihre illegalen Machenschaften. So stellen sie z. B. gewisse Dienstleistungen zur Verfügung, welche der Staat nicht zu leisten in der Lage ist, wie die Garantie der öffentlichen Sicherheit, den Bau von Schulen oder Gesundheitszentren, das Organisieren von sozialen oder Sportanlässen. Es ist allgemein bekannt, dass in den Departements im Osten des Landes, wo das organisierte Verbrechen sehr stark ist, die ,,allgemeine Delinquenz" niedrig ist im Vergleich zu anderen Regionen. Dies "dank" der Präsenz von kriminellen Gruppierungen im grossen Stil, die es nicht zulassen, dass die Kleinkriminalität oder der Drogen-"Einzelhandel" ihnen das Geschäft vermiesen. Sätze wie ,,Ein erwischter Gauner ist ein toter Gauner" hört man in diesem Teil des Landes oft. Dies ist im Süden und Westen des Landes nicht so, wo aus Mangel an einer institutionellen Lösung des Problems die Gewalt viel grösser ist und zu sozialen Phänomenen wie der Lynchjustiz führt. Die Behörden verhalten sich gegenüber dieser Situation blind und taub, was wiederum die Verbindungen zwischen lokalen Funktionären und den Bossen dieser Banden beweist, beruhen diese Verbindung nun auf Angst, Unfähigkeit, Gleichgültigkeit oder auf Beteiligung an den kriminellen Strukturen. Es wäre naiv zu glauben, die staatlichen Funktionäre, ob auf lokaler oder zentraler Ebene, würden dies nicht merken und die sozialen Auswirkungen dieses Phänomens an ihnen vorbeigehen. Die offizielle Passivität spricht vielmehr dafür, dass die jeweiligen Regierungen und Behören sich der Situation voll bewusst sind und zulassen, dass diese Aktivitäten mit relativer Freiheit und ohne grössere Probleme durchgeführt werden können. Damit sind auf der einen Seite die kriminellen Organisationen gestärkt und es erlaubt ihnen, ihre Methoden zu perfektionieren. Durch die offensichtliche Akzeptanz ihrer Vorgehensweisen durch die Zentralregierung, werden diese in der Gesellschaft und den regionalen Staatsstrukturen verankert und nehmen Einzug in Gemeinderegierungen, in die Entwicklungsräte oder in die politischen Parteien. Deshalb liegt es in der Verantwortung des guatemaltekischen Staates, dass die kriminellen Banden sich überall aus- Nach oben |
breiten konnten und die Stärke angenommen haben, die sie heute haben. Gemäss US-amerikanischer Studien ist Guatemala heute einer der grössten Drogenumschlagplätze und das Innenministerium gab kürzlich zu, dass das Problem die Kapazitäten der Sicherheitskräfte übersteige und zu einem nationalen Problem geworden sei, an dessen Bekämpfung alle Sektoren mitwirken müssten. Wie stehen nun aber das organisierte Verbrechen und die kriminellen Banden in Verbindung mit der Gewalt, dem das Justizsystem ausgesetzt ist? Zweifellos über die Delikte, in die sie involviert sind: illegale Geschäfte, der Kampf um territoriale Kontrolle, die Konkurrenz zwischen den einzelnen Gruppierungen und die Art und Weise, wie sie die Bevölkerung unter ihre Kontrolle bringen wollen. In einem solch delinquenten Umfeld ist der Justizapparat gezwungen, sich in Bewegung zu setzen, Untersuchungen einzuleiten, Urteile zu sprechen und die Verantwortlichen zu sanktionieren. Während auf der anderen Seite versucht wird, diese Maschinerie zum Stillstand zu bringen und jegliche Untersuchungen bereits im Keim zu ersticken. Die Mittel dazu sind vielfältig: Vereinnahmung, Korruption, Erpressung, Drohung, Attentate, Morde. Die Ziele sind auch klar: AgentInnen der Zivilen Nationalpolizei (PNC) und der Staatsanwaltschaft, RichterInnen, JustizbeamtInnen und sonst im Justizwesen Tätige, Angestellte des Gefängniswesens, AnwältInnen, ZeugInnen, Familienangehörige von Opfern und sonstige Personen, die in einen Justizprozess involviert sind. Das Phänomen müsste von verschiedenen Seiten her angegangen werden: die Stärkung des Staatsapparates, speziell der Institutionen des Justizsystems und der Sicherheitsapparate, die Schaffung eines zivilen Geheimdienstes, eine Verbesserung der aktuellen Gesetzgebung, um das existierende Rechtsvakuum zu füllen und das Entwerfen von integralen und koordinierten Plänen. Doch für all dies braucht es zuerst den politischen Willen und die Überzeugung, die Situation an ihren Wurzeln anzupacken. Es muss aber auch auf sozialer Ebene etwas unternommen werden, damit kriminelle Gruppen und Aktivitäten gar nicht erst greifen können. Dazu braucht es vor allem in armen Regionen Präventionsmassnahmen wie Bildung, Gesundheit, Arbeit und Wohnraum, damit sich die Leute nicht den kriminellen Strukturen zuwenden Justiz im Kontext politischer Gewalt Die Gewalt gegen JustizbeamtInnen ist bloss ein Aspekt eines viel grösseren Problems: Die Unsicherheit, der die ganze Bevölkerung ausgesetzt ist. Deshalb verlangt es tiefgreifende Massnahmen, die längerfristig angelegt und umfassend sind und die Bedingungen schaffen, die zu einer Verringerung der Gewalt beitragen. In diesem Sinne hat der guatemaltekische Staat eine politische und institutionelle Verantwortung, die er jedoch bisher nicht wahrgenommen hat. Im Gegenteil, es gab verschiedene Vorschläge, wie dem Phänomen begegnet werden könnte, doch der Staat hat diese nicht angenommen. Erinnert sei an dieser Stelle an den Vorschlag zur Schaffung einer Untersuchungskommission, um illegale Körperschaften und klandestine Sicherheitsapparate (CICIACS) aufzudecken: Der Kongress verwarf die entsprechende Vorlage. Auch wenn die politisch motivierte Gewalt zu einem Grossteil von Gruppierungen des organisierten Verbrechens ausgehen, ist es wichtig festzuhalten, dass jeder Fall seine eigene Ursache und Dynamik hat und mit unterschiedlichen Strategien angegangen werden muss. Ansonsten läuft man Gefahr, alles in einen Topf zu werfen und das Spezifische der einzelnen Fälle zu verwischen oder zu verdecken. Deshalb ist es wichtig, eine Gesetzgebung zu haben, die es dem Staat ermöglicht, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen und die die Anwendung der UNO-Konvention gegen das organisierte transnationale Verbrechen (Konvention von Palermo) erlaubt. Wenn sich die aktuelle Situation nicht verändert, wird unser Land auf einem Weg weitergehen, der kein erfreuliches Panorama in Aussicht stellt und der das Justizwesen unter starken Druck setzt durch: - Ein Klima der Straflosigkeit, in dem die Straftaten mit grosser sozialer Auswirkung nicht untersucht und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dies stärkt die bestehenden und bringt längerfristig neue kriminelle Gruppen zu Tage. - Eine chronische Schwächung der Sicherheits- und Justizbehörden, die wie ein Krebsgeschwür den ganzen Staatsapparat angreift und ebenfalls nicht zur Verminderung der Straflosigkeit beiträgt. - Ein Defizit in Sachen Untersuchung und Verfolgung durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft. - Und schliesslich durch das Fehlen eines Systems und rechtlichen Rahmens für den Aufbau eines zivilen Geheimdienstes, was dem Weiterbestehen des militärischen Geheimdienstes Legitimität verleiht. Das wiederum schafft die Bedingungen, damit parastaatliche und dem Militär nahestehende Gruppen sich der Informationen bedienen und so Logistik und Planung ihrer Aktivitäten verbessern können. Das Weiterbestehen dieser Problematik erodiert die bereits geschwächte soziale Ordnung, verunmöglicht den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats, verhindert die Stärkung der Institutionen und schafft eine angespannte Atmosphäre, welche die Regierbarkeit und die politische Stabilität des Landes angreift. |
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