Bildung allein ist noch kein Garant für Entwicklung
Fijáte 430 vom 11. März 2009, Artikel 1, Seite 1
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Bildung allein ist noch kein Garant für Entwicklung
Je nach Kontext kann Bildung zur Befreiung beitragen, viel häufiger jedoch dient sie als Unterdrückungsinstrument im Dienste der Herrschenden. Wie kann ihr befreiendes Potential gefördert werden? Ist dies überhaupt möglich? Die Nachrichtenagentur Argenpress befragte dazu einen Kenner der Materie, den Guatemalteken Carlos Aldana Mendoza (nicht zu verwechseln mit seinem Namensvetter Carlos Aldana Villanueva, dem ehemaligen Verteidigungsminister). Ersterer ist Primarlehrer mit Studium in Pädagogik und Erziehungswissenschaften. Er war Berater der UNESCO in Bildungsfragen und Vizeminister im Erziehungsministerium der Regierung von Alvaro Colom, bis er vor kurzem von diesem Posten zurücktrat. Seit 25 Jahren Dozent an der Universität und gleichzeitig der "educación popular" verpflichtet, verfügt er über ein breites Erfahrungsspektrum. Argenpress: Es heisst, Bildung sei der Schlüssel für Entwicklung, der Motor des Fortschritts. Gerne wird der "gebildete" Norden, wo immer mehr Menschen Zugang zur formellen und auch zur höheren Bildung geniessen, mit dem "armen" Süden und seiner noch immer hohen AnalphabetInnenrate verglichen. Ist wirklich die Bildung ausschlaggebend für den unterschiedlichen Entwicklungsstand von Nord und Süd? Carlos Aldana: Das ist ein grosser Mythos. Anstatt dass Bildung der Motor der Entwicklung wäre, ist umgekehrt Entwicklung der Schlüssel zur Bildung. Entwicklung verändert die ökonomischen, politischen, sozialen, kulturellen und infrastrukturellen Bedingungen in einem Land. Dies erlaubt auch eine Entwicklung des Bildungssystems, verbessert den Zugang zu und die Qualität von Bildungsangeboten. Während früher unsere lateinamerikanischen Regierungen zum Thema Bildung geflissentlich geschwiegen haben, führen sie seit neustem einen Diskurs über die Wichtigkeit von wissenschaftlichen Untersuchungen und Akademikerzentren und präsentieren in den Medien ihre Investitionen in Bildungsprojekte und -programme. Es ist symptomatisch, dass die wirtschaftlich Mächtigen plötzlich diesen Diskurswechsel vollziehen und uns weismachen wollen, dass Bildung wichtig für die Entwicklung sei - derweil sie die Verursacher unserer historischen Unterentwicklung sind. Von unseren unterentwickelten Ländern zu sagen, dass der Analphabetismus Schuld an unserer Situation sei, finde ich eine Frechheit gegenüber der Intelligenz unserer Gesellschaft. Es ist umgekehrt: Genau wegen dieser von den hegemonialen Mächten verantworteten historischen Unterentwicklung, genau wegen dieser diskriminierenden und elitären Gesellschaft haben wir diese Massen an AnalphabetInnen. Und nun heisst es, wenn wir die Bevölkerung besser ausbilden, haben wir sofort mehr Entwicklung im Land. Doch weshalb investiert man nicht in die Schaffung von Arbeitsplätzen, in eine ökonomische Entwicklung für alle, die allen die Möglichkeit gibt, ihren Horizont zu erweitern? Dieser neue Mythos von der Bildung als Motor für Entwicklung wird auch von den internationalen Organisationen übernommen. Erinnern wir an Paulo Freire, der sagte, "die Bildung ist nicht das Sprungbrett in die Entwicklung, aber ohne Entwicklung gibt es auch keine Bildung". Ich zweifle nicht daran, dass die Bildung nicht wichtig ist für Entwicklung, aber sie allein ist noch kein Garant dafür. Es ist ein weit komplexerer Prozess, bei dem alles zusammenfliesst: ökonomisches Wachstum, bessere Lebensbedingungen für die Bevölkerung und eben Bildung. Um die Situation von Guatemala zu verstehen, sowohl was die Bildung, aber generell die soziale Lage betrifft, müssen wir nicht so sehr von der Armut sprechen, sondern vielmehr von der Verarmung. Die "Option der Armen" ist in Wirklichkeit eine "Option der Verarmenden". Damit meine ich nicht einfach nur die arme Bevölkerung an sich, sondern die wirtschaftlichen und soziopolitischen Strukturen, die zur Verarmung der Menschen führen, ihnen kein Wachstum erlauben. Die Bildung, die diesen marginalisierten Sektoren zugänglich ist, ist keine befreiende Bildung, sondern bestätigt ihren Status als Ausgeschlossene. Argenpress: Grosse Pädagogen wie der Venezolaner Simón Rodríguez oder der Brasilianer Paulo Freire sprechen von einer "Pädagogik der Befreiung". Aber wenn wir die tägliche Realität im Bildungsbereich sehen, sei dies auf Primar-, Sekundar- oder Universitätsstufe, scheint Bildung eher zu unterdrücken denn zu befreien. Sie haben einmal gesagt, dass die Schule zerstörend und nicht bildend wirke. Wie muss man das verstehen? Carlos Aldana: Die traditionelle Schule entstammt einem Bildungssystem, das den herrschenden Gruppen entspricht und sehr rigide ist. Es geht darum, die arbeitenden Massen im Hinblick auf ein Wirtschaftsprojekt hin zu erziehen, ihnen die Ideologie der Mächtigen einzutrichtern und sie in dem Glauben zu lassen, dass es keine anderen Möglichkeiten als die hier und jetzt existierenden gibt. In diesem Sinn ist die Aufgabe der Schule, Handlanger auszubilden und die Menschen dahingehend zu erziehen, dass sie glücklich sind, Handlanger unter den gegebenen Bedingungen zu sein. Dies ist keine Entwicklung, dies ist Zerstörung des Menschen. Es verhindert die Kritikfähigkeit des Menschen und erzieht zur Passivität. Es ist wichtig und richtig, für den Zugang zur Schulbildung zu kämpfen. Aber viel wichtiger als das Recht auf den Zugang ist das Recht auf die Qualität der Bildung. Welche Bildung bekomme ich? - das ist die Frage. Die internationalen Organisationen die Bildung propagieren, diskutieren nicht über die Qualität, sie interessieren sich bloss für die Statistik - wie viele Kinder wurden eingeschult, wie viele Schulen wurden gebaut? - aber es geht ihnen nicht um die Art und Weise der Bildung, die da vermittelt wird. Die Kreativität, die Spontaneität, die Freiheit, all dies wird durch die traditionelle Schule zerstört. Ebenso werden die Fähigkeit zum Dissens und der gesunde und produktive Widerspruch zerstört. Was zeichnet eineN guteN SchülerIn aus? Er oder sie muss gehorsam, ruhig, gut erzogen, schweigsam sein und sich mit niemandem anlegen. Dieses Verhalten zieht sich dann ein Leben lang durch und bildet sich selbst im Schulsystem ab: Es gibt Lehrer und Lehrerinnen, die nicht in der Lage sind, andere Meinungen oder eine Kritik zu akzeptieren. So funktioniert das ganze Schulsystem: wir werden zerstört, damit wir nicht selbständig denken. In einem Kontext wie dem unsrigen, die wir seit Jahrhunderten unterdrückt und zum Schweigen erzogen worden sind, passt eine solche Schule bestens ins System. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, ein anderes Verständnis von Bildung und andere Arten von Schulen zu entwickeln. Argenpress: Diese zerstörerischen Schulen, die im Dienste der herrschenden Klassen stehen, kennen wir hier im Süden. Gibt es sie auch im Norden? Carlos Aldana: Natürlich. Und deshalb müssen wir alle, die wir uns für die Bildung interessieren, unseren Fokus weg von der formellen Bildung lenken, wenn wir noch die Hoffnung aufrechterhalten wollen, dass durch Bildung die Welt verändert werden könne. Wir müssen unsere Vision von Bildung "entformalisieren". Wenn die internationalen Organisationen von Bildung sprechen, denken sie an die formelle Bildung. Wenn sie an AusbilderInnen denken, meinen sie automatisch einen Lehrer oder eine Lehrerin in einem Schulzimmer. Dabei gibt es in Lateinamerika verschiedene wunderbare und tiefgründige Beispiele von Bildung, die überall stattfindet: auf der Strasse, auf dem Feld, in den Gewerkschaften, bei der Jugend, in den Volksorganisationen. All diesen Erfahrungen muss mehr Gewicht beigemessen werden. Nach oben |
Gerade wir AkademikerInnen haben hier eine grosse Verantwortung, räumen wir doch der "educación popular" viel zu wenig Platz ein, sei es im Studium, aber auch in der Praxis. Insofern sind wir Teil des herrschenden Systems. Argenpress: Welche Bildung ist wichtiger, die formelle oder die informelle? Heute spielen die Massenmedien genauso eine wichtige oder gar eine noch wichtigere Rolle als die klassische Schule z.B. bei der staatsbürgerlichen Bildung, bei der Entwicklung von Werten und Denkweisen. Wo bleibt in diesem Setting die "educación popular" von damals? Wo müsste ein progressiver Bildungsansatz einsetzen? Carlos Aldana: Es scheint, dass heute für die Entstehung von Werten und Ideologien die informelle Bildung einen immer grösseren Stellenwert erhält. Die formelle Bildung ist wichtig, um sich als BürgerIn zu bewähren, um sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, während die informelle Bildung hilft, den Alltag zu verstehen. Ihre Wirkung ist grösser, aber sie ist im Gegensatz zur formellen Bildung nicht zertifiziert. Was aber stimmt, ist, dass für die Entwicklung von Werten und Zugehörigkeit die Medien eine wichtigere Rolle spielen als die traditionelle Schule. Die grosse Mehrheit der Lehrpersonen konnte mit dem Rhythmus des technologischen Wandels nicht mithalten, wie es die informelle Bildung (z.B. der Medien) erfordert. Deshalb erzielt die formelle Bildung auch nicht dieselbe Wirkung und hat keinen längerfristigen Einfluss auf die SchülerInnen und Studierenden. Die traditionelle Schule ist auch nicht in der Lage, ein kritisches Verhältnis zu sich selber zu entwickeln und daraus neue, befreiende Vorschläge zu kreieren. Deshalb fehlt es vielen Lehrpersonen sowie den Autoritäten des Bildungswesens am Engagement für die Sache der Bildung, sie verfallen in Konformismus, in eine nicht progressive, klassische und traditionelle Sicht der Dinge. In diesem Sinne könnte man von einem politischen Analphabetismus sprechen. Deshalb könnte die "educación popular", die in Lateinamerika in den 60er und 70er Jahren eine wichtige Alternative zur formellen Bildung darstellte, eine neue Form der Pädagogik und ein neuer sozio-politischer Ansatz war, auch heute eine Chance nicht bloss für die Campesinos und Indígenas, sondern auch für die Ausbildung der DozentInnen sein. Dies ist eine der grossen Herausforderungen: Wie können wir den PädagogikstudentInnen, den zukünftigen LehrerInnen, die Werte der "educación populer" näherbringen, die durchaus mit den wissenschaftlichen Paradigmen zu vereinbaren sind. Es ist sogar sehr wichtig, Ansätze des holistischen (ganzheitlichen) Lernens oder der "biomolekularen Revolution" (Gentechnologie) mit der "educacion popular" zu verbinden. "Educación popular" ist nicht bloss eine Methode, es ist die politische Vision einer Pädagogik, deren Ziel die Schaffung eines Bewusstseins für soziale Veränderungen in den Menschen ist. Dabei verschiedene Welten miteinander zu verbinden, ist eine wunderbare und verheissungsvolle Chance für die akademische Welt. Dies zu tun, versuche ich in meiner täglichen Praxis. Argenpress: Wie sollen wir aus der Sicht der "educación popular" dem Ansturm der audiovisuellen Medien (Fernsehen, Internet, Videospielen) begegnen, die heute nicht mehr wegzudenken sind und selbst die formelle Schule zu verdrängen drohen? Carlos Aldana: Die Jugendlichen von heute wachsen in einem soziovirtuellen Raum auf. Ihr Umfeld, ihr Referenzrahmen, ihr Leben ist geprägt von natürlichen Elementen, von kulturellen Faktoren und von virtuellen Elementen. Bis vor wenigen Jahren beeinflussten auch uns vor allem noch die ersten beiden Punkte unser Leben: Man beschäftigte sich mit der Natur und der Kultur, die beide von der Gesellschaft, in der man lebte, geprägt waren. Nun ist das Virtuelle dazugekommen, und man muss dies sehr ernst nehmen. Das Virtuelle existiert und wird weiterexistieren und sich weiterentwickeln, sowohl quantitativ wie qualitativ. Eine alternative Pädagogik muss sich heute mit diesen Veränderungen auseinandersetzen. Man muss sie kennen, um ihre möglichen schädlichen oder kreativen Einflüsse zu beurteilen. Wir können es uns nicht leisten, diese Veränderungen zu ignorieren. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass alle Virtualität der Welt die historischen Probleme nicht einfach auslöschen. Es wird weiterhin Armut, Ungerechtigkeit, Marginalisierung und Rassismus geben. Wir dürfen uns nicht verblenden lassen von dem Virtuellen, aber wir müssen wissen, wie auch wir es nutzen und aus ihm Vorteile ziehen können. Argenpress: Mit den Privatisierungen im Rahmen der neoliberalen Politik des Kapitalismus der letzten Jahre ist auf der ganzen Welt die Bildung zur Handelsware verkommen und der service publique wurde immer mehr zurückgedrängt. Wie kann dem begegnet werden? Carlos Aldana: Das Informelle kann nicht privatisiert werden. Man wird die organisatorischen Kapazitäten der Volksbewegung nicht privatisieren können, deshalb ist es auch wichtig, mit diesen Sektoren weiter zu arbeiten. Es gibt Leute, die sagen, dass die "educación popular" heute keinen Sinn mehr macht. Ich glaube, sie macht mehr Sinn denn je. Wir haben heute eine gewaltige Krise im Finanzsystem, was wir seitens der "educación popular" ausnützen müssen. Wir befinden uns in einer strukturellen Krise. Ich will damit nicht sagen, dass die Welt vor dem Untergang steht, aber wir befinden uns in einer tiefen Krise, die uns vielleicht die Chance für die Entwicklung neuer Modelle bietet. Es ist eine Chance, die kritische Debatte über die Privatisierungen wieder neu aufzunehmen. Der Höhepunkt der Privatisierungen ist vorbei, denn die Krise diktiert andere Prioritäten. Ob die Privatisierungsideologie aufgeschoben oder aufgehoben ist, wage ich nicht vorauszusagen. Viel ist in den letzten Jahren im Bildungsbereich privatisiert worden, aber es gibt noch einen Rest, der verschont blieb, und den gilt es nun zu verteidigen. In Guatemala existieren unglaubliche Daten: Im Vorschul- und im Sekundarbereich ist die Zahl der privatisierten Angebote immens. Im Sekundarbereich zum Beispiel besuchen 77% der SchülerInnen eine Privatschule. Das ist eine gefährliche Tendenz: Die "besten" Jahre ihrer Jugend in der Zeit, wo sie ihre Werte, ihre Ideologien und ihr Weltbild entwickeln, befinden sich diese Jugendlichen in privaten Institutionen, die jede auf ihre Weise politischen oder ideologischen Interessen gehorchen. Diese Entwicklung muss rückgängig gemacht werden. |
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