65 Jahre Guatemaltekische Revolution - Persönliche Anmerkungen zum 20. Oktober von Stephan Brüess
Fijáte 446 vom 21. Oktober 2009, Artikel 4, Seite 5
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65 Jahre Guatemaltekische Revolution - Persönliche Anmerkungen zum 20. Oktober von Stephan Brüess
Mit dem 20. Oktober verbinde ich einige sehr persönliche Erlebnisse. Als ich das erste Mal nach Guatemala reiste, wurde die Guatemaltekische Revolution von Juan José Arévalo gerade 50 Jahre alt. Bei regnerischem Wetter versammelten sich Maya-Priester und -AktivistInnen, Studierende der Universität San Carlos (USAC) und GewerkschafterInnen zur Demonstration und Kundgebung am Präsidentenpalast. Die bekanntesten Frauen der Volks- und Indígena-Bewegung, Rosalina Tuyuc (Witwenverband CONAVIGUA) und Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú, hielten Reden, in denen sie an die Errungenschaften des guatemaltekischen Frühlings (1944-54) erinnerten. Und ich sollte in diesen Tagen mit einem Protagonisten jener Zeit zusammentreffen: Alfonso Bauer Paíz, Don Pancho, damals in verschiedenen Funktionen in den Regierungen Arévalo und Arbenz tätig, unter anderem als Arbeits- und Wirtschaftsminister. Er war somit verantwortlich für die damals unerhört fortschrittlichen Gesetze zum Arbeits- und Streikrecht, zur Gewerkschaftsfreiheit, zur 8-Stunden-Woche und zur Sozialversicherung. Auch die Landreform wollte er in Angriff nehmen, also die Reform, die den letzten Auslöser für den Putsch von 1954 gab. Guatemala wurde vor 1944 von einem Diktator namens Ubico regiert, der sich für Napoleon hielt und den Nachbau des Eiffelturms auf eine Strassenkreuzung setzte. Unter ihm gab es auch das sog. Vagabundengesetz, das jede Person, die ohne Arbeit war, zu Zwangsarbeit verpflichten konnte. Analphabetismus war für ihn Programm. Wirtschaftspolitisch gesehen jedoch war er die Marionette der United Fruit Company (UFC), der die Eisenbahn sowie die Häfen im Osten und Südosten des Landes gehörten und die so das Land als Staat im Staat beherrschte. Die Landreform, die Don Pancho unter Präsident Arbenz durchführen wollte, sah die Enteignung der United Fruit Company gegen Entschädigung vor, ein Akt der Aggression gegen die Mächtigen der USA, die - wie Bauer Paíz 2004 vor dem US-Kongress genüsslich nachwies - in grosser Zahl Aktionäre des UFC waren. Ein Putsch, geplant von der CIA, machte der sozialen, nicht sozialistischen Politik ein jähes Ende. Es sollten sich anschliessend 30 Jahre lang viele Miltärdiktatoren und wenige Zivilisten als Präsidenten die Klinke in die Hand geben. Eine Politik der verbrannten Erde folgte, die viele Tausend Tote und ebenso viele Flüchtlinge produzierte. Nach oben |
Don Pancho war, als ich ihn 1994 traf, 76 Jahre alt und beriet die Ständigen Kommissionen der Flüchtlinge (CCPP), über deren Arbeit ich für meine Diplomarbeit recherchierte. Er hatte einen kleinen, mit unzähligen Büchern vollgestellten Raum im Büro der CCPP, und er wurde genau zum 50. Jahrestag der Guatemaltekischen Revolution mit Ehrungen überhäuft: Ehrendoktorwürde der USAC und Auszeichnung durch die Stiftung Menchú (bei der ich selbst zugegen war). Ich kaufte später seine Autobiographie "La Historia No-Official de Guatemala", in der eine Innenansicht der Revolution und ihres gewaltsamen Endes geschildert wird. Damit war das, was am 20. Oktober 1944 geschah, für mich nichts Abstraktes, Entferntes mehr, sondern etwas Konkretes, Nahes. Schon bei meinem ersten Aufenthalt war der 20. Oktober ein Nationalfeiertag. Während die Volksbewegungen auf die Strasse gingen, hielten die Intellektuellen Foren ab, um über die Geschehnisse und die Lehren, die daraus zu ziehen seien, zu theoretisieren. In der USAC wurde ein Film gezeigt über die Protagonisten des politischen Frühlings. Und auch die Präsidenten, von welcher Partei auch immer, hielten und halten jedes Jahr salbungsvolle Reden über die Demokratie und die ihnen so am Herzen liegende Sorge um das Wohlergehen des breiten Volkes. Doch wie sieht die Realität ihrer Politik aus? Gewerkschaften dürfen offiziell arbeiten und streiken, aber nicht selten nur unter Lebensgefahr. Es gibt eine Art Sozialversicherung und neuerdings einen Mindestlohn. Aber hat das an den erbärmlichen Zuständen der Mehrheit des Volkes irgend etwas geändert? Wird nicht doch und nach wie vor eine Politik nur für die reichen Familien gemacht, aus denen die Präsidenten stammen? So bleibt notwendigerweise ein heuchlerischer Beigeschmack, wenn die Mächtigen auch dieses Jahr wieder Lobhudeleien auf die Zeit absondern, die an einem 20. Oktober vor 65 Jahren begann. Fijáte, Señor Presidente. Don Pancho lebt noch immer. Er könnte Dich aufklären, über das, was er damals gemacht hat und über das, was auch heute politisch notwendig wäre. Fijáte? |
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