Frauenmorde und Straflosigkeit
Fijáte 446 vom 21. Oktober 2009, Artikel 1, Seite 1
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Frauenmorde und Straflosigkeit
In der Zeitschrift Pueblos vom 22. September 2009 berichtet Paloma Lafuente über das Phänomen des Feminicidio*, d.h. der brutalen und sexistisch konnotierten Ermordung von Frauen, oft begleitet von Vergewaltigung und Tortur, welches seit Ende der 90er Jahre - nach Abschluss der Friedensabkommen und mit der Festigung der Frauenbewegung - verstärkt anzutreffen ist. Sie setzt diese Erscheinung mit dem Fehlen eines funktionierenden Rechtssystems und der Bürgerkriegsvergangenheit in Zusammenhang. Wenn in nur 16 Tagen 26 Frauen auf brutale Weise in der Schweiz ermordet würden, was für Auswirkungen hätte dies? Wie viele Demonstrationen, Ermittlungen und Anklagen würden stattfinden, wenn man in den Strassen von Berlin die Leichen von 26 Frauen fände? In Guatemala, dem Land, in dem wirklich so viele Frauen ermordet werden, ist die einzige Folge, dass die Fälle archiviert werden, da es keine Beweise gibt oder die Familien der Opfer Angst haben, Nachforschungen anzustellen. Man rechnet, dass mehr als 4300 Frauen in Guatemala während der letzten acht Jahre ermordet wurden und dass dabei extreme Gewalt und Brutalität wie Verstümmelung oder Strangulierung angewendet wurden. ExpertInnen reden von einem tiefen Hass, der sich gegen Frauen richtet und ein Produkt der 36 Jahre Bürgerkrieg ist. In einem Land, in dem 56,2 % der EinwohnerInnen unter der Armutsgrenze leben, schaffen Straflosigkeit, Korruption, Unsicherheit und Ungleichheit ideale Bedingungen, um eben diese Verhältnisse zu reproduzieren. Jeden Tag finden wir Mitteilungen in den Nachrichten, die uns von der Ermordung von Frauen in Lateinamerika berichten. Mexiko und Guatemala übernehmen dabei die "Führung". Und jedes Jahr erweitern sich die Massnahmen der Organisationen der Vereinten Nationen, um die Frauen zu unterstützen, ebenso wie die Delegationen internationaler ExpertInnen zunehmen, welche über diese bedauerliche Situation alarmieren. Trotz dieser Bemühungen produzieren die Inkompetenz der staatlichen Einrichtungen und die fehlende Koordinierung zwischen der Arbeit der Zivilen Nationalpolizei (PNC) und dem langsamen und unorganisierten Justizsystem eine Spirale der Straflosigkeit und mangelnder Operativität. Dadurch verschwinden die Ermordungen von Hunderten von Frauen in der Unsichtbarkeit. Die ungerechte Behandlung und die Schuld, die man den Opfern und ihren Familien zuweist, sind jene Facetten des Phänomens, die am meisten die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und vor allem auch einen wichtigen Ansatzpunkt für die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen bieten. In den meisten Fällen werden die Frauenmorde archiviert, weil man davon ausgeht, dass die Opfer zu kriminellen organisierten Banden gehörten oder Sexarbeiterinnen waren. Allerdings ist es offensichtlich, dass die Mehrheit der Ermordeten junge Frauen sind, die in den Textilfabriken (maquilas) arbeiteten oder Studentinnen, die spätabends nach Hause in die abgelegenen Viertel der Hauptstadt zurückkehrten. Organisationen wie Amnesty International alarmieren schon seit Jahren über diese dramatische Situation und über das Fehlen jeglicher Hinterfragungen von Seiten der guatemaltekischen Autoritäten. Obwohl, wie Amnesty International 2005 berichtete, internationale Abkommen ratifiziert und Gesetze erlassen worden sind, "wurden diese nicht effektiv angewendet, und nur wenige Male haben sie dazu gedient, zu verhindern, dass Frauen Gewalt erleiden". Laut Daten des World Economic Forum besetzt Guatemala, was Gleichstellung zwischen Frauen und Männern angeht, den 106. Platz von den insgesamt 128 ausgewerteten Nationen. Neben der existierenden Diskriminierung und Ungleichheit aufgrund des Geschlechts wirken Armut und Angehörigkeit zur indigenen Bevölkerung als verschärfende Faktoren. Um diesen Zuständen entgegenzuwirken, wurde im Mai 2008 das Gesetz gegen Femicidio* und andere Formen von Gewalt gegen Frauen erlassen. Zwischen 25 und 50 Jahren Gefängnis sieht das Gesetz vor, in der Realität wurden die gesetzten Ziele aber bisher nicht erreicht. Laut der guatemaltekischen Frauenorganisation GGM "gab es zwischen 2007 und 2008 insgesamt 1414 gewaltsame Tode von Frauen und 1101 Anklagen, bei denen es zu 185 Gerichtsbeschlüssen kam: 121 Verurteilungen und 64 Freisprüche". Gleichzeitig üben die Frauenorganisationen des Landes weiterhin Druck aus, damit die Gerichtsurteile vollstreckt werden, die Mehrheit der Delikte strafrechtlich verfolgt wird, und sie hinterfragen ausserdem die Effizienz des Obersten Gerichtshofes und der Staatsanwaltschaft. Friedensabkommen und StraflosigkeitZwischen 1960 und 1996 litt Guatemala unter einem internen Konflikt, der 200'000 Todesopfer und Verschwundene forderte und Wunden schuf, die als Wurzel des aktuellen Klimas von Gewalt gegen Frauen zu sehen sind. Die Friedensabkommen von 1996 erschienen wie ein Licht am Ende der dunklen Kriegsjahre und sollten den Frauen eine Möglichkeit geben, ihre ihnen bislang verweigerten Rechte zu gewähren. Wie die Direktorin der Nationalen Koordination für die Prävention von Gewalt gegen Frauen (CONAPREVI), Hilda Morales, zugab, "ist das Töten von Frauen in Guatemala wie das Töten von Fliegen: es ist unwichtig". Nur 26 von 100 Frauenmorden werden laut einer Studie der GGM strafrechtlich untersucht. Nach oben |
Dies führt laut Hilda Morales dazu, dass "die Verantwortlichen weiterhin zuschlagen, vergewaltigen und töten, da sie wissen, dass ihnen nichts passieren wird". In Guatemala gab es schon immer Gewalt gegen Frauen, allerdings "sind die Formen der Gewalt der letzten Jahre ein Nachgeschmack des internen Krieges, wo es den Soldaten erlaubt war, Schreckenstaten an Frauen zu begehen, die nicht nur sexueller Natur waren, sondern auch morden und Verstümmeln beinhaltete". Für Walda Barrios-Klee, Präsidentin der Nationalen Union Guatemaltekischer Frauen (UNAMG), ist "die Straflosigkeit eines der Merkmale des Feminicidio. Und deshalb brauchen wir einen kulturellen Wandel: von der Hasskultur, die uns vom Bürgerkrieg vererbt wurde, zu einer Kultur des Friedens und des Respekts aller Lebensformen". Mit der Unterzeichnung der Friedensabkommen begann die eigentliche harte Arbeit der sozialen und psychologischen Transformierung von Tausenden von Frauen, deren Rechte verletzt wurden, die vergewaltigt und ermordet wurden, ohne dass ihnen oder ihren Familien je Gerechtigkeit widerfuhr. Organisationen wie Oxfam International unterstützen die lokalen Frauenvereine und deren Bemühungen, den Frauen das Recht, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, und ein Leben in Freiheit zu führen, wiederzugeben. Auch sind die Ehefrauen, Mütter und Witwen die Protagonistinnen im Kampf um die verschwundenen Familienangehörigen, und es ist ihnen zu verdanken, dass die begangenen Massaker ans Tageslicht gebracht und damit Gerechtigkeit von den Militärdiktaturen der Zeit des Konfliktes gefordert wurden. Trotz aller Bemühungen ist es dem Staat bisher noch nicht gelungen, die Grundlagen für einen gerechten und andauernden Frieden zu schaffen und effiziente politische und juristische Institutionen zu konsolidieren. Nach einer Studie der UNAMG "erschuf man in Guatemala ein System absoluter Straflosigkeit, und ein Jahrzehnt von Anstrengungen reichten nicht aus, um den Rechtsstaat zu festigen". Dabei zeichneten sich die Frauenorganisationen bei den Friedensabkommen nicht nur durch aktives Handeln aus, wie Walda Barrios-Klee erklärte. Sie machten nicht nur als Kollektiv und Teil der Zivilgesellschaft während der Abkommen Druck, sondern traten auch danach für die Ausübung ihrer Bürgerrechte ein. Initiativen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzenDiejenigen, die am besten das grosse Leid kennen und verstehen, welches die Familien der Opfer des Feminicidio erfahren müssen, sind ohne Zweifel die Organisation, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Angesichts des Fehlens von Information und offizieller Ermittlungen in den grausamen Frauenmorden war die GGM die erste Organisation, die sich damit befasste, die Zahlen der Ermordeten zusammen zu suchen. Sie führte Studien und Diagnostiken durch, die belegen, wie gross der Prozentsatz von Ermittlungen, Verurteilungen und Straflosigkeit ist. Parallel dazu unterstützt die Organisation Frauen, die Opfer von Gewalt sind, durch psychologische, soziale und juristische Betreuung. Ausserdem ist ein unumgänglicher Teil ihrer Arbeit, Druck auf den Kongress auszuüben und juristische Alternativen zu fördern. Diese Bemühungen treffen auf andere Initiativen, die von ausserhalb Guatemalas kommen. Von Spanien aus unterstützen Frauenbewegungen aktiv diesen Kampf wie z.B. die Plattform von Künstlerinnen gegen Gendergewalt. Mitglieder dieser Plattform sind Frauen aus der Welt der Kunst, der Musik und des Kinos, angeführt von der Sängerin und Aktivistin Cristina del Valle. Durch verschiedene Aktionen visualisieren sie die Problematik, und während eines Besuches im Mai diesen Jahres sprachen sie vor dem Kongress und forderten ihn dazu auf, die Gesetze, die weiterhin Frauen diskriminieren, zu überholen. Die Effizienz offizieller Nachforschungen und der Kampf gegen Straflosigkeit werden von dem Druck abhängen, die die sozialen Bewegungen ausüben können. Man kann und darf sich nicht gleichgültig gegenüber einer Zahl verhalten, hinter der das Leben von Tausenden von Frauen stehen, deren Freiheit und Anrecht auf Gerechtigkeit auf dem Spiel stehen. * Kommentar der Redaktion: Innerhalb der Frauen- und feministischen Bewegung wird eine breite Debatte über die Verwendung der Begriffe Feminicidio und Femicidio geführt. Während der Begriff Femicidio/Femizid analog zum Begriff Homicidio/Homizid die Ermordung von Frauen im Gegensatz zur Ermordung von Menschen/Männern unterscheidet, wird der Begriff Feminizid/Feminicidio analog zum Begriff Genozid/Genocidio verwendet und schliesst eine systematische und politische Komponente ein. So erstaunt es nicht, dass das entsprechende guatemaltekische Gesetz sich an die Homizid - Femizid-Analogie hält und nicht an die vor allem in feministischen Kreisen verbreitete Genozid - Feminizid-Analogie, da man sich sonst plötzlich auch mit der Genozid-Frage auseinandersetzen müsste. |
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