Gewaltsame Räumung der Finca Nueva Linda, Retalhuleu
Fijáte 318 vom 8. Sept. 2004, Artikel 4, Seite 4
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Gewaltsame Räumung der Finca Nueva Linda, Retalhuleu
Retalhuleu, 1. Sept. Eine Woche bevor der Zeitraum von 90 Tagen endete, in dem die Regierung auf die Forderung der BäuerInnen vom 8. Juni definitive Lösungsvorschläge für die Landfrage präsentieren sollte, wurde am 31. August die Finca Nueva Linda im Munizip Champerico, Retalhuleu von 1000 Spezialkräften der Nationalen Zivilpolizei (FEP), unter Gewalt- und Waffenanwendung geräumt. Rund 1´500 Personen halten die Finca als Druckmittel besetzt, um das Wiederauftauchen ihres Kameraden, dem früheren Administrator der Finca, Héctor Réne Reyes, zu fordern, der seit genau einem Jahr verschwunden ist. Die geräumte Finca gehört dem spanischen Grossgrundbesitzers Carlos Vidal Fernández, der zusammen mit seinen Sicherheitskräften von den BesetzerInnen für das Verschwinden von Reyes verantwortlich gemacht wird. Noch vor einer Woche erklärten die BäuerInnnen vor laufenden Fernsehkameras ihre Bereitschaft, die Finca friedlich zu räumen, wenn sie dafür ihren Compañero wieder bekämen. Die genaue Zahl der Opfer der Gewaltaktion von Dienstag ist noch nicht bestätigt, die Rede ist von 6 toten Bauern und 3 toten Polizisten (bzw. von 5 toten Bauern und 7 toten Polizisten) und zahlreichen Verletzten. Über 30 BäuerInnen wurden verhafteten, von anderen ist ihr momentaner Aufenthaltsort nicht bekannt. Eine Reihe von JournalistInnen wurde von den Polizeikräften verprügelt, welche durch die Wegnahme von Fotound Filmequipment jegliche Beweise ihres vandalistischen Übergriffs auf die Finca vernichten wollten. Pressemitglieder bezeugten, dass die Bauern auf offenem Feld erschossen wurden, einige Agenten die Leichen mit Füssen getreten und ,,Victoria" (Sieg) gerufen hätten. Im Fall von einem 17-jährigen Campesino wurde unterdessen bestätigt, dass er mit einem gezielten Schuss in den Kopf exekutiert wurde, vier Leichen weisen Schüsse in die Rücken auf und Spuren brutaler Schläge. Weiter wurden Wohnhäuser und Vieh der BäuerInnen in Brand gesetzt. Inzwischen kursiert das Gerücht, dass weitere Leichen in Klärgruben geworfen wurden. Die entsprechenden Gruben wurden gefunden, konnten jedoch bisher mangels einer Exhumierungsverfügung nicht untersucht werden. Der Vertreter des BäuerInnenkomitees CNOC, Gilberto Atz, verwies darauf, dass die BesetzerInnen lediglich Widerstand gegen die bewaffnete Gewalt der Polizei geleistet hätten und auch der Kongressabgeordnete Alfredo de León (Allianz Neue Nation, ANN) bestätigte die Anzeichen, dass die Arbeitenden sich lediglich mit Gegenständen von Haus und Hof verteidigt hätten. Innenminister Carlos Vielmann jedoch beschuldigte die BäuerInnen, Mitglieder des organisierten Verbrechens zu sein, während die Polizei, ihrerseits nur mit Schlagstöcken bestückt, die Räumung vorgenommen hätte. (Was nicht stimmt, erschien doch in den Tageszeitungen Fotos von mit AK-47 bewaffneten PolizistInnen.) Vielmann wurde sekundiert von Präsident Bergers Version des Geschehens, gemäss der die RegierungsvertreterInnen versucht hätten, mit den BäuerInnen in Dialog zu treten, doch von diesen mit schussbereiten Waffen empfangen worden wären, ein Zeichen des fehlenden Willens zu einer Einigung mit der Regierung. Danach hätten sie nur ihre Pflicht getan und falls sie bewaffnet gewesen seien, dann bloss zu ihrer Verteidigung. Auch Militäreinheiten tauchten am Ort des Geschehens auf, laut Innenminister Carlos Vielman ,,um das Terrain zu sichern". Die BesetzerInnen von Nueva Linda gehörten nicht zur organisierten BäuerInnenbewegung sondern funktionierten stattdessen wie eine ,,paramilitärische" Struktur, so Berger, was ihn gemäss eigener Worte von der Verpflichtung entband, sich an den mit den BäuerInnenorganisationen abgemachten ,,Waffenstillstand" (keine weiteren Besetzungen seitens der Campesin@s, keine Räumungen seitens der Regierung) zu halten. Eminente Verachtung handelte sich Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú durch ihren Kommentar gegenüber nationaler und internationaler Presse ein, in dem sie Vielmanns Anschuldigung gegenüber den BäuerInnen unterstützte und mit der Position der Regierung übereinstimmte, dass die BesetzerInnen ,,Delinquente" seien und dass es keinen Dialog gäbe, solange die Gemeindemitglieder ,,nicht ihre Waffen abgeben", die diese mutmasslich besässen. BäuerInnen, Indígenas und Ladin@s bewerteten diese Haltung der ,,Heldin und Verteidigerin der ethnischen Gemeinden und der Armen" indes als Anbiederung und politischen Seitenwechsel, zu dem sie sich durch ihren Posten als Botschafterin des guten Willens für die Umsetzung der Friedensverträge offenbar verpflichtet fühlt. Nach oben |
Das Vorgehen der Regierung wird weitläufig verurteilt. So bekundeten einige Kongressparteien wie die Revolutionäre Einheit Guatemalas (URNG), die Patriotische Partei (PP) und die ANN sowie die ArbeiterInnengewerkschaft (CGTG), das Erzbischöfliche Menschenrechtsbüro (ODHA), der Nationalrat der Vertriebenen von Guatemala (CONDEG) und die Gruppe gegenseitiger Hilfe (GAM) den BesetzerInnen von Nueva Linda ebenso ihre Solidarität wie die BäuerInnenorganisationen. Rafael Chanchavac vom CNOC nahm folgendermassen Stellung: ,,Wir werden nicht akzeptieren, dass die BäuerInnen wie VerbrecherInnen behandelt werden oder behauptet wird, dass sie am Drogenhandel beteiligt seien. Auch wenn sie nicht Mitglied unserer Organisation sind, gebührt ihnen unsere moralische Unterstützung." Gilberto Atz (CNOC) bezeichnet die Räumung als Bruch des Pakts zwischen BäuerInnen und Regierung und eindeutiges Zeichen für die bestehende Repression durch den Staat, dessen Anführer, Präsident Berger, allein die Interessen der Oligarchie vertrete. Die Gewalt vom 31. August erinnere an die militärischen Massnahmen während des bewaffneten internen Konflikts. In der Hauptstand fanden sich am 1. September rund 500 Personen spontan zu einem Demonstrationszug zusammen, um dem ,,Tag der Trauer für den Campesin@Sektor", wie der umgehend genannt wurde, zu gedenken. In Übereinstimmung mit dem CNOC hält Menschenrechtsprokurator Sergio Morales das Innenministerium und den Departementsgouverneur für die Verantwortlichen und wiederholte bei seiner Anhörung vor dem Kongress, von dem er genauso wie Innenminister Vielmann zur Aufklärung des Geschehens zitiert wurde, seine Feststellung der Tatsachen, dass die BäuerInnen durch ihre Besetzung der Finca kein Land, sondern lediglich Justiz im Fall des verschwundenen René Reyes gefordert hätten. Im Gegenzug von dessen Auslieferung und der Verhaftung des/r Verantwortlichen hätte die Besetzung beendet werden sollen. Die PDH hat unterdessen eine Untersuchung der Geschehnisse eingeleitet und will in mindestens einem Fall Anklage wegen aussergesetzlicher Hinrichtung gegen Angehörige der Polizei erheben. Der Kongress verurteilte das Massaker an den besetzenden BäuerInnen einstimmig und legte in seiner Sitzung vom Mittwoch, dem 1. September, eine Gedenkminute für die Opfer und deren Familien ein. Auch wenn der Kongressabgeordnete des Departements von der Nationalen Einheit der Hoffnung (UNE), Raúl Robles ebenfalls darauf verwies, dass es sich bei der Besetzung nicht um eine Aktion der Landforderung handelte, bewertete CNOC-Leiter Daniel Pascual den Vorfall als Anzeichen für das potentielle Ausmass, das der Konflikt in der nächsten Zeit annehmen könnte: In Guatemala gibt es 900 Landkonflikte, 130 besetzte Fincas, auf rund 50 von ihnen stehen Räumungsbefehle aus. |
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