Von Desaster zu Desaster - welche Lehren wurden gezogen?
Fijáte 356 vom 29. März 2006, Artikel 1, Seite 1
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Von Desaster zu Desaster - welche Lehren wurden gezogen?
Gut sechs Monate ist es her, dass der Hurrikan Stan Teile Guatemalas unter Wasser und Schlamm setzte und Infrastrukturen, Lebensgrundlagen und Menschenleben zerstörte. Viele der direkt Betroffenen leben heute noch in Provisorien, die wohl zu ihren definitiven Unterkünften werden. Viele Menschen konnten ihre Angehörigen noch nicht bergen und beerdigen. Viele Strassen führen durch ausgetrocknete Flussbette statt über Brücken - und in ca. sechs Wochen beginnt die nächste Regenzeit, für die eine steigende Hurrikantendenz vorausgesagt wurde. Der folgende Artikel von Gisela Gellert aus der Zeitschrift Diálogo zieht Bilanz über den Wiederaufbauprozess nach Stan. Ende 2000 veröffentlichte das Studienzentrum Flacso eine Publikation über die Auswirkungen und die daraus gezogenen politischen Konsequenzen zwei Jahre nach dem Wirbelsturm Mitch. Darin wurde festgehalten, dass Naturkatastrophen konjunkturelle Themen sind, die, ist die Aktualität einmal verflogen, nur noch von einigen "SpezialistInnen" weiterverfolgt werden. So wurde zum Beispiel in Guatemala nach dem verheerenden Wirbelsturm Francelia im Jahr 1969 das Nationale Notfallkomitee (CONE) gegründet, Vorläuferin der heutigen Nationalen Koordination zur Reduktion von Desastern (CONRED), und nach dem Erdbeben vom 4. Februar 1976 entstand das Komitee zur Nationalen Rekonstruktion (CRN), das im Jahr 1994 wieder aufgelöst wurde. Es ging diesen Organisationen in erster Linie um sofortige Nothilfe und nicht um die Entwicklung von integralen Politiken, mit denen solchen Katastrophen begegnet bzw. vorgebeugt werden kann. Diesbezügliche Initiativen kamen immer ins Stocken, sobald die erste Nothilfephase abgeschlossen war. Es wurde an einem Konzept festgehalten, laut dem eine Naturkatastrophe eine "Ausnahmesituation" ist. In der konkreten politischen Umsetzung bedeutet dies, dass sie nur alle paar Jahre eintrifft und sich im besten Fall die jeweils nächste Regierung mit den menschlichen und politischen Konsequenzen zu beschäftigen hat. Erste ErkenntnisseMit der Zunahme solcher Katastrophen konnte die konjunkturelle und momentbezogene Sichtweise nicht mehr länger aufrechterhalten werden, weder von der Regierung und dem Privatsektor, noch von der Zivilgesellschaft und der Mehrheit der Bevölkerung, die in den sog. Risikozonen lebt. Gemäss dem Internationalen Roten Kreuz lebt die Welt "von Desaster zu Desaster", Guatemala bildet dabei keine Ausnahme. Seit der zweiten Hälfte der 90er-Jahre nehmen (nebst Mitch und Stan) vor allem sich jährlich wiederholende, lokale Desaster wie Überschwemmungen und Erdrutsche zur Regenzeit sowie Dürre und Waldbrände zur Trockenzeit zu. Wobei es auch immer mehr nicht-jahreszeittypische Katastrophen gibt (z.B. finden rund 20% der Erdrutsche ausserhalb der Regenzeit statt). Seit Mitch hat sich der Diskurs aber verändert. Es wurde anerkannt dass "Katastrophen NICHT natürlich" sind, später vertrat man das Konzept, dass es "ohne Risikosituation keine Katastrophen gibt" und noch später wurde erkannt, dass "Risikosituationen soziale Ursachen haben und die Folgen einer nicht nachhaltigen Entwicklung sind". Heute geht es in der Diskussion also nicht mehr so sehr um die Schäden, die ein Desaster mit sich bringt, sondern um die sozialpolitischen Prozesse, welche Menschen in Risikosituationen treiben. Man hat erkannt, dass die Eindämmung von Risikosituationen etwas mit Entwicklung zu tun hat und dass in eine nachhaltige Entwicklung die öffentlichen und privaten AkteurInnen, die Zivilgesellschaft und vor allem die lokalen Strukturen einbezogen werden müssen. Der Begriff "Risikoanalyse" hat sich in den Wortschatz sowohl der AkademikerInnen, der Medien, der PolitikerInnen sowie der sozialen AkteurInnen eingeprägt, wird aber oft noch sehr klischeehaft verwendet und bezieht sich meist auf den traditionellen Umgang mit Notsituationen. Seitens der Entwicklungszusammenarbeit gibt es interessante Ansätze im Umgang mit Risiken. Das neue Verständnis der Problematik hat zu wichtigen Lernprozessen geführt, angefangen auf der Gemeinde- (Aufklärungskampagnen) bis hin zur universitären Ebene (Masterlehrgang in Risikoanalyse). Trotz solcher Fortschritte ist zu befürchten, dass das Thema Risikoanalyse einen ähnlichen Weg nimmt wie das Thema Umweltanalyse, mit dem es eng verbunden ist. Auch im Bereich Umweltschutz wurden wichtige Erkenntnisse gewonnen, es wurden Gesetze erlassen, Ministerien gegründet und trotzdem geht in Guatemala die Umweltzerstörung mit Siebenmeilenstiefeln voran und hat sozio-ambientale Auswirkungen: Überschwemmungen, Erdrutsche, Trockenheiten und Zerstörung der Wasserquellen. Betrachtet man die sozialen und materiellen Schäden, die Stan in der Region zurückgelassen hat, muss man sich ernsthaft fragen, was aus der Lektion Mitch gelernt wurde. Das Konzept der Risikoanalyse hat im regionalen Vergleich unterschiedliche Erfolge gezeitigt. So wurde z.B. in Nicaragua auf Gemeindeebene im Bereich Prävention und Umgang mit Katastrophen nach Mitch einiges erreicht, in Guatemala hingegen nicht. Aber auch solche auf den ersten Blick erfolgreiche Konzepte wie sie in Nicaragua angewendet werden, müssen längerfristig und auf ihre Nachhaltigkeit überprüft werden. Das Beispiel Senahú, Alta VerapazNach einem grossen Erdrutsch im Jahr 2000, der 13 Todesopfer forderte und Dutzenden von Familien die Häuser zerstörte, haben sich zahlreiche staatliche Institutionen und internationale Hilfsorganisationen dem Wiederaufbau (unter Berücksichtigung einer Risikoanalyse und unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung) verpflichtet. Diese Arbeit wurde in verschiedenen Publikationen als "erfolgreiches Beispiel" zitiert. Im Jahr 2005 ging in Senahú erneut ein Erdrutsch nieder, in der selben Schneise und über das selbe Wohnviertel. Saldo: 22 Tote, 627 Evakuierte, 57 zerstörte Häuser, insgesamt 1803 Betroffene. In den Medien wurde von "Korruption in staatlichen Institutionen, Wechsel innerhalb der lokalen Behörden und Widerstand der Bevölkerung" gesprochen. Nach oben |
Die grosse Frage ist, ob beim zweiten Wiederaufbau eine Risikoanalyse gemacht, ob diese veröffentlicht und bei den Wiederaufbauprojekten berücksichtigt wurde? Hier wird denn auch offensichtlich, dass man weder bei der Analyse noch bei der Projektentwicklung auf systematisch aufgearbeitete (sozial-)wissenschaftliche Erfahrungen zurückgreifen kann. Santiago Atitlán: Symbol des WiederaufbausAufgrund der Schwere der Schäden durch Stan (rund 100 Tote, 600 Vermisste, über 600 Familien in Notunterkünften, 25 Ganz- und 100 Halbwaisen, 77 Witwen) wurde das Dorf Panabaj in Santiago Atitlán von der guatemaltekischen Regierung als "Symbol des Wiederaufbaus" erklärt. Anfänglich lief alles Bestens: Auf einem von der Kirche zur Verfügung gestellten Gelände wurden temporäre Notunterkünfte aufgestellt, es wurden Pläne für die neuen Häuser gezeichnet, und es fehlte nur noch die Auftragsvergabe. Nicht gerechnet wurde hingegen damit, dass die Geschädigten ihre traditionelle Rolle als NothilfeempfängerInnen durchbrechen, sich in einer Organisation zusammenschliessen und ihre eigenen Forderungen aufstellen. Noch während der Tragödie gründeten die NachbarInnen, die bei der Bergung von Toten und Verletzten halfen, das Notkomitee zur Unterstützung der Maya-Tzutujil-Bevölkerung. Es wurden Gemeinschaftsküchen aufgebaut, Statistiken geführt und Antworten auf die dringendsten Fragen der unter Schock stehenden Bevölkerung gesucht. Schnell merkte das Notkomitee, dass, wenn erst mal die Nothilfe vorbei ist, an einen Wiederaufbau gedacht werden muss, der eine mittel- und längerfristige Perspektive haben und eine reale Verbesserung ihrer Lebenssituation einschliessen muss. So wurde das Notkomitee in den Verein zur Gemeindeentwicklung von Panabaj (ADECCAP) umgewandelt, eine gemeinnützige Organisation mit legalem Status, die in kurzer Zeit 480 Mitglieder zählte. ADECCAP hat kurz- und langfristige Ziele im Auge, will sich in einer partizipativen Gemeindepolitik üben, Einfluss auf die Kommunalen Entwicklungsräte (COCODE) nehmen, eine soziale Kontrolle über die Gemeindegelder und die Tätigkeiten der Gemeindebehörden ausüben und die Interessen der betroffenen Bevölkerung im Wiederaufbau und bei der längerfristigen Gemeindeentwicklung vertreten. Am 13. Januar organisierte ADECCAP ein öffentliches Forum, um unter breiter nationaler und internationaler Präsenz seine bisherige Arbeit und zukünftigen Ziele bekannt zu geben. Dabei wurde u.a. gefordert, dass die für den Wiederaufbau zuständige nationale Institution FONAPAZ mit den Bau von Häusern warte, bis eine Risikoanalyse gemacht ist. FONAPAZ hat nämlich vor, die neuen Häuser in Panabaj genau an dem Ort aufzustellen, wo der Erdrutsch niederkam und wo noch Hunderte von Leichen unter dem unterdessen eingetrockneten Schlamm liegen. ADECCAP hingegen fordert die Regierung auf, je nach Ergebnis der Risikoanalyse, die nahegelegene Finca "La Providencia" zu kaufen und für den Häuserbau zur Verfügung zu stellen. Das Resumée des Präsidenten von ADECCAP nach diesem Forum: "Wir haben eine Tür geöffnet zu einem Thema, das bisher nie öffentlich und unter Beteiligung der Bevölkerung diskutiert wurde". Die Forderung nach einer Risikoanalyse vor dem Wiederaufbau wurde u.a. von CONRED, dem Nationalen Komitee zur Reduktion von Katastrophen, aufgenommen, von den Lokalbehörden von Santiago Atitlán jedoch nicht. Man wolle Häuser, keine Studien, war die Meinung des Bürgermeisters, unterstützt vom Hilfsbürgermeister von Panabaj und dem Leiter der Notunterkünfte. So hat man sich denn gegenseitig in eine Pattsituation manövriert: Die Regierung vertritt die Position, man könne nicht mit dem Wiederaufbau beginnen, solange sich die Bevölkerung uneinig sei, VertreterInnen von ADECCAP werfen der Regierung vor, ihre Bedürfnisse und längerfristig angelegten Vorschläge nicht zu berücksichtigen, während die dritte Gruppe den sofortigen Hausbau fordert. An einer Volksversammlung vom 21. Januar, die eigentlich zu einer Klärung des Konflikts beitragen sollte, wurden die beiden Gruppen noch mehr gespalten, der Präsident von ADECCAP verliess unter Protest und in Begleitung von 300 Personen die Versammlung. CONRED hat sich unterdessen klar für eine Risikoanalyse ausgesprochen, FONAPAZ erklärte sich bereit, mit CONRED zusammenzuarbeiten, ob aber die Familien, die sich weigern, in die Risikozone zurückzukehren von der Regierung irgendeine Unterstützung bekommen, ist unklar. Soweit der Stand der Dinge Ende Januar 2006. Es wird sich zeigen, ob Santiago Atitlán zu einem "Symbol des Wiederaufbaus" wird und ob sich die Regierung an ihren selbst proklamierten Grundsatz hält, der beinhaltet: Förderung der Kommunikation, Konsenssuche und Koordination zwischen den Arbeiten der Bevölkerung und der Regierung, Stärkung der BürgerInneninitiativen sowie Transparenz seitens der Regierung, Einbezug einer sozialen Kontrolle und lokaler Bedürfnisse bei den Wiederaufbauplänen. |
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