"Behinderung ist kein Grund, um vom wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Leben ausgeschlossen zu sein"
Fijáte 307 vom 7. April 2004, Artikel 1, Seite 1
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"Behinderung ist kein Grund, um vom wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Leben ausgeschlossen zu sein"
In Guatemala leben rund 17% der Bevölkerung (ca. 1,8 Mio. Personen) mit einer Behinderung. Davon sind 58% Männer und 42% Frauen, 63% leben auf dem Land und 37% in den Städten. 13% wurden mit einer Behinderung geboren, 31% erlitten ihre Behinderung durch Arbeitsunfälle, 51% durch sonstige Unfälle. 5% sind behindert aufgrund von Kriegsverletzungen. 1999 schlossen sich Kriegsverletzte der Revolutionären Einheit Guatemalas (URNG) zur Guatemaltekischen Vereinigung von Personen mit einer Behinderung ,,Manuel Tot" (AGPD) zusammen, um gemeinsam die von der Regierung im Rahmen der Friedensabkommen übernommene Verantwortung gegenüber Kriegsverletzten einzufordern. Das Ziel der AGPD ist die Förderung der wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Entwicklung ihrer Mitglieder. Sie will Einfluss nehmen auf die staatliche Behindertenpolitik und Alternativen präsentieren, um körperlich und/oder psychisch behinderte Personen ins produktive Leben zu integrieren. Die AGPD versteht unter Behinderung: "Ein körperlicher, mentaler, funktionaler Mangel oder die Beeinträchtigung eines oder mehrerer Sinne aufgrund eines Unfalls, einer chronischen Krankheit oder von Geburt an, wodurch eine oder mehrere so genannte "normale" Aktivitäten beeinträchtigt sind. Diese Behinderung kann dauerhaft oder vorübergehend sein." Im folgenden Interview erzählt Arleti Maribel Colom, Psychologin der AGPD, von den Schwierigkeiten und Erfolgen ihrer Arbeit mit Menschen, die als Folge einer Kriegsverletzung heute mit einer Behinderung leben. Frage: Weshalb arbeiten Sie für die AGPD? Arleti Maribel Colom: Ich arbeite als Psychologin der AGPD in den Regionen Ixcán (Primavera, Victoria 20 de Enero) und in Alta Verapaz (Xamán, Fray de Nueva Libertad). Ich habe diese Arbeit gewählt, weil ich gerne mit Menschen zusammen arbeite, speziell mit den Leuten auf dem Land. Es ist wichtig, diese andere Realität unseres Landes zu kennen, sie selber zu erleben und mit den Leuten zu teilen. Wenn ich in die Gemeinden gehe, lebe ich mit den Leuten zusammen, ich esse, was sie essen und schlafe dort, wo sie schlafen. Es ist völlig anders, als mit Menschen hier in der Stadt zu arbeiten. Frage: Vor zwei Jahren hat man mir erzählt, dass es sehr schwierig ist, eine Psychologin oder einen Psychologen zu finden, der unter diesen Bedingungen (viele Reisen aufs Land und verhältnismässig schlechte Entlohnung) arbeitet. Weshalb machen Sie es trotzdem? A.M.C.: Es ist tatsächlich nicht ganz einfach. Ich lebe quasi aus dem Rucksack. Wenn ich losziehe, habe ich alles mit dabei, was ich für die nächsten zwei Wochen brauche, inklusive Toilettenpapier, denn das ist oft schwierig zu bekommen. Die Transportmittel auf dem Lande sind sehr einfach. Wenn es keinen Bus gibt, mache ich Autostopp, fahre mit Lastwagen oder Pickups mit, setze mich auf Pferde oder Maultiere oder gehe zu Fuss. Dafür ist die Arbeit in den Gemeinden sehr vielfältig. Ich arbeite mit Gruppen, mache Einzelberatungen, oder, wenn es gewünscht ist, gebe ich auch einen Workshop zu irgendeinem Thema. Wenn ich in den Gemeinden bin, bin ich ganz und gar für die Leute da, es gibt keinen Stundenplan, keinen Feierabend und kein Wochenende. Aber ich liebe diese Art von Arbeit! Was die Bezahlung betrifft: Ich kann mit dem leben, was ich hier verdiene. Diese Art von Arbeit, zu diesen Bedingungen, kann ich machen, weil ich allein stehend bin, also keine familiären Verpflichtungen habe. Sonst wäre es viel schwieriger. Frage: Wie sieht der Arbeitstag einer Psychologin auf dem Lande aus? A.M.C.: Wie gesagt, es gibt keine fixe Struktur. Oft wünschen die Leute, dass ich früh am Morgen komme oder am Abend. Ich stehe den Leuten den ganzen Tag zur Verfügung und sie können zu mir kommen, wann immer sie wollen, um über etwas zu sprechen oder einen Rat einzuholen. Das heisst, ich versuche, so früh wie möglich schlafen zu gehen und stehe mit der Familie auf, bei der ich untergebracht bin, oft schon um halb sechs Uhr morgens. Ich bin die meiste Zeit in den Gemeinden, hier ins Büro komme ich nur, um Berichte zu schreiben und die Arbeit zu koordinieren. Im letzten Jahr habe ich auch hier in der Stadt Beratungen gemacht, aber das war oft schwierig, weil die Leute dann hierher reisen mussten und oft die Termine nicht einhalten konnten. Frage: Sie haben erwähnt, dass sie sowohl mit Gruppen wie auch in Einzelgesprächen arbeiten. Wie wird entschieden, wer in den Genuss einer Therapie kommt? A.M.C.: Wenn ich in einer Gemeinde zu arbeiten beginne, verschaffe ich mir zuerst einen Überblick über die strukturelle Situation in der Gemeinde und mache eine psychologische Diagnose mit den Leuten. Dazu benutze ich den Baum-Test von Karl Koch. Diesen Test mache ich auch am Schluss einer Behandlung und es ist immer sehr spannend, die beiden Zeichnungen zu vergleichen. Das Praktische an diesem Test ist, dass man dazu nur ein Blatt weisses Papier und einen Bleistift braucht. Ich lasse die Leute einen Baum zeichnen und interpretiere nachher die Zeichnung. Daraus lässt sich viel über die psychische Verfassung einer Person lesen. Wie gross wurde der Baum gezeichnet, in welcher Ecke des Blattes, hat der Baum viele oder wenig Äste, hat er abgebrochene Äste, ist der Stamm dick oder dünn, hat er Verletzungen, wie sind die Wurzeln? Unterdessen bin ich auch dazu übergegangen, die Leute einen Menschen zeichnen zu lassen. Im Moment bin ich gerade daran, solche Zeichnungen von Menschen zu analysieren. Das ist total interessant, weil die meisten Leute sich selber zeichnen und ich Dinge daraus lesen kann, die sie mir nicht erzählen. Aufgrund dessen, was mir die Leute erzählen und was ich aus den Zeichnungen lese, entscheide ich dann, wie ich mit den Leuten arbeite. Als an einem Ort in den Gesprächen immer wieder über Alkohol gesprochen wurde, schlug ich vor, dieses Thema etwas genauer anzuschauen. Die Leute waren sehr offen und wünschten, dass auch die Jugendlichen mit dabei waren. In Gruppen arbeiten wir z.B. auch zu den Themen Depression, Selbstbewusstsein, innerfamiliäre Beziehungen, denn oft isoliert sich entweder die behinderte Person selber oder die Gemeinschaft stellt ihr Hindernisse in den Weg. Frage: Arbeiten Sie auch mit Frauengruppen allein? A.M.C.: Ich arbeite immer in gemischten Gruppen. Die Frauen in diesen Gruppen sind sehr stark und oft sind sie es, die das Thema bestimmen, an dem wir arbeiten. Ich finde es sehr bereichernd, mit gemischten Gruppen zu arbeiten, es findet eine Interaktion statt, die mir wichtig erscheint. Männer und Frauen müssen lernen, einander zuzuhören und sich ernst zu nehmen. Es ist etwas anderes, wenn ein Mann von seiner eigenen Frau oder von seinen Kindern zu hören bekommt, wie sie unter seinem Alkoholismus leiden, als wenn ich das sage. Wenn es Themen gibt, über die eine Frau nicht sprechen kann oder will, kommt sie nachher oft allein zu mir und sucht das Gespräch. Frage: Was ist das Schwierigste und was ist das Schönste an Ihrer Arbeit? A.M.C.: Das ist jetzt sehr persönlich, aber das Schwierigste für mich sind jeweils die Toiletten. Oft gibt es keine Latrinen sondern nur ein Ast und darunter ein Loch. Das braucht ein unheimliches Gleichgewicht, das ich nicht immer habe! Was mir im Sommer zu schaffen macht, ist der Wassermangel. Ich musste mich schon in Wasserpfützen waschen, in denen die Kaulquappen herumschwammen und die grosse Herausforderung war, am Schluss keine Kaulquappen in den Haaren zu haben! Das Schönste ist wie gesagt das Zusammenleben und Teilen mit den Leuten. Frage: Wie ist die Bereitschaft der Leute, an ihren Problemen, an ihrer Vergangenheit zu arbeiten? A.M.C.: Das ist sehr unterschiedlich. Mit den Leuten im Petén war es sehr gut und ihre Bereitschaft gross. Im Projekt Verapaz ist es schwieriger. Diese Menschen brauchen in erster Linie medizinische Betreuung. Wenn ich frage, wie es geht, sagen die Leute, dass sie Schmerzen in ihren Wunden haben und es ist sehr schwierig für mich, tiefer zu kommen, solange die körperlichen Schmerzen so dominant sind. Es ist darum unsere Priorität, in diesen Gemeinden die medizinische Situation zu lösen. Denn sonst kommen wir in der psychologischen Behandlung nicht weiter. Oft ist es auch schwierig, tiefer zu gelangen, weil die Menschen im Leben noch nie gefragt wurden, wie es ihnen geht, wie sie sich fühlen. Und dann ist es klar, dass sie erst über ihr körperliches Befinden sprechen und es einiges braucht, damit sie ihr psychisches Befinden überhaupt wahrnehmen können. Für mich sind aber beide Befinden sehr wichtig und ich versuche immer, sowohl über die körperliche wie auch über die psychische Wunde zu sprechen. Oft ist es so, dass die Menschen, die sich am meisten dagegen wehren, es am nötigsten haben, auch auf psychologischer Ebene begleitet zu werden. Frage: Was hat sich verändert, seit Sie mit den Gruppen arbeiten? A.M.C.: Im Petén habe ich von August 2002 bis Juli 2003 gearbeitet, das war quasi der zweite Teil eines Projekts, das schon länger lief. In dieser Zeit erreichten wir eine Zunahme gegenseitigen Vertrauens, die Leute mit Behinderungen wurden besser in die Gemeinschaft integriert. Die Behinderten selber lernten, aus ihrer Isolation herauszukommen und Beziehungen zu knüpfen, sei dies familiärer, zwischenmenschlicher aber auch körperlicher Art. Wir erreichten auch, auf Gemeindeebene über spe- Nach oben |
zifische Probleme zu sprechen und sie anzugehen oder gar lösen zu können. Diese Veränderungen habe ich einerseits aus den Tests herauslesen können, zum anderen haben es die Leute auch selber wahrgenommen und gesagt. Das Projekt im Ixíl und Alta Verapaz hat erst jetzt im September begonnen. Dort sind wir jetzt erst einmal daran, den Weg zu bahnen, das Terrain zu ebnen, um mit der Arbeit in den Gemeinden beginnen zu können. Frage: Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach, sich an die eigene Geschichte zu erinnern? A.M.C.: Das ist absolut wichtig und wird von den Leuten auch gewünscht. Ein Mann hat mir gesagt, er wolle seine Geschichte erzählen, aber das würde zwei oder drei Tage dauern und er wollte, dass diese Geschichte öffentlich gemacht werde. Ich finde das super, hoffentlich hat er die Gelegenheit, seine Geschichte irgendwann irgend jemandem zu erzählen. Leider sind nicht alle Leute so weit wie dieser Mann. Viele verleugnen ihre Geschichte, wollen sich nicht erinnern oder wollen vergessen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur psychischen Gesundheit. Frage: Wie gehen die Leute, die mit einer Behinderung aus dem Krieg zurück gekommen sind, mit der Tatsache um, dass sich auf politischer Ebene nichts verändert hat, dass die Umstände, die zum Krieg geführt haben, noch genauso sind? A.M.C.: Viele Leute sind total frustriert. Zum Teil sagen sie: "Wir wurden ausgenutzt und werden auch heute noch ausgenutzt. Was haben wir erreicht?" Solche Sachen bekomme ich sehr oft zu hören. Meine Antwort ist dann: "Ihr habt das Fundament für die Zukunft gesetzt. Vielleicht werdet ihr die Früchte nicht mehr ernten, aber dafür eure Kinder." Ich halte nach wie vor die Friedensabkommen für einen wichtigen Erfolg, für den wichtigsten vielleicht. Immerhin gibt es heute ein Antidiskriminierungsgesetz, das verbietet, dass jemand diskriminiert wird. Es gibt Fortschritte und Erfolge, auch wenn sie minimal sind. Und das versuche ich den Leuten klar zu machen. Aber es ist schon so, die Leute wollen greifbare Veränderungen sehen. Frage: Welche Perspektiven kann die AGPD diesbezüglich bieten? A.M.C.: Ich glaube, vor allem auf der Informationsebene, wir klären die Leute über ihre Rechte als Menschen, die mit einer Behinderung leben, auf. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass es unter den KandidatInnen der URNG für die Wahlen vom vergangenen November verschiedene Personen mit Behinderungen gab. Das ist für alle sehr wichtig. Die URNG setzte damit ein Zeichen, dass sie diese Leute nicht vergessen hat. Und für die Behinderten ist es ein Zeichen, dass sie ernst genommen werden. Frage: Wie lange ist Ihre Arbeit noch notwendig? A.M.C.: Psychologische Arbeit braucht lange. Mit der Gruppe im Petén haben wir vier Jahre gearbeitet, jetzt in Alta Verapaz haben wir erst begonnen und ich hoffe, dass wir noch mindestens drei Jahre dort arbeiten können. Frage: Was machen Sie persönlich, um die tragischen Geschichten der Menschen zu verarbeiten? A.M.C.:...Nichts. Auf institutioneller Ebene gibt es nichts im Sinne von Supervision oder Intervision. Manchmal tausche ich mich mit KollegInnen aus, mit FreundInnen, die auch als PsychologInnen arbeiten. Doch diese sind in einem anderen Feld tätig. Es sind FreundInnen, die ich von meiner früheren Arbeit her kenne, wo ich mit AIDS-PatientInnen gearbeitet habe. Aber sonst... nichts. Herzlichen Dank für das Gespräch! |
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