Auf der Suche nach Sicherheit, Teil 1
Fijáte 382 vom 4. April 2007, Artikel 1, Seite 1
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Auf der Suche nach Sicherheit, Teil 1
Die Sicherheitsfrage beschäftigt im Moment die guatemaltkische Regierung und Bevölkerung wie kein anderes Thema. Seien es die alltäglichen Sicherheitsbedrohungen, denen die Menschen auf dem Arbeitsweg, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, beim Einkaufen oder in der Freizeit ausgesetzt sind, oder seien es die Un-Sicherheiten, die selbst staatliche Gefüge, wie gewisse Ministerposten und ganze Institutionen wie die Polizei ins Wanken zu bringen drohen - eine gangbare Lösung, wie dem Phänomen kurzfristig begegnet werden kann, kennt niemand. Wir veröffentlichen im Folgenden (und den zweiten Teil im nächsten ¡Fijáte!) eine differenzierte Analyse des Problems, die Carmen Rosa de León-Escribano in der Zeitschrift diálogo von FLACSO im März 2007 machte. León-Escribano ist Leiterin des Instituts für eine Erziehung zur nachhaltigen Entwicklung (IEPADES) und Mitglied der Beratenden Gruppe für Sicherheitsfragen der guatemaltekischen Regierung. Sicherheit und FreiheitDie jüngsten Ereignisse in Guatemala - die Ermordung dreier salvadorianischer Abgeordneter plus Begleiter, die Hinrichtung von vier der Tat verdächtigten Polizisten in einem Hochsicherheitsgefängnis, die Ausreise eines hohen Polizeifunktionärs, ohne dass er einer Untersuchung ausgesetzt werden konnte, ebenso wie die Tatsache, dass nichtautorisierte Personen an geheimdienstlichen und polizeilichen Aktionen der Zivilen Nationalpolizei (PNC) teilgenommen haben - machen deutlich, dass es nicht nur grosse Mängel im juristischen und Sicherheitssystem (inkl. Gefängnisse) gibt, sondern auch ein hohes Mass an Straflosigkeit, in dessen Schatten sich die Sicherheitskräfte und Mitglieder des organisierten Verbrechens bewegen. Dieser Situation liegt eine Reihe von getroffenen und unterlassenen Massnahmen verschiedener Regierungen zugrunde, ebenso das Fehlen einer öffentlichen Politik, die auf den gesellschaftlichen Bedürfnissen basiert und diese in politisches Handeln umsetzt. Die Sicherheit gehörte bisher zur "Kriegsbeute" derjenigen politischen Partei, die gerade an der Macht war; gleichzeitig wandelte sich die Polizei zu einem Instrument derer, die neben der gewählten Regierungen die Fäden der Macht in den Händen hielten. Die Vernachlässigung der Sicherheit als ein von der Verfassung garantiertes Allgemeingut kennzeichnet diese Entwicklungen, ebenso der Mangel an politischem Willen seitens der Regierungen, den zivilen Charakter der Sicherheit zu stärken. Um den jeweiligen konjunkturellen Notwendigkeiten nachzukommen, griffen die Regierungen auf die einfache Lösung zurück und beauftragten kurzerhand das Militär mit der Erhaltung der inneren Sicherheit. Dies führte zu einer Vermischung der Funktionen von Polizei und Armee und zur Vernachlässigung einer institutionellen Stärkung der Polizei. Das Fehlen einer mittel- und längerfristigen Strategie konvertierte die Polizei in eine reaktive Behörde, die sich immer noch der Praktiken der Vergangenheit bedient. Das Fehlen von Koordination zwischen den Justiz- und Sicherheitssystemen wird ergänzt von einem grossen Vakuum und vielen Grauzonen innerhalb der Zusammenarbeit der beiden Bereiche. Das Ergebnis des oben Beschriebenen ist eine Gesellschaft, die sich der zunehmenden Delinquenz ausgeliefert fühlt, die keine Rechtssicherheit hat und ebenso wenig Vertrauen in die staatlichen Institutionen zeigt. Dieses Un-Sicherheitsphänomen führt dazu, dass sich die Leute hinter Gitter und Alarmanlagen verschanzen, sich Waffen zulegen oder von privaten Sicherheitsagenten bewachen lassen. Nach und nach gibt die Bevölkerung ihre eigenen Freiheiten auf in der Hoffnung, das Sicherheitsgefühl zu erhöhen. Die Ironie an dem Ganzen ist, dass ja eigentlich die Sicherheit die Grundlage für Freiheit wäre. Doch wir machen uns täglich mehr zu Gefangenen in unseren eigenen Häusern und Wohnvierteln und schränken unsere Bewegungs- und Reisefreiheiten ein. Wir haben uns in einem Un-Sicherheitsknäuel verstrickt und sind zu gewalttätigen Lösungsansätzen bereit ohne zu merken, dass wir dadurch die soziale Gewalt verschärfen und repressive Massnahmen befürworten, um Probleme anzugehen, deren Ursache der Ausschluss, die Diskriminierung und die Ungleichheit sind. Weshalb funktioniert die Sicherheit nicht?Das Sicherheitsmodell von Guatemala hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten verändert. Während des internen bewaffneten Konflikts wurde ein Modell entwickelt, in dem die Interessen des Staates das Objekt von Sicherheit und Verteidigung waren. Jeder Bürger und jede Bürgerin, der/die sich gegen die Institutionen oder die offizielle Meinung aussprach, wurde der Subversion verdächtigt. Die Staatsinteressen waren verknüpft mit den Interessen mächtiger Gruppen, das Gemeinwohl blieb auf der Strecke und es kam zu einer Konfrontation zwischen dem Staat und seinen Institutionen auf der einen und der Mehrheit der Bevölkerung, die sich für wirtschaftliche und soziale Veränderungen einsetzte, auf der anderen Seite. Folge davon war die Etablierung von Sicherheitsapparaten, die auf Verfolgung und Repression setzten und die grundlegendsten Menschenrechte verletzten. Als Reaktion auf diese schmerzhafte Vergangenheit und in der Absicht, diese in Zukunft nicht mehr zu wiederholen, wurde seit Beginn der demokratischen Periode die Notwendigkeit einer Transformation des Staates betont. Eine Transformation hin zu einem Staat, der die Einhaltung der Menschenrechte und die BürgerInnenbeteiligung ins Zentrum seiner Aktivitäten und Politiken setzt und die Normen und Anwendung der Justiz beherzigt. Die Reform der Sicherheitsapparate ist ein fundamentaler Bestandteil einer solchen Transformation. Das Konzept zu verändern und das Sicherheitsmodell zu transformieren ist nicht einfach. Es geht nicht bloss darum, die Institutionen auszuwechseln sondern auch darum, die Gesellschaft als solche zu verändern und sie nicht-gewalttätige Konfliktlösungsansätze zu lehren. Deshalb ist es unabdingbar, in dieses neue Modell eine gemeinschaftsbezogene Vision zu integrieren und den präventiven Ansatz zu stärken. Dies erlaubt, Knackpunkte des sozialen Zusammenlebens zu definieren und Verhaltensweisen zu identifizieren, um diese kollektiv, über Aufklärung und Bildung in den grundlegendsten Sicherheitsbelangen, zu verändern. Es ist auch wichtig, das demokratische Sicherheitsmodell mit positiven Elementen lokaler Konfliktbearbeitungsmethoden zu ergänzen. Nach oben |
Die Reform des SicherheitssektorsDie Sicherheit in Guatemala basiert einerseits auf einem normativen Rahmen und hängt andererseits vom Handeln der zuständigen Institutionen ab. Die Sicherheitsdoktrin, die sich auch für eine Reform des Sicherheitssektors ausspricht, wurde im Kontext der Demokratisierung des Staates erarbeitet und stützt sich auf die 1985 überarbeitete Verfassung. 1995 unterzeichnete Guatemala das "Rahmenabkommen über demokratische Sicherheit in Zentralamerika", das ein regionales Sicherheitsmodell unterstützt, welches auf den Vorrang und die Stärkung einer zivilen Macht setzt, auf die Sicherheit der Personen und deren Besitz, auf die Überwindung von Armut und extremer Armut, auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung, auf den Schutz der Umwelt, auf die Bekämpfung der Gewalt, der Korruption, der Straflosigkeit, des Drogen- und Waffenhandels und auf eine Neuverteilung der finanziellen Ressourcen zugunsten der Lösung sozialer Probleme. Im Rahmen des Friedensprozesses wurde 1996 das Abkommen über die Stärkung der staatlichen Verwaltung und Aufgaben der Streitkräfte unterzeichnet. Darin geht es unter anderem um die Rolle der zivilen Polizei, die Schaffung eines zivilen und strategischen Geheimdienstes sowie um die Einführung einer Beratenden Gruppe in Sicherheitsfragen (CAS), wodurch VertreterInnen der Zivilgesellschaft an der Ausarbeitung öffentlicher Politiken teilhaben können. Die Aufgabe des Militärs wiederum wird auf den Schutz der Grenzen gegenüber Angriffen von aussen reduziert. Ebenfalls wird in dem Abkommen die Erarbeitung einer Sicherheitsagenda festgelegt, die ein sehr breites Konzept umfasst, die Einhaltung der Menschenrechte garantiert, den multiethnischen und mehrsprachigen sowie multikulturellen Charakter des Landes respektiert, die ökonomische Entwicklung an soziale Gerechtigkeit und Partizipation knüpft und eine demokratische Verfassung verspricht. Dies umzusetzen fordert natürlich eine Modifizierung des bisherigen Sicherheitsmodells. Das bisherige autoritäre, vertikale, repressive und kontrollierende Modell muss abgelöst werden von einem einschliessenden, auf Dialog beruhenden, horizontalen, die Bedürfnisse der einzelnen AkteurInnen berücksichtigenden Modell, in dem Sicherheit auf Solidarität und Organisation der Bevölkerung beruht. Ein solches Modell muss die Beziehung zwischen der Gesellschaft und dem Staat sowie das Vertrauen, speziell in Sachen Sicherheit, berücksichtigen und zum Ziel haben, die Polizei zur Mediatorin in sozialen Konflikten und zur grossen Verbündeten der Bevölkerung bei der Lösung ihrer alltäglichen Probleme zu erheben. In diesem Kontext kann man Sicherheit als einen permanenten Konstruktionsprozess bezeichnen, in dem sich eine Nachkriegsgesellschaft wie die guatemaltekische im Übergang befindet von einem autoritären Regime, das auf Repression und die Verfolgung von "Staatsfeinden" basierte, hin zu einer Institutionalisierung der öffentlichen Sicherheit in einem demokratischen Staat, der auf eine kollektive Entwicklung setzt, deren Kernelemente Prävention und Partizipation sind. In einem solchen Prozess ist es logisch, dass es zu einem Ringen zwischen der neuen Sicherheitsdoktrin und den daraus abzuleitenden Handlungsweisen und den Praktiken der Vergangenheit kommt. Eine institutionelle Reform zieht konsequenterweise auch organische Veränderungen nach sich, die sich in der Verhaltensweise gegenüber der Bevölkerung, in der Prioritätensetzung und schliesslich auch im Budget niederschlagen müssen. In dieser Übergangsphase ist zu beobachten, dass, während sich langsam ein Verständnis von Konfliktprävention und Opferschutz durchsetzt, in der nationalen Zivilpolizei nach wie vor Repression und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, wie in den zahlreichen Berichten des Ombudsmannes für Menschenrechte oder der sozialen und internationalen Organisationen immer wieder festgehalten wird. Das heisst nicht, dass die PNC nicht ihrer Aufgabe der Verbrechensuntersuchung und -bekämpfung nachkommen soll. Im Gegenteil, es braucht eine Institution, die die Bevölkerung vor delinquenten Übergriffen schützt, egal, woher die kommen. Diese Institution muss ausgebildet und darauf spezialisiert sein, Verbrechen vorzubeugen und/bzw. sie braucht die operativen Mittel, um diese zu untersuchen und aufzuklären. Dabei muss klar sein, dass sämtliche ihrer Aktionen streng nach dem Gesetz verlaufen. Es ist auch wichtig zu verstehen, dass Sicherheit und Justiz Teile desselben Systems sind. Die Polizei ist zuständig für die Vorsorge und Verhinderung von Verbrechen. Dabei arbeitet sie eng mit der Bevölkerung zusammen. Wird ein Verbrechen trotzdem begangen, muss die Polizei dafür sorgen, dass die Verantwortlichen verhaftet und dem zuständigen Gericht übergeben werden. Gleichzeitig muss sie sich um den Schutz der Opfer kümmern. In diesem Moment beginnt der andere Teil - die Justiz - in Aktion zu treten. Sie muss sich in erster Linie um die Entschädigung der Opfer kümmern und den Täter angemessen bestrafen, sobald seine Schuld erwiesen ist. Dazu ist das Beweismaterial wichtig, das die Polizei bei ihren Untersuchungen sichergestellt hat. Schliesslich, wenn der Täter schuldig gesprochen ist, muss dieser seine Strafe verbüssen. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass das Gefängnis nicht das letzte Glied in der Kette ist, sondern eine Phase der Rehabilitierung, damit der Täter sich wieder in die Gesellschaft integrieren kann. (Fortsetzung im nächsten ¡Fijáte!) |
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