Wahlkampf auf dem Lande
Fijáte 296 vom 5. Nov. 2003, Artikel 1, Seite 1
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Wahlkampf auf dem Lande
Immer öfter werden KandidatInnen für das Bürgermeisteramt nicht von Parteien gestellt, sondern von comités cívico. Diese BürgerInnenkomitees schliessen sich auf die Wahlen hin zusammen, gründen eine Organisation, stellen eineN KandidatIn sowie GemeinderätInnen auf und lösen sich nach den Wahlen automatisch wieder auf. 100 Personen (in der Hauptstadt 1000 und auf Departementsebene 500), die ins Wahlregister eingetragen sind und von denen mindestens 50% lesen und schreiben können (auf dem Land, in den Städten müssen 100% AlphabetInnen sein), können ein comité cívico gründen. Wahlkampagne auf dem Lande bedeutet ,,trabajo de hormigas" fleissig arbeiten wie die Ameisen, stets und unter zum Teil widrigen Umständen unterwegs sein, um irgendwo in einer abgelegenen Gemeinde das comité cívico und dessen Regierungsplan vorzustellen. Im folgenden Interview erzählen Vertreter des BürgerInnenkomitées Ri Jay aus Sipacapa, San Marcos, weshalb sie sich entschlossen haben, einen eigenen Kandidaten aufzustellen und wie ihr Regierungsprogramm 2004-2008 aussieht. (Das Interview wurde eigentlich mit dem Bürgermeisterkandidaten Francisco Bautista Sánchez geführt, die Redebeiträge anderer Mitglieder des Komitees sind im Folgenden unter Antwort aufgeführt, da ihre Namen nicht bekannt sind.) Frage: Wann und weshalb wurde das BürgerInnenkomitee Ri Jay gegründet? Antwort: Vor zwei Jahren haben sich Führungspersönlichkeiten aus verschiedenen Dörfern zusammengeschlossen, die eine gemeinsame Vision für die Entwicklung der ganzen Gemeinde erarbeiteten. Die einzelnen Dörfer in der Gemeinde Sipacapa sind sehr unterschiedlich entwickelt. Das hat damit zu tun, dass die Autoritäten nach Lust und Laune an einigen Orten Projekte durchführten und an anderen nicht. Die Mitglieder von Ri Jay haben alle im Laufe der Jahre gemerkt, was da gespielt wird, zum Teil durch eigene Erfahrungen, teilweise, weil sie Kurse besuchten und sich weiterbildeten. Ich selber z.B. habe Kurse in der Diözese San Marcos erhalten und höre immer die Sendungen von Radio ,,Voz de la Buena Nueva", wo über Partizipation, Demokratie, die Räte der Alten etc. gesprochen wird. Wir haben die Leute dann zu mehreren Treffen eingeladen. Am Anfang war es etwas schwierig, da einige ihre persönlichen Interessen verfolgten und nicht unser Solidaritätsverständnis teilten. Frage: Was bedeutet Ri Jay? Antwort: Ri Jay bedeutet ,,Haus für alle". Ein Haus, in dem sich die ganze Familie, Männer und Frauen, treffen, und in dem über einen Erfolg oder aber über Probleme gesprochen wird. Unsere Gemeindeverwaltung soll also ein Haus für alle sein, wo die Bedürfnisse angehört werden und Lösungen für die Probleme aller gesucht werden. Frage: Welche Ziele verfolgt das BürgerInnenkomitee? Francisco Bautista Sánchez (Bürgermeisterkandidat): Zum einen geht es uns darum, unser Bürgerrecht einzufordern und an den Wahlen teilzunehmen. Daneben ist es uns aber auch wichtig, das Geschick unserer Gemeinde in die eigenen Hände zu nehmen, mitbestimmen zu können, wo welche Projekte durchgeführt werden. Das ist auch der Grund, weshalb ich die Kandidatur angenommen habe. Die Gemeindeverwaltung soll wirklich ein Ort werden, der allen gehört, Männern und Frauen, Armen und Reichen. Wichtig ist einfach, dass alle diesen Ort respektieren. Ich wünsche mir, dass sich alle BürgerInnen als BesitzerInnen der Gemeindeverwaltung fühlen und wir gemeinsam die Entwicklung unserer Gemeinde bestimmen können. Frage: Wie garantieren Sie der Bevölkerung diese Partizipation? F.B.S.: Indem wir allen das Recht zur Mitsprache gewähren und sie einladen, mitzudenken und mitzuentscheiden. Unter dem aktuellen Bürgermeister haben sich die Entwicklungsräte gebildet, die langsam zu funktionieren beginnen. Diese wollen wir stärken und mehr einbeziehen. Wir wollen eine demokratische Gemeindeverwaltung sein, die im Dienste der Bevölkerung steht. Frage: Was verstehen Sie unter Demokratie? F.B.S.: Demokratie bedeutet, dass alle das Recht haben, ihre Meinung zu äussern ohne Angst haben zu müssen und ohne diskriminiert zu werden. Antwort: Demokratie heisst auch Freiheit. Wir sind alle freie BürgerInnen, die das Recht zur Partizipation haben, auf Gemeinde- wie auf Staatsebene. Dank der Demokratie können wir heute an den Wahlen teilnehmen. Die Diktaturen der 80er Jahre hatten uns verboten, uns in Gruppen von 5 oder mehr Personen zusammenzuschliessen. Frage: Sie sprechen zwar von Demokratie und davon, dass alle die gleichen Rechte haben. Wie steht es denn mit der Geschlechterdemokratie in Ri Jay? Weshalb sind keine Frauen auf Ihrer Liste? Antwort: Natürlich wollen wir in Ri Jay allen die Chan- ce geben, teilzunehmen, Männern, Frauen und auch den Jugendlichen. Selbstverständlich hatten wir Frauen auf der Liste. Als es aber darum ging, die Leute beim Obersten Wahlgericht einzuschreiben, hiess es in den Identitätspapieren dieser Frauen, dass sie nicht lesen und schreiben könnten, was nicht stimmt, denn die Frauen konnten unterschreiben. Viele Leute, die uns beitraten, gelten offiziell als AnalphabetInnen, obwohl sie unterschreiben können (und darum geht es letztlich) und wurden vom Wahlgericht nicht akzeptiert. In den lokalen Entwicklungsräten gibt es aber einige Frauen, die sehr aktiv sind. Frage: Wie haben Sie Ihren Regierungsplan erarbeitet? F.B.S.: Wir sind in die Dörfer gegangen und anstatt den Leuten falsche Versprechungen zu machen, haben wir sie gefragt, welches ihre dringendsten Bedürfnisse sind. In Zweiergruppen haben wir alle Dörfer besucht und haben so eine Übersicht über die Situation und akutesten Probleme der Leute erhalten. Mit Unterstützung des Movimiento de Trabajadores del Campo (MTC) haben wir diese Daten systematisiert und so eine Analyse der Lage in der ganzen Gemeinde erhalten. Aufgrund der Resultate dieser Befragungen haben wir unseren Regierungsplan erstellt. Mit diesem Plan besuchen wir im Rahmen der Wahlkampagne die Dörfer noch einmal und zeigen den Leuten, dass wir ihre Projekte in unseren Regierungsplan aufgenommen haben. Frage: Bei diesen Umfragen kam heraus, dass die grössten Probleme in den meisten Dörfern die Strassen und das Trinkwasser sind. Wie wollen Sie als zukünftiger Bürgermeister diese Probleme angehen? F.B.S.: Wir schauen zusammen mit den Gemeinden, wo es am nötigsten ist, ein Projekt durchzuführen. Und wenn eine Gemeinde fünf Projekte beantragt, müssen wir schauen und zusammen mit der Bevölkerung entscheiden, welches der Projekte das dringendste ist und welches noch etwas zurückgestellt werden kann. Denn es geht nicht, dass wir in einer Gemeinde fünf Projekte ausführen und in einer anderen, die es ebenso nötig hat, keines. Frage: Und was machen Sie, wenn es plötzlich heisst, Don Chico bevorzuge die eine oder andere Gemeinde, weil er dort selber wohnt oder Freunde hat? F.B.S.: Dafür gibt es die Koordination mit den munizipalen Entwicklungsräten. Nach oben |
Nicht ich bin es, der entscheidet, welche Projekte durchgeführt werden, sondern es sind Entscheidungen, die zusammen mit den Entwicklungsräten und der Bevölkerung getroffen werden. Wenn es erforderlich ist, müssen wir öffentliche Gemeindeversammlungen durchführen, damit alle Leute informiert sind, weshalb wir welche Entscheide treffen, und damit alle ihre Meinung dazu abgeben können. Das gibt auch uns die Möglichkeit, bekannt zu geben, an was wir arbeiten, was wir alles noch planen und wann wir in welcher Gemeinde welches Projekt durchführen. Wichtig ist, die Projekte transparent durchzuführen und die Leute zu informieren. Frage: Wie stellt sich das Comité Cívico zu dem Goldminenprojekt, das ein kanadisches Unternehmen in der Region plant? Antwort: Als wir zum ersten Mal von dem Minenprojekt hörten, erzählte man uns, dass es eine Einnahmequelle für viele Leute der Gegend sein wird, und dass die Region davon profitieren werde. Unterdessen haben wir jedoch gemerkt, dass das Projekt mehr negative als positive Seiten hat. Verschiedene Gemeinden haben begonnen, sich gegen die Minen zu wehren. Seitens des Comité Cívico haben wir noch keine definitive Position erarbeitet. Natürlich haben die Ingenieure versucht, mit den verschiedenen Bürgermeisterkandidaten Kontakt aufzunehmen und sie von ihrem Projekt zu überzeugen. Aber wir wollen zuerst mehr Informationen darüber, was überhaupt geplant ist und inwiefern wir davon profitieren. Wenn wir an die Macht kommen, werden wir die ganze Bevölkerung einladen und über das Minenprojekt informieren. Die Bevölkerung wird am Schluss darüber entscheiden, ob sie dieses Projekt befürwortet oder nicht. Denn es ist auch die ganze Bevölkerung, die mögliche negative Konsequenzen des Projekts, wie z.B. die Umweltzerstörung, zu tragen hat. Frage: Wie und mit welchen Mitteln führen Sie Ihre Wahlkampagne durch? Verschenken Sie auch Mützen und T-Shirts wie die Parteien? F.B.S.: Wir haben kein Geld, wir sind auf der Strasse präsent und besuchen die Gemeinden. Es stimmt, dass die Parteien die Leute kaufen, aber wir wollen mit unserer Arbeit überzeugen und nicht mit Geschenken. Wir wollen die Leute nicht manipulieren sondern sie im Gespräch überzeugen. Wir treten auch nicht in Konkurrenz mit den Parteien oder kritisieren ihr Vorgehen - sollen sie machen, was sie wollen. Wir versuchen auf un- sere Art, die Gunst der WählerInnen zu gewinnen. Wir haben alle das Recht, uns politisch zu betätigen, aber es darf keine Politik der Drohung, der Gewalt und der Diskriminierung sein. Frage: Weshalb sind Sie Kandidat eines BürgerInnenkomitees und nicht einer politischen Partei? F.B.S.: Nicht so sehr ich habe das entschieden, sondern ich bin von den VertreterInnen der Dörfern gewählt worden. Ich selber habe überhaupt keine politischen Absichten gehabt. Mir geht es nur darum, etwas dazu beitragen zu können, dass sich die Situation der Bevölkerung ändert. Dass ich gewählt wurde, hat vielleicht mit meiner Moral, mit meinem Wissen und mit meiner Erfahrung zu tun. Ich habe auf Gemeindeebene in verschiedenen Komitees mitgearbeitet und habe dort offenbar die Leute überzeugen können. Frage: Und Sie, weshalb haben Sie sich dem Comité Cívico angeschlossen? Antwort: Andere Jahre habe ich politische Parteien gewählt, das eine Mal die Christdemokratische Partei, ein andermal die PAN, doch nie haben wir gewonnen. Eigentlich wollte ich mich aufgrund dieser Erfahrungen aus der Politik zurückziehen, weil die Bevölkerung uns offensichtlich nicht wollte. Ausserdem war es reine Zeitverschwendung. Als dann das Comité Cívico gegründet wurde, ging ein Traum der Bevölkerung von Sipacapa in Erfüllung. Endlich können wir unsere Bedürfnisse einbringen und werden ernst genommen. Das Komitee will wirklich etwas an unserer Situation verändern, es ist vergleichbar mit den Komitees Pro-Mejoramiento, die sich in den Gemeinden für die Verbesserung der Infrastruktur, Wasser, Schulen und Gesundheitsversorgung einsetzen. So habe ich mich entschlossen, das Komitee zu unterstützen und jetzt bin ich sogar als Kandidat auf der Liste. Frage: Don Chico, fühlen Sie sich in der Lage, eine so verantwortungsvolle Aufgabe wie das Bürgermeisteramt anzunehmen? F.B.S.: Ja, ich bin glücklich und fühle mich der Verantwortung gewachsen. Ich werde ja nicht alles alleine machen müssen, sondern kann auf die Unterstützung der Gemeinderäte, der Entwicklungsräte und der Bevölkerung zählen. Denn eines ist klar: Wenn wir Sipacapa verändern wollen, müssen alle mitarbeiten. Vielen Dank für das Gespräch! |
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