Sicherheit ist relativ
Fijáte 277 vom 29. Jan. 2003, Artikel 1, Seite 1
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Sicherheit ist relativ
Am 23. Dezember 2003 gab es im Hochsicherheitsgefängnis Pavoncito einen grausamen und blutigen Aufstand unter den Gefangenen. Dabei gab es 14 Todesopfer, unter ihnen Julio César Beteta Raymundo, ein Verwandter des für den Mord an Mirna Mack verurteilten Noel de Jesús Beteta, sowie 50 Verletzte. Es dauerte über zwölf Stunden, bis sich die Aufregung im Gefängnis soweit beruhigt hatte, dass die Polizei und die Gefängnisbehörden ein erstes Mal einen Augenschein von dem Massaker nehmen konnten. Ursache des Aufstandes war eine 'gefangeneninterne' Revolte, d.h., die in der Knasthierarchie schlechter Gestellten lehnten sich gegen den als autoritär und willkürlich bekannten Beteta und seine Leute auf. Das soziale Klima innerhalb der Gefängnisse ist ein Spiegel der Realität ausserhalb der Gefängnismauern. Eingeknastete Angehörige der verschiedenen Banden (Maras) stehen unter Kontrolle ihrer Chefs draussen und so wie die Abrechnungen untereinander draussen stattfinden, laufen sie auch drinnen ab, nach dem Vendetta-Prinzip nämlich. Wer zu keiner Mara gehört, oder keine Angehörigen hat, die für ihn die gefängnisintern erhobenen Bestechungsgelder bezahlen, steht auf der Hierarchiestufe zuunterst und entbehrt jeglicher Privilegien. Doch diesmal scheint es, dass es nicht in erster Linie eine Abrechnung zwischen Maras war, sondern eher eine Art Klassenaufstand unter den Gefangenen. Über die wirklichen Ursachen und den genauen Auslöser des Aufstandes kann bloss spekuliert werden, deutlich wurde jedenfalls, dass die Gefängnisbehörden, rund eineinhalb Jahre nach der Massenflucht aus einem anderen sog. Hochsicherheitsgefängnis, die Situation der Gefängnisse nach wie vor nicht im Griff haben. Als einzige Massnahme wurde nach dem Aufstand der Gefängnisdirektor vom Pavoncito abgesetzt und einige der Gefangenen in ein anderes Gefängnis verlegt. An den Grundübeln, nämlich an der Korruption und Bestechung, die in den Gefängnissen ebenso verbreitet sind wie ausserhalb, lässt sich schwer etwas ändern, solange die politischen Machtstrukturen bleiben, wie sie sind. Auch jetzt, einen Monat nach der Revolte, steht das Gefängnis noch unter Kontrolle der Insassen, obwohl Innenminister Adolfo Reyes Calderón das Gegenteil behauptet. So bestimmen z.B. die Gefängnisinsassen, wer den täglichen Appell durchführen darf und beim Friedensrichter in Frajines (der Ortschaft, wo das Pavoncito ist) wurden letzte Woche von zwei Gefängnisinsassen Klage eingereicht wegen Misshandlung durch Mitgefangene. Die Gefängnisrevolte von Ende Dezember hat nebst breiter Empörung in der Bevölkerung auch ein Nachdenken über den Begriff "Sicherheit" ausgelöst. Wir dokumentieren im Folgenden die Überlegungen von Jorge Fuentes, Professor an der Universität San Carlos in Guatemala Stadt. Die Stadt: Unser miserables HochsicherheitsgefängnisEs ist nicht mehr eine repressive Regierung, die ihre politische Macht ausübt, und trotzdem sind in unserer fragilen Demokratie die Gefängnisse überfüllt. Die Gefangenen Guatemalas sind - logischerweise - arm. Denn nur die Armen enden im Gefängnis in einem Land, in dem jemand, der eine Brücke baut, die sogleich wieder zusammenbricht, oder jemand, der öffentliche Gelder verschwinden lässt oder Banken in den Bankrott treibt, sicher nicht ins Gefängnis kommt. Unsere Gefängnisse sind dreckig und überfüllt wie Sardinenbüchsen oder Ruleteros (Kleinbusse, die in den Städten für den Personentransport eingesetzt werden). Dante's Inferno ist ein Disneyland im Vergleich zu unseren Gefängnissen. In der Mehrheit der Fälle sitzen die Strafgefangenen ohne Verurteilung. Bei einigen kam es nicht einmal zu einer Verhandlung, viele wissen nicht, weshalb sie eingesperrt sind. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass es zu solchen Aufständen kommt wie vor Weihnachten oder zu Massenausbrüchen wie vor einem Jahr, solange es in den Gefängnissen vor Hass brodelt und unmenschliche und entmenschlichende Zustände herrschen. Es wundert auch nicht, dass alle, die wir draussen gefangen sind, hoffen, dass die Gefängnisbehörden die Aufständischen mit Schüssen durchlöchern und auch sonst noch ein bisschen aufräumen, um so die Übervölkerung der Gefängnisse bis zum nächsten Aufstand etwas unter Kontrolle zu halten. Eigentlich kann man sagen, dass wir alle Gefangene sind, die einen mehr und die anderen weniger. Die einen innerhalb der Gefängnismauern, die andern ausserhalb. Denn kann man diejenigen frei nennen, die von der Notwendigkeit gefangen sind, zu leben um zu arbeiten, anstatt zu arbeiten um zu leben? Oder die Gefangenen der Verzweiflung, die keine Arbeit haben und nie haben werden und dazu verurteilt sind, unterbeschäftigt ihr schlechtes Leben zu leben? Oder die Gefangenen der Angst - können wir wirklich sagen, dass wir in Freiheit leben? Wir leben alle zwischen Gittern, Schranken, Stacheldraht, Alarmanlagen, Absperrungen und Privatpolizisten. Alle Türen und Fenster der Häuser derjenigen, die etwas zu verlieren haben, auch wenn es wenig oder gar nichts ist, sind vergittert. Ich habe in einigen Armenvierteln sogar Gitter an Plastik- oder Blechunterkünften gesehen. Es gibt auch schon Pärke, die umzäunt und mit Ketten und Schlössern versehen sind. In unserer Stadt, wo sich "rettet wer kann", vergittern und schliessen sich alle ein, die Reichen, der Mittelstand und die Armen. Wir sind alle Gefangene: Die Wächter und die Bewachten, die Auserwählten und die Marginalisierten, die Blonden und die Dunklen, die Reichen und die Armen, die Regierenden und die Regierten. In unserer grossen Stadt, wo Entführungen zum Alltag gehören, leben die Frauen und Kinder der Reichen eingeschlossen in einer Kapsel der Angst. Sie wohnen in mit Mauern umzäunten Villen, in grossen Häusern, um die ein unter Strom stehender Zaun gebaut ist und die von bewaffneten Polizisten bewacht werden. Sie sind Tag und Nacht von Leibwächtern oder Videokameras überwacht. Sie "leben" nicht in der Stadt, in der sie leben. Es ist ihnen verboten, in diese weitläufige Hölle einzutreten, die hinter ihrem winzigen privaten Paradies lauert. Hinter den Grenzen der Privilegien dehnt sich die Region des Terrors aus, in der die Menschen hässlich, dreckig, zahlreich, stinkend und gefährlich sind. Nach oben |
Arm sein ist in diesem Land ein Verbrechen. Noch bevor die Kinder der Reichen die teuren Drogen entdecken, die ihnen helfen, die Einsamkeit und die Angst zu überwinden, sind die Kinder der Armen süchtig nach Leim und Lösungsmitteln. Während die Kinder der Reichen mit Laserpistolen Krieg spielen, haben Bleikugeln die Kinder der Armen schon niedergemäht. Einige Experten nennen die Kinder, die auf den Müllhaufen der Zone 3 mit den Geiern um die Abfälle streiten, euphorisch "kindliche Bevölkerung mit beschränkten finanziellen Mitteln". Und dieses Muster wiederholt sich in allen Städten von Sub-Amerika. Laut Statistiken gibt es 60 Millionen Kinder, die in absoluter Armut leben, Tendenz steigend. Von allen Gefangenen des Systems sind es die Kinder, die am meisten zu leiden haben. Die Stadt saugt sie aus, überwacht sie, bestraft und tötet sie. Nie hört sie ihnen zu, nie versteht sie sie. Sie kommen mit den Wurzeln an der Luft auf diese Welt. Viele von ihnen sind Kinder von BäuerInnen, die brutal von ihrer Erde weggerissen wurden und in die Stadt geflüchtet sind. Zwischen der Wiege und dem Grab verkürzen der Hunger und die Wunden das Leben. Jedes zweite arme Kind überlebt, in dem es seine Arbeitskraft verschenkt, im Gegenzug zu ein paar essbaren Abfällen: Sie verkaufen Schmuggelware an den Strassenkreuzungen, betteln mit ihren als Clowns geschminkten Gesichtern an einer Ecke, arbeiten als billige Arbeitskraft in Werkstätten, Billardsalons und Spelunken, putzen Schuhe oder verkaufen Zeitungen, passen auf geparkte Autos auf oder arbeiten in den Maquilas, die Kleider für den Norden herstellen. Und das erste arme Kind? Von jedem zweiten armen Kind bleibt eines übrig. Der Markt hat keine Verwendung dafür, es rentiert nicht und hat deshalb kein Existenzrecht. Das selbe Produktionssystem, das die Alten verachtet (alt = älter als dreissig Jahre), verstösst die Kinder. Und - hat Angst vor ihnen. Aus der Perspektive des Systems ist das Altern ein Scheitern, die Kindheit hingegen ist eine Gefahr. In unserem Land hat die Hegemonie des Marktes die Bande der Solidarität zerschnitten und das soziale Geflecht in Fetzen gerissen, eine Aufgabe, die sie vom Repressionssystem geerbt hat. Welche Zukunft haben die BesitzerInnen des Nichts in diesem Land, in dem Besitz zu einem Heiligtum erklärt ist? Die Kinder der Armen leiden am meisten unter dem Widerspruch zwischen einer Kultur, die zum Konsum zwingt und einer Realität, die den Konsum unerschwinglich macht. Der Hunger zwingt sie zum Stehlen oder sich zu prostituieren. Aber ebenso zwingt sie die Konsumgesellschaft dazu, die ihnen ihr Angebot vorenthält. Die Kinder rächen sich, indem sie sich darauf spezialisieren, Reebok-Turnschuhe, Levi's-Jeans, Sonnenbrillen der Marke Serengety und andere Modeartikel zu klauen. In den Armenvierteln unserer Stadt formieren sich verzweifelte Kinder und Jugendliche zu Banden, vereint durch den Tod, der sie bedroht, und ihre einzige Hoffnung ist, sich von ihrem existenzbedrohenden Sklaventum zu befreien. In diesen Zeiten sozialer Unsicherheit, in denen sich der Reichtum konzentriert und die Armut ausbreitet, wer spürt da nicht, wie ihm oder ihr der Boden unter den Füssen entzogen wird? Die Mittelklasse lebt in einem Zustand des Scheins und gibt vor, mehr zu haben als sie wirklich hat. Noch nie war es für sie so schwierig wie jetzt, diese selbstverleugnende und eingefleischte Tradition aufrecht zu erhalten. Sie ist heute gelähmt vor Panik: Panik, die Arbeit zu verlieren, das Auto, das Haus, die Möbel und alles, was sie auf Kredit und zu horrenden Zinsen gekauft hat. Und Panik, nicht das zu haben, was man haben muss, um zu "sein". Diese Panik gibt die Mittelklasse auch an ihre Kinder weiter. Gefangen in der Falle der Angst, sind diese Kinder dazu verurteilt, die Erniedrigung der ständigen Gefangenschaft zu ertragen. In der Stadt der Zukunft, die immer mehr zur Realität wird, werden diese Telekinder, überwacht von einem elektronischen Kindermädchen. Sie betrachten die Strasse von ihren Balkonen oder aus ihren Fenstern heraus: Die Strasse, die ihnen wegen der darauf herrschenden Gewalt (oder wegen der Angst vor dieser Gewalt) verboten ist - dieses Szenario namens Strasse, auf dem das immer gefährliche und manchmal wunderbare Spektakel des Lebens stattfindet. |
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