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Sicherheit ist relativ

Fijáte 277 vom 29. Jan. 2003, Artikel 1, Seite 1

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Sicherheit ist relativ

Arm sein ist in diesem Land ein Verbrechen. Noch bevor die Kinder der Reichen die teuren VGDrogenNF entdecken, die ihnen helfen, die Einsamkeit und die Angst zu überwinden, sind die Kinder der Armen süchtig nach Leim und Lösungsmitteln. Während die Kinder der Reichen mit Laserpistolen Krieg spielen, haben Bleikugeln die Kinder der Armen schon niedergemäht. Einige Experten nennen die Kinder, die auf den Müllhaufen der Zone 3 mit den Geiern um die Abfälle streiten, euphorisch "kindliche Bevölkerung mit beschränkten finanziellen Mitteln". Und dieses Muster wiederholt sich in allen Städten von Sub-Amerika. Laut Statistiken gibt es 60 Millionen Kinder, die in absoluter VGArmutNF leben, Tendenz steigend.

Von allen Gefangenen des Systems sind es die Kinder, die am meisten zu leiden haben. Die Stadt saugt sie aus, überwacht sie, bestraft und tötet sie. Nie hört sie ihnen zu, nie versteht sie sie. Sie kommen mit den Wurzeln an der Luft auf diese Welt. Viele von ihnen sind Kinder von BäuerInnen, die brutal von ihrer Erde weggerissen wurden und in die Stadt geflüchtet sind. Zwischen der Wiege und dem Grab verkürzen der VGHungerNF und die Wunden das Leben. Jedes zweite arme Kind überlebt, in dem es seine Arbeitskraft verschenkt, im Gegenzug zu ein paar essbaren Abfällen: Sie verkaufen Schmuggelware an den Strassenkreuzungen, betteln mit ihren als Clowns geschminkten Gesichtern an einer Ecke, arbeiten als billige Arbeitskraft in Werkstätten, Billardsalons und Spelunken, putzen Schuhe oder verkaufen Zeitungen, passen auf geparkte Autos auf oder arbeiten in den VGMaquilasNF, die Kleider für den Norden herstellen. Und das erste arme Kind? Von jedem zweiten armen Kind bleibt eines übrig. Der Markt hat keine Verwendung dafür, es rentiert nicht und hat deshalb kein Existenzrecht. Das selbe Produktionssystem, das die Alten verachtet (alt = älter als dreissig Jahre), verstösst die Kinder. Und - hat Angst vor ihnen. Aus der Perspektive des Systems ist das Altern ein Scheitern, die Kindheit hingegen ist eine Gefahr.

In unserem Land hat die Hegemonie des Marktes die Bande der Solidarität zerschnitten und das soziale Geflecht in Fetzen gerissen, eine Aufgabe, die sie vom Repressionssystem geerbt hat. Welche Zukunft haben die BesitzerInnen des Nichts in diesem Land, in dem Besitz zu einem Heiligtum erklärt ist? Die Kinder der Armen leiden am meisten unter dem Widerspruch zwischen einer Kultur, die zum Konsum zwingt und einer Realität, die den Konsum unerschwinglich macht. Der Hunger zwingt sie zum Stehlen oder sich zu prostituieren. Aber ebenso zwingt sie die Konsumgesellschaft dazu, die ihnen ihr Angebot vorenthält. Die Kinder rächen sich, indem sie sich darauf spezialisieren, Reebok-Turnschuhe, Levi's-Jeans, Sonnenbrillen der Marke Serengety und andere Modeartikel zu klauen. In den Armenvierteln unserer Stadt formieren sich verzweifelte Kinder und Jugendliche zu Banden, vereint durch den Tod, der sie bedroht, und ihre einzige Hoffnung ist, sich von ihrem existenzbedrohenden Sklaventum zu befreien.

In diesen Zeiten sozialer Unsicherheit, in denen sich der Reichtum konzentriert und die Armut ausbreitet, wer spürt da nicht, wie ihm oder ihr der Boden unter den Füssen entzogen wird? Die Mittelklasse lebt in einem Zustand des Scheins und gibt vor, mehr zu haben als sie wirklich hat. Noch nie war es für sie so schwierig wie jetzt, diese selbstverleugnende und eingefleischte Tradition aufrecht zu erhalten. Sie ist heute gelähmt vor Panik: Panik, die Arbeit zu verlieren, das Auto, das Haus, die Möbel und alles, was sie auf Kredit und zu horrenden Zinsen gekauft hat. Und Panik, nicht das zu haben, was man haben muss, um zu "sein".

Diese Panik gibt die Mittelklasse auch an ihre Kinder weiter. Gefangen in der Falle der Angst, sind diese Kinder dazu verurteilt, die Erniedrigung der ständigen Gefangenschaft zu ertragen. In der Stadt der Zukunft, die immer mehr zur Realität wird, werden diese Telekinder, überwacht von einem elektronischen Kindermädchen. Sie betrachten die Strasse von ihren Balkonen oder aus ihren Fenstern heraus: Die Strasse, die ihnen wegen der darauf herrschenden Gewalt (oder wegen der Angst vor dieser Gewalt) verboten ist - dieses Szenario namens Strasse, auf dem das immer gefährliche und manchmal wunderbare Spektakel des Lebens stattfindet.


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