"Das private Mediensystem dient dem Machtmissbrauch"
Fijáte 443 vom 9. September 2009, Artikel 1, Seite 1
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"Das private Mediensystem dient dem Machtmissbrauch"
Inforpress Centroamericana, eine wöchentlich erscheinende politische und ökonomische Analyse zur Lage in Guatemala und Zentralamerika, feiert seinen 37. Geburtstag. Das ist zwar kein runder Geburtstag, aber wer sich überlegt, was vor 37 Jahren in Guatemala los war (Militärdiktatur und einsetzende Massaker), wer weiss, dass es sich um ein regierungskritisches Medium handelt, der wird es für ein kleines Wunder halten, dass Inforpress die ganze Zeit über erschienen ist. Das Interview mit Gustavo Porras, einem der hellsichtigsten Intellektuellen des heutigen Guatemalas, Journalist bei Inforpress Ende der 70er Jahre, später kurzzeitig bei "Siglo XXI", ansonsten Revolutionär, Radfahrer und Mitautor des Friedensabkommens von 1996, schlägt den Bogen von der Zeit der 70er Jahre zu einer kritischen Analyse des heutigen Mediensystems in Guatemala. Frage: Welche Bedeutung hatte das Auftauchen von Inforpress in der guatemaltekischen Medienwelt? Gustavo Porras: Die Zeit, in der ich für Inforpress gearbeitet habe, war die Zeit der schärfsten Auseinandersetzungen in der Geschichte Zentralamerikas: der Sieg der Sandinistischen Revolution, die Offensive in El Salvador, die Situation in Guatemala … Das alles war verbunden mit einer massiven Einschränkung der Verbreitung von Meinungen und Informationen über die Geschehnisse. Trotz aller Freiheitsbeschränkungen schuf Inforpress einen Raum für Informationen, die progressive Gedanken transportierten, für Tendenzen, die auf Veränderungen gerichtet waren oder einfach die Dinge hinterfragten. Über welche Dinge man auch immer schrieb, grundlegend bei dieser Arbeit war, dass Informationen und Inhalt nicht getrennt wurden. Auf diese Weise konnte Inforpress auch in Zeiten aufrecht erhalten werden, in denen wir als subversive Organisation disqualifiziert wurden (z.B. in geheimen Dokumenten, die später in den USA veröffentlicht wurden). Frage: Inforpress wurde also nicht als eine gefährliche Publikation angesehen, sondern als ein Minderheitenmedium, das keinen Schaden anrichten kann? G.P.: Auch wenn Inforpress keine Massenpublikation ist, so erreicht sie doch die politische, wirtschaftliche und diplomatische Elite in der Region und übt dadurch einen Einfluss aus. Diese Tatsache verpflichtete die Militärregierungen dazu, eine Balance zu finden zwischen dem, was sie uns erlaubten zu verbreiten, und der Unterdrückung einer Publikation mit der Anzahl von AbonnentInnen und der Qualität von Inforpress. Frage: In Guatemala hat es nie ein offizielles Zensursystem gegeben, aber trotzdem keine Pressefreiheit. Wie lebte es sich in diesem Zwiespalt? G.P.: In den Medien gab es eine Kumpanei mit den Militärregimes. Die Presse hielt zwar die Erinnerungen an JournalistInnen wach, die in der Zeit des Terrors ermordet wurden. Allerdings verschwiegen sie, dass diese nicht in ihrer Rolle als MedienvertreterInnen ermordet wurden, sondern weil sie zu den revolutionären Militanten gehörten. Die Medien - mit Ausnahme des "Gráfico", der sehr viel über die Massaker berichtete - schwiegen darüber. Warum sollte es also Repression gegen sie geben, wenn sie das Spielchen sowieso mitspielten? Die Medien sind im allgemeinen ein konstitutiver Teil des Systems, und dieses wird von den Militärs verteidigt. Zu gewissen Themen wurde einfach Distanz gehalten: So war Inforpress z.B. damals das einzige Medium, das titelte "Der Triumph der Sandinistas in Nicaragua"; alle anderen benutzten andere Wendungen, weil sie mit solchen Ideen nicht sympathisierten. Frage: Inforpress entwickelte sich aus der Idee heraus, der Öffentlichkeit gute journalistische Arbeit zu bieten. Manchmal scheint es aber, dass die Leute die Tageszeitungen kaufen, nicht weil sie die Wahrheit erfahren wollen, sondern weil sie ihrer Ideologie nahesteht. G.P.: Die Medien hier und überall verkaufen Sensationsjournalismus. Die einzige Zeitung, die aufgrund einer ideologischen Identifikation gekauft wird, ist "La Hora". Der Grossteil der 160,000 Exemplare, die "Prensa Libre" verkauft, kaufen die Leute, um etwas darin einzuwickeln, weil es die billigste Möglichkeit ist, an Papier zu kommen. In diesem Land hat es nie eine Medienvielfalt gegeben. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Zeitungen sind graduell und nur für eine intellektuelle Elite wahrnehmbar. Frage: Hat das Erscheinen von " elPeriódico" da keine Neuerungen gebracht? G.P.: Doch, aber es ist nichts Ideologisches. "elPeriódico" bietet qualitativ hochwertigere Informationen an. Es ist ein modernes Medium, das bessere Grafiken hat und interessante KolumnistInnen. Ohne Zweifel ist es ein Medium für akademische Zirkel und Intellektuelle, aber im Hinblick auf die Offenheit für unterschiedlichste Meinungen ist es nicht viel anders als beispielsweise "Siglo XXI". Frage: Sie haben einmal gesagt, dass die Oligarchie heute nicht mehr so offensichtlich existiert wie früher. Hat sich diese veränderte Machtverteilung in der Gesellschaft auch in den Medien niedergeschlagen? Nach oben |
G.P.: Es gibt sicher Nuancen in den Positionen der Chefredakteure der drei grossen Tageszeitungen "Prensa Libre", "elPeriodico" und "Siglo XXI", aber ich glaube, dass sie sich im Grunde einig sind. Sie unterstützen alle die Ideologie der guatemaltekischen Bourgeoisie. Wenn man die Medien nach diesem Gesichtspunkt analysiert, disqualifizieren alle die öffentlichen Institutionen von A bis Z sowie Politikansätze, die eine Priorität auf die Ärmsten legen. In den Schlüsselfragen der nationalen Themen gibt es in den Printmedien keinerlei Unterschiede. Frage: Ist die Aggressivität der Printmedien gegenüber der aktuellen Regierung ein Beweis dafür, dass diese konservativer ist als die Gesellschaft insgesamt? G.P.: Die Medien haben die Regierung Berger mit Samthandschuhen angefasst. Und jetzt schlagen sie auf Doña Sandra (Ehefrau des Präsidenten Colom) ein, sie habe als First Lady kein Recht, andere Aufgaben zu übernehmen. Wir sind hier sehr weit von einem Staat entfernt, der in grösserem Masse in die Wirtschaft eingreifen könnte. Aber trotzdem tun die Medien so, als wenn es so wäre: sie reagieren massiv gegen die Idee von höheren Staatsausgaben. Ich glaube, dass es kein Land auf der Welt gibt, in dem gesagt wird, dass man in Krisenzeiten die öffentlichen Ausgaben reduzieren muss. Nur hier tun sie das. Die sind so fundamentalistisch, dass sie nicht einmal pragmatisch sein können. Ihre Obsession für die Orthodoxie liegt vor allem darin, den Staat marginal zu halten, und obwohl man mit Zahlen belegen kann, dass das Programm "Mi Familia Progresa" den lokalen Konsum erhöht hat, wollen sie davon nichts wissen, weil es "chavismo" ist … Dieser ganze ideologische Ballast wird in den Morgenzeitungen wiedergekäut - und zwar dort, wo man am meisten beeinflussen kann: in den Überschriften. Denn die Mehrzahl der Leute liest nur die Überschriften. Frage: Aber Wochenzeitungen sind doch häufig gescheitert … G.P.: Wir müssen da die paradigmatischen Fälle anschauen, z.B. "Crónica", eine Zeitschrift, die in einem Ambiente der Öffnung und beginnenden Modernität in Guatemala entstand. Wovon lebte sie? Von der Werbung, weil diese merkte, dass einige Medien, auch wenn sie nur eine Minderheit bedienen, ein elitäres Publikum haben und damit genau jene, die für ihre Werbebotschaften geeignet sind. Frage: Wie sehen Sie das Geschäft mit dem Sensationsjournalismus und den "Blutigen Nachrichten"? G.P.: Die Boulevard-Blätter sind überall auf der Welt die am meisten verkauften Medien. Hier konstruieren die Medien ein Bild von Verbrechensraten, das sicher höher ist als das tatsächliche Niveau. Diese Verbrechen dienen ihnen als Rechtfertigung, dass sie das veröffentlichen, was die Leute lesen wollen. Und das ist sogar wahr, aber angesichts dieser Realität gibt es zwei Strategien: Entweder sich an diesen Interessen der Leute ergötzen und sie gutheissen, oder allmählich das Niveau der LeserInnen anzuheben. Rubén Zamora sagte mir, als wir bei "Siglo XXI" zusammenarbeiteten, sinngemäss folgendes: "Wir wissen, dass der Sensationsjournalismus, den wir brauchen, um unsere Zeitung zu verkaufen, Vorurteile bedient." Frage: Zeigt die "blutige Nachricht" neben der Tatsache, dass es ein gutes Geschäft ist, nicht auch etwas tiefer liegendes, nämlich die Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod? G.P.: Man muss nicht Salomon sein, um zu wissen, dass, wer den Tod mit hängender Zunge auf dem Titelblatt bringt, mehr Blätter verkauft. Diese Erkenntnis bringt uns aber nicht zum eigentlichen Problem: dass das privatwirtschaftliche Mediensystem ein Missbrauch der Macht ist und eine fehlende Regulation eines unermesslichen Gemeingutes. Die Medien haben die Macht über nichts geringeres als den Geist und die Wesensart der Bevölkerung. Es ist die absoluteste und strafloseste Macht, die es auf dieser Erde geben kann. Frage: Die Regierung Colom hat versucht, die Regierungsmedien zu stärken. War das ein gutes Ziel? G.P.: Die Presse sollte darüber informieren, was die Regierung tut, schon aus Respekt vor den LeserInnen. Dies trägt dazu bei, die Politik und das Bewusstsein der BürgerInnen zu bereichern. Aber auch das geschieht nicht. Früher haben die Abgeordneten im Parlament das Wort ergriffen, und zwar nicht, um sich für oder gegen eine Gesetzesinitiative zu positionieren (weil dies hinter dem Rücken der Öffentlichkeit geregelt wird), sondern um die Kommunikation mit den LeserInnen aufrechtzuerhalten. Aber die Medien veröffentlichten niemals ein Wort, womit diese Praxis verschwand. Die Presse veröffentlicht nur, wenn ein Abgeordneter gerade ein Sandwich isst, um zu sagen, dass er ein Arschloch ist. Frage: Finden Sie, dass der (offizielles Organ der Regierung, die Red.) eine gute Arbeit macht? G.P.: Ja. Das "Diario de Centroamérica" hat zwar nicht die Auflage eines "Nuestro Diario" oder einer "Prensa Libre", aber sie kann ein ausgleichendes Element sein. Aber: wie soll man das aufrechterhalten, wenn es noch nicht mal Geld für ein normales Funktionieren des Staates gibt? |
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