Gerechtigkeit für Menschenrechtsverbrechen des erzwungenen Verschwindens
Fijáte 441 vom 12. August 2009, Artikel 3, Seite 3
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Gerechtigkeit für Menschenrechtsverbrechen des erzwungenen Verschwindens
Guatemala, 21. Juli. Das Verfassungsgericht (CC) legte im Juli 2009 im Fall der sechs in den 80er Jahren verschwundenen Personen von Chaotalum, Chimaltenango, das Delikt des erzwungenen Verschwindens als permanent und andauernd fest und urteilte somit, dass der Prozess gegen den beschuldigten Exmilitärkommissär Felipe Cusanero Coj nicht verfassungswidrig ist. Der Prozess begann im Jahre 2005 (siehe ¡Fijáte! 406) und die Verteidigung des einzigen Beschuldigten erhob Einspruch aufgrund des Prinzips der Nichtrückwirkung laut Artikel 15 der Verfassung, da die Geschehnisse sich zwischen 1982 und 1984 abspielten, aber die Straftat des erzwungenen Verschwindens erst 1996 ins Strafgesetzbuch (Art. 201 TER) aufgenommen wurde - eine juristische Lücke, die von der Verteidigung in den folgenden Jahren mehrere Male genutzt wurde und den Prozess immer wieder aufschob. Laut der Menschenrechtsorganisation CALDH schafft dieser Beschluss einen Präzedenzfall und öffnet die Türen für andere Prozesse der Rechtsprechung von Delikten des erzwungenen Verschwindens die während des Bürgerkrieges begangen wurden. In diesen 36 Jahren (1960-1996) wurden 45000 Fälle illegaler Festnahmen und erzwungenen Verschwindens registriert, darunter 5000 Mädchen und Jungen. Die meisten davon wurden von Seiten des Staates vorgenommen und viele vor der Wahrheitskommission CEH (Comisión de Esclarecimiento Histórico) bezeugt. Der Fall des Dorfes Chaotalum ist der erste in der Geschichte Guatemalas, in dem erzwungenes Verschwinden prozessiert wird und in dem man wirklich zu einem Urteil kommen wird. Mario Minera, Direktor von CALDH, bestätigt, dass es auch das erste Mal ist, dass das Verfassungsgericht eine Grundfrage klärt und die Dauerhaftigkeit des Verbrechens anerkennt. Der permanente und andauernde Charakter des erzwungenen Verschwindens entspricht dem Artikel 201 TER des Strafgesetzbuches, der besagt die Strafverfolgung dieses Deliktes in die Gesetzgebung des Landes mit einzubeziehen - entsprechend der Interamerikanischen Konvention über erzwungenes Verschwinden (unterzeichnet von Guatemala im Jahr 2000), der Rechtssprechung des Interamerikanischen Gerichtshof und der Erklärungen der Vereinten Nationen. Laut Verfassungsgericht besteht die Straftat nicht nur in dem Moment in dem die Person entführt oder illegal verhaftet wird, sondern solange das Verschwundensein anhält, d.h. sie endet mit der Befreiung oder dem Tod der Person. Dies bedeutet, dass, wenn die Entführung oder Verhaftung bewiesen ist, nicht aber die Befreiung oder der Tod, das Verbrechen weiterhin anhält. Das ist auch der Grund, weshalb das Nichtrückwirkungsprinzip des Strafgesetzbuches nicht verletz wird, sondern, im Gegenteil, daraus eine gültige Regel macht. Durch den permanenten Charakter der Straftat und im Falle des Fortbestehens der Tat, ist es unwichtig, ob das Gesetz vor dem Beginn des Verbrechens verabschiedet wurde, oder aber in einem Moment, in dem das Verbrechen immer noch begangen wird, d.h. während der ganzen Zeit, in der man das Opfer nicht findet. Im Fall der sechs verschwundenen Personen von Chaotalum, der sich vor der Ersten Rechtsinstanz befindet, erhoffen die KlägerInnen eine Verurteilung des Angeschuldigten, was jedoch nur einem minimalen Prozentsatz der 45000 Opfer erzwungenen Verschwindens Gerechtigkeit geben würde. Aber genau deshalb ist ein Urteil nötig, um eine Verpflichtung des Justizsystems zu schaffen, die den Tausenden von Familienangehörigen der Opfer Gerechtigkeit garantiert und die Straflosigkeit für Verbrechen des Bürgerkrieges nicht weiter zulässt. Aus diesem Grund wurde auch dem Kongress die Gesetzesinitiative 35-90 eingereicht, welche verlangt, eine Nationale Kommission für die Suche nach den 45000 verschwundenen GuatemaltekInnen zu bilden. Nach oben |
Chronologie des Falles Chaotalum, Gemeinde San Martín Jilotepeque, Department ChimaltenangoSeptember 1982 bis Oktober 1984: Illegale Verhaftung von sechs Personen durch Felipe Cusanero Coj, in einigen Fällen begleitet von Mitgliedern der Armee oder der Zivilpatrouille (PAC): Lorenzo Avila, 5. November 1982; Alejo Culajay Ic, 23. November 1983; Filomena López Chajchaguin, 15. Januar 1984; Encarnación López López, 19. März 1984; Santiago Sutuj, 24. August 1984; Mario Augusto Tay Cajtí, 28. Oktober 1984. Antrag auf Information über den Aufenthalt der Verschwundenen im Militärstützpunkt von Choatalum von ihren Angehörigen. Ihnen wird aber jede Aussage verweigert. Stattdessen werden sie bedroht, um sie von der Suche abzubringen. 9. Juni 2003: Prozessauftakt am Gericht Erster Instanz. Aufgrund der Verweigerung von Information, entscheiden die Familienangehörigen in einer Gemeindeversammlung, den Fall vor die nationale Rechtsprechung zu tragen. Je einE AngehörigeR pro Familie des Opfers stellt sich als KlägerIn und als ZeugIn. 5. April 2005: Erste Aussage Felipe Cusaneros vor dem Richter der Esten Instanz. Mai 2006: Die Staatsanwaltschaft klagt Felipe Cusanero der Straftat des erzwungen Verschwindens an. Am 16. des Monats wird der Prozess eröffnet. Aufgrund der Beweisführung der KlägerInnen existieren genügend Beweise die bezeugen, das Cusanero verantwortlich ist und ein Urteil gerechtfertigt. 11. Juli 2006: Die Verteidigung präsentiert einen Einspruch wegen Verfassungswidrigkeit: Prinzip der Nichtrückwirkung und deshalb die Unanwendbarkeit des Artikel 201 TER des Strafgesetzbuchs, welcher im Jahre 1996 erzwungenes Verschwinden mit Zustimmung des Staates als Delikt festlegt. 2. August 2006: Das Gericht (Tribunal de Sentencia) weist den Einspruch als unberechtigt ab, woraufhin die Verteidigung sieben Tage später erneut Einspruch beim Verfassungsgericht erhebt, da das Gericht nicht die Grundfrage der Nichtrückwirkung gelöst habe. Das Gericht suspendiert daraufhin die für den 17. August 2006 vorgesehene Verhandlung, da das Verfassungsgericht vor der Weiterführung des Prozesses urteilen muss. 20. Juni 2007: Das Verfassungsgericht weist den Einspruch basierend auf Verfassungswidrigkeit zurück und das Gericht von Chimaltenango setzt den Termin für die öffentliche Anhörung auf den 10. März 2008 fest. Bei der Anhörung werden ZeugInnenaussagen gehört und die Verteidigung beruft sich erneut auf die Verfassungswidrigkeit des Artikels 201 TER, was aber wieder in diesem konkreten Fall vom Verfassungsgericht von Chimaltenango zurückgewiesen wird. 27. März 2008: Die Verteidigung erhebt erneut Einspruch, diesmal vor dem Verfassungsgericht, woraufhin der Prozess suspendiert wird. 7. Juli 2009: Das CC weist den Einspruch zurück und erklärt den Charakter des Deliktes des erzwungenen Verschwindens als permanent und dauerhaft. |
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