Strukturelle Ursachen und Dimensionen der Migration in Guatemala
Fijáte 288 vom 2. Juni 2003, Artikel 2, Seite 1
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Strukturelle Ursachen und Dimensionen der Migration in Guatemala
Immer öfter und stärker schenkt die guatemaltekische Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit dem Phänomen der internationalen Migration. Dies geschieht nicht nur aufgrund der Berichte über Tote und Überfalle, zu deren Opfern die lateinamerikanischen MigrantInnen in ihrem Bestreben werden, in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Seit dem 11. September 2001 übernehmen sie nun vielmehr die Rolle des Sündenbocks, dem alles Böse zugeschrieben werden kann, das die ,,ergebene und friedliebende" nordamerikanische Gesellschaft verwüstet. Was bewegt Millionen von LateinamerikanerInnen dazu, ihre Länder zu verlassen, um den sogenannten ,,amerikanischen" Traum zu suchen? Ist dies eine vorübergehende Mode? Oder vielleicht der Abenteuergeist? Im vorliegenden Artikel wird der Fall Guatemalas vorgestellt, der sich nicht sehr von den übrigen lateinamerikanischen Ländern unterscheidet. Dabei wird aufgezeigt, dass Migration kein Produkt einer spezifischen Konjunktur, sondern ein historisches Phänomen ist, das als solches eine grosse Wirkung auf die guatemaltekische Bevölkerung im Speziellen und auf die lateinamerikanische im Allgemeinen hatte, immer noch hat und weiter haben wird. Strukturelle Ursachen der Migration in Guatemala Guatemala ist ein Land mit einer territorialen Ausdehnung von 108,889 km². Seine Bevölkerung beläuft sich auf 10´029´714 EinwohnerInnen (laut Volkszählung 2003: 11´ 237´196, die Red.). Die Art und Weise, in der sich diese auf das nationale Territorium verteilen 65 % leben auf dem Land hat zur Folge, dass Guatemala als ein Land mit vornehmlich ruraler Gesellschaft gilt (IV. Volkszensus, 1993). Diese starke ländliche Prägung ist das Ergebnis eines historisch bestimmten Prozesses, der in Verbindung mit dem Zugang zu und dem Besitz von Land steht. Hier erweisen sich zwei geschichtliche Momente als grundlegend: die spanische Invasion im Jahr 1523, die die Landverteilung einführte und die Eingliederung Guatemalas in den Weltmarkt als Exportland von Kaffee gegen Ende des 19. Jahrhunderts, welche die Besitzverhältnisse konsolidierte. Mit der Invasion wurden die für die landwirtschaftliche Produktion tauglichen Ländereien dem Maya-Volk enteignet und im Laufe der Geschichte von den Invasoren und ihren Nachfahren an sich gerissen, während dessen die Indígenas gezwungen waren, in Berg- und Waldregionen unter Armutsbedingungen zu leben. In Folge dieser historischen Umstände gründete eine Minderheit der Gesellschaft die Klasse der Oligarchie und LandbesitzerInnen, EigentümerInnen von vornehmlich an der Küste gelegenen Latifundien, die sich dem Landwirtschaftsexport widmeten. Parallel dazu bildete sich eine Klasse der Mehrheit, zu der die der MayaKultur zugehörigen BäuerInnen von Minifundien sowie das Proletariat und Halbproletariat zählten, die hauptsächlich im westlichen Hochland auf Ländereien lebten, die für die landwirtschaftliche Produktion nicht geeignet waren.1 Mittels der Einführung verschiedener Zwangssysteme (Sklaverei, Frongesetze, Landraub, dem Fehlen einer Politik der ländlichen Entwicklung u.a.), wurden anfangs die indigenen BäuerInnen und schliesslich auch die ladinischen dazu gezwungen, zeitweilig auf den Latifundien zu arbeiten. Dafür mussten sie ihre Ursprungsgemeinden für zwischen zwei bis sieben Monate im Jahr verlassen. Von den erwähnten Zwangsmechanismen bestehen bis in die Gegenwart jene fort, die in Verbindung mit dem Fehlen einer Entwicklungspolitik für die Gemeinden im guatemaltekischen Hochland stehen. Dies spiegelt sich deutlich darin wider, dass 83,7% der ländlichen Bevölkerung in Armut und 51,5% in Extremer Armut leben (AVANCSO, 1993); die Anzahl der Minifundien nimmt zu allein zwischen 1964 bis 1979 stieg die Anzahl um 103´581 Fincas und es gibt eine grosse Zahl von LandarbeiterInnen, die Land weder besitzen noch verwalte, und die keine Anstellung für das ganze Jahr finden Viele der BäuerInnen auf Minifundien, die im Hochland Guatemalas leben, kombinieren zwei Strategien, um ihr Überleben zu sichern. Die erste stützt sich auf Subsistenzwirtschaft (Anbau v.a. zur Selbstversorgung, die Red.). Die zweite Strategie ist die Migration auf jedwelche Art und Weise auf der Suche nach Anstel- lung, die ein monetäres Einkommen erlaubt. Da die Bedingungen des Landbesitzes sich nicht verändert haben (obwohl man dies gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts während 36 Jahren internen Krieges versuchte), ist die Migration die Reproduktionsstrategie, die in Guatemala jeden Tag mehr angewendet wird. Inzwischen gibt es eine Menge unterschiedlichster Modalitäten dieses Phänomens, wie im Folgenden erläutert wird. Dimensionen der Migration in Guatemala 1. Es gibt eine Art der internen Migration, die in den ländlichen Gebieten ihren Ursprung hat und folgende Ziele anvisiert: a. Südküste (temporäre Land-Land-Migration). An dieser nehmen etwa 500´000 Personen im Jahr teil, entweder in familiären Gruppen oder auch einzeln (PNUD 1998). b. Städtische Zentren, hauptsächlich Departement Guatemala (Land-Stadt-Migration, temporär oder definitiv). Es lohnt sich, zu erwähnen, dass von den 1´813´825 EinwohnerInnen des Departements Guatemala 1´214´442 (67%) ursprünglich aus anderen Landesregionen kommen (IV Volkszensus 1993). c. Regenwald des Petén (definitive LandLand-Migration). In dieser Region stammen ca. 46% der Bevölkerung aus anderen Regionen (IV Volkszensus 1993). 2. Es hat sich eine Art der internationalen Migration entwickelt, die, abhängig vom Zielland, in zwei grosse Gruppen klassifiziert werden kann. Nach oben |
Die erste gilt dem Südosten Mexicos (Land-Land-Migration, v.a. temporär), an der etwa 300´000 Personen im Jahr teilnehmen (Gesundheitsministerium, Sozialversicherung und Panamerikanisches Gesundheitsbüro, 1998). Die zweite ist die Migration in die Vereinigten Staaten, die entweder temporären oder auch definitiven Charakter besitzt. Schätzungsweise halten sich 1,2 Mio. GuatemaltekInnen in jenem Land auf, also etwa ein Zehntel der nationalen Bevölkerung (Elías, 1997). Ebenso kam es in den 80er Jahren in Folge des bewaffneten Konflikts, der sich in Guatemala entfesselte, zu Migrationen von BäuerInnen die vor der Armee flohen und Zuflucht in Mexiko suchten. Es wird geschätzt, dass sich in diesen Migrationen 42´000 Personen in ,,anerkannter" und 150´000 in ,,nichtanerkannter" Form in Sicherheit brachten. Es ist anzumerken, dass in Guatemala die Daten über die Migration sowie über deren Charakteristika (Geschlecht, Alter, ethnische Gruppe u.a.) unvollständig und nur ungefähr sind, da es weder von Seiten der Regierung noch von Nicht-Regierungs-Institutionen Erfassungsregister gibt, die diese angemessen verfolgen. Zudem erfolgt ein bedeutender Teil der internationalen Migration sowohl Richtung des Südostens Mexikos als auch in die USA undokumentiert und ist deswegen schwierig zu registrieren. Angesichts des beschriebenen Panoramas auch wenn es unglaublich erscheint gibt es keine politischen Ansätze der guatemaltekischen Regierung, die eine Agrarreform fördern, die die Armut auf dem Land bekämpft; und genauso wenig existiert eine Politik zum Schutz der MigrantInnen. Im Gegenteil, es scheint die Absicht zu bestehen, den aktuellen Stand der Dinge beizubehalten. Folgende Gründe lassen sich dafür finden: an erster Stelle, um weiterhin die BäuerInnen dazu zu zwingen, in den ländlichen Gebieten zu bleiben ohne ihre Subsistenz zu erreichen, um die notwendige billige Arbeitskraft für den Anbau der Agrarexporte zu sichern, welche die Haupteinnahmequelle von nationalen Exportdivisen darstellen. An zweiter Stelle steht die Tatsache, dass aktuell die Geldüberweisungen, die die MigrantInnen aus den Vereinigten Staaten schicken, die grössten wirtschaftlichen Einnahmen des Landes darstellen und zudem die Migration den internen Druck der Nachfrage nach Arbeitsplätzen verringert. Da die Regierung keinerlei Massnahmen unternimmt, das Migrationsphänomen zu stoppen, macht sie sich zur Komplizin ange- sichts der Menschenrechtsverletzungen, denen die MigrantInnen sowohl während ihrer Durchreise durch mexikanisches Terrain als auch bei ihrem Aufenthalt in den USA ausgesetzt sind. Zusammenfassend kann man sagen, dass heutzutage Guatemala ein ,,Exportland von Arbeitskraft" ist und das Migrationsphänomen dazu tendiert, weiter anzuwachsen: wenigstens zwei von zehn GuatemaltekInnen sind oder waren MigrantInnen, was enorme soziale und psychologische Kosten für die Gesellschaft allgemein mit sich bringt. 1 Gemäss dem letzten Agrarzensus, der 1979 in Guatemala durchgeführt wurde, repräsentierten die Latifundien 2,5 % der produktiven Einheiten und nahmen 65% der nationalen landwirtschaftlichen Produktionsfläche, mit Ausdehnungen von durchschnittlich 200 ha ein. Die Minifundien stellten dagegen 88% der Produktiveineinheiten auf 16% der Produktionsfläche des Landes dar. Auf Feldern von weniger als 7 ha wurden v.a. temporäre Kulturen angebaut. Bibliographie: AVANSCO (Asociación para el Avance de las Ciencias Sociales en Guatemala). 1993. Agricultura y Campesinado en Guatemala, una aproximación. Textos para el debate. Guatemala. Elías, S; Gellert, G; Pape, E y Reyes, E. 1997. "Evaluación de la Sostenibilidad en Guatemala". FLACSO, Guatemala. Gobierno de Guatemala. 1993. IV Censo Nacional de Población. Tipografía Nacional. Guatemala. Ministerio de Salud Publica y Asistencia Social, Instituto Guatemalteco de Seguridad Social, Organización Panamericana de la Salud. 1998. Caracterización del fenómeno laboral migratorio en Guatemala. Documento mimeografiado. Guatemala. PNUD (Programa de las Naciones Unidas para el Desarrollo). 1998. Guatemala: los contrastes del desarrollo humano edición 1998. Guatemala. |
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