Ixil-Jugend in der Krise (Teil 2)
Fijáte 255 vom 13. März 2002, Artikel 1, Seite 1
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Ixil-Jugend in der Krise (Teil 2)
Der interne bewaffnete Konflikt in Guatemala hat nicht nur jenen sein Erbe hinterlassen, die die Gewalt selbst miterlebt haben, sondern auch der heutigen Jugend. Obwohl sie zur Zeit der schlimmsten Gewaltperiode (1980-85) entweder Kleinkinder oder noch gar nicht geboren waren, haben ihre Eltern ihre Traumata weitergegeben. Schmerz, Verzweiflung und internalisierte Gewalt üben ihren Einfluss auf die neue Generation aus, manifestieren sich in Identitätskonflikten und erhöhter Selbstmordrate unter indigenen Jugendlichen. Wir veröffentlichen im Folgenden den zweiten Teil eines Artikels, der in der Nummer 22/2001 des von NISGUA herausgegebenen Report on Guatemala erschienen ist. Missverständnisse zwischen den GenerationenDie Meinungen der Ixil Jugendlichen und der Erwachsenen gehen in der Frage nach der Identität der Jugend auseinander. Einerseits schauen die Jugendlichen auf die Älteren als WegweiserInnen für angemessenes Verhalten, und sie anerkennen die traditionellen Konzepte, die festlegen, was es heisst, Ixil-Jugendliche/r zu sein. Aber in einer Umgebung voller Veränderungen und Möglichkeiten gestalten Ixil-Jugendliche neue Identitätsformen, die ihren Eltern und Grosseltern z.T. fremd sind und von diesen zurückgewiesen werden. Erwachsene halten in der Regel am traditionellen Verständnis von Jugend fest, das auf Ixil-Praktiken basiert, wobei sie meist nicht bereit sind, neue Elemente in ihre Vorstellungen über die Jugend zu integrieren. Viele Erwachsene schauen recht nostalgisch auf ihre eigene Jugend zurück. "Früher herrschte viel Unwissenheit über viele Dinge. Und es gab viel Respekt, denn unsere Eltern haben uns so erzogen. Jeder junge Mann, jede junge Frau gehorchte ihrem Vater. Wir hatten auch nur eine Religion. Es gab nicht viele Dinge. Nie haben wir Neuigkeiten gesehen, noch viel weniger einen Krieg… Wir waren damals sehr höflich, wir spazierten nachts herum, doch auf eine gute Art. Wir taten nie etwas mit dem Gedanken, jemanden zu verletzen oder zu ruinieren. Wir verkehrten miteinander auf eine sichere Art. Doch dann kam der Krieg und brachte viel Veränderung. In der Zeit von 1980 bis 1985 oder 1986 lebten die jungen Leute mit Terror und Bedrohungen. Aber auch damals haben sich die Jugendlichen nicht selbst umgebracht. Es war eine andere Zeit." - Örtliche Autorität, Interview in Nebaj. Unterdessen anerkennen die Ixil-Jugendlichen den Wert, "Ixil zu sein", wie es die Älteren definieren und leben meistens danach. Doch gleichzeitig möchten sie Zugang zu neuen Räumen und Modellen von "jung sein", wie die Popkultur und ihre KollegInnen es ihnen vormachen. In jeder Kultur machen Teenager eine Lebensphase durch, in der Autoritäten hinterfragt, Weltanschauungen entworfen, Unabhängigkeit erarbeitet und manchmal gegen die Eltern "rebelliert" wird. Diese Entwicklungsmerkmale und die daraus resultierenden Konflikte zwischen den Generationen sind bei den Ixiles gemischt mit den soziokulturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte, v.a. mit der politischen Gewalt, dem Zustrom verschiedener religiöser Gruppen und dem zunehmenden Zugang zu "westlichen" Ideen. Die heutigen Indígena-Jugendlichen treffen auf kulturelle Idole, Orientierungspunkte, Einflüsse und Prozesse von Zugehörigkeit, die ihre Eltern nie erlebt haben. Erwachsenen in Nebaj zu Folge waren traditionellerweise die Familie, Liebesbeziehungen, Arbeit, religiöse Gruppen, die Gemeinschaft (v.a. die Älteren) sowie für einige die Schule die hauptsächlichen Orientierungspunkte bezüglich Identitätsbildung der Jugendlichen. Für die heutige Jugend sind die FreundInnen, Liebesbeziehungen und die Schule, nicht unbedingt die Gemeinschaft oder die Familie, die primären Orte der kulturellen und sozialen Beeinflussung. Gemäss den Erwachsenen hat diese Veränderung das Bild der Jugendlichen von Gemeinschaft geschwächt. Früher verbrachte die Ixil-Jugend einige Zeit mit Freizeitaktivitäten, doch die meiste Zeit widmete sie der Arbeit, der Familie und der Religion. Die Verpflichtungen für die Arbeit nebst den Eltern und der Fürsorge für jüngere Geschwister liessen den Jugendlichen wenig Zeit zum Schwatzen und Spassen mit KollegInnen. Zudem war die Zeit der "Jugend" der Ixiles kurz, endete meistens mit der Heirat in den Jugendjahren. Dadurch, dass Teenager später heiraten hat sich das soziale Stadium der "Jugend" ausgeweitet und erlaubt mehr unbeaufsichtigte Freizeit mit FreundInnen. Ein neuer Zeitvertreib der heutigen Generation der Ixiles ist das "Rumhängen" (pasear) mit FreundInnen auf der Strasse, was manchmal heisst, Mitglied einer Gang (mara) zu sein. Die Jugendlichen wie die Erwachsenen sind der Meinung, dass das häufige "Rumhängen" eine der grössten Veränderungen zwischen den Generationen darstellt und ein Grund ist für das Abkühlen und die gelegentliche Desintegration emotionaler Beziehungen in den Familien. Die kürzlichen Transformationen haben zu Spannungen zwischen den Generationen geführt, zu Missverständnissen und manchmal auch zu offensichtlicher Zurückweisung traditioneller Werte und Identität. Die Zunahme der Mitgliedschaft in Gangs sowie die Autorität, die dem KollegInnenkreis beigemessen wird, stehen einer Kultur, die traditionellerweise Respekt für die Älteren hoch schätzt, diametral gegenüber. Obwohl Ixil-Jugendliche ihre Kritik an traditionellen sozialen Normen nicht explizit äussern, so hinterfragen sie doch das, was von ihnen erwartet wird mit ihren Haltungen, Diskursen und ihrem Verhalten. Sie antworten auf Bedürfnisse und Wünsche, die nicht in das traditionelle Verhaltensmodell passen, indem sie sich durch einen sich rasch verändernden Kontext manövrieren, was zunehmende Konfrontation mit nicht-indigenen Kulturen und Werten mit sich bringt. Westliche WünscheBis vor kurzem waren die drei untersuchten Gemeinden relativ isoliert von westlichen Einflüssen, die ins guatemaltekische Leben eingedrungen sind. Während der schlimmsten Periode des bewaffneten internen Konflikts war die Region beinahe gänzlich von der "Aussenwelt" abgeschnitten. Ein zunehmender Technologie- und Informationsfluss markiert eine Nachkriegszeit, v.a. in Nebaj, in der die Leute durch Videos aus den USA, in Videospiel-Salons und durch Radioprogramme Zugang zur Popkultur haben. Evangelikale religiöse MissionarInnen, die gekommen sind, um die Leute zu "bekehren", bringen ihre eigenen kulturellen Einstellungen, Werte und Lebensstile mit. Indem sie die traditionellen gewobenen Stoffe meiden, die Symbole aus der Ixil-Weltanschauung und -Religion zeigen, drängen sie die Bekehrten, auf westliche Kleidung umzustellen. Nach oben |
Sumal Grande, die am meisten abgelegene Gemeinde in der Untersuchung, hat keine Elektrizität und ist ausschliesslich über einen Fussweg mehrere Meilen von der nächsten Strasse entfernt erreichbar. Gefragt, was es brauche, um "die Gemeinde zu verbessern", sprachen die dortigen Jugendlichen von Lockenstäben, Computern, aus den USA importierten Kleidern, elektrischen Gitarren und Saxophonen. In Salquil und Nebaj demonstrierten die Jugendlichen die Reichweite der Massenvermarktung, indem sie die Markennamen von Dingen, wie z.B. Olympia-Matratzen und Grossformat-Fernsehern von Sony mit Fernbedienung erwähnten. Die Tatsache, dass die Ixil-Jugend zu einer Gruppe gehört, die versuchten Völkermord erlitten hat, liegt der Höherbewertung von äusseren Gütern und Ideen über ihre eigenen zu Grunde. Zudem werden die Jugendlichen in den Massenmedien mit Bildern und Werbungen konfrontiert, die westliche Lebensstile abbilden und Konsum und Individualismus glorifizieren. Sie erhalten die Botschaft, dass die ländliche, gemeinsame Lebensweise mangelhaft, unangebracht oder schlicht nicht "cool" ist. Die westlichen Wünsche der Teenager widersprechen in manchen Fällen dem traditionellen Lebensstil von Ixil-Gemeinschaften, schätzen ihn gering oder wetteifern mit ihm. Dadurch entfernen sich die Jugendlichen zunehmend von ihren Familien und Gemeinschaften. Gleichzeitig werden sie frustriert, da ihre wirtschaftliche Situation ihnen wohl nie den Zugang zum gewünschten Lebensstil erlauben wird. Natürlich schliessen sich die Ixiles und die westliche Kultur und Sinnstruktur nicht gegenseitig aus; sie können koexistieren und sich überlappen, was sie auch tun. Ein junger Ixil-Mann, der Saxophon spielt, ist kein bisschen weniger "Ixil" als einer, der Marimba spielt. Mayas können gleichzeitig "traditionell" und "modern" sein: Eine Ixil-Frau kann einen Computer benutzen, um die Lebensgeschichten ihrer Vorfahren festzuhalten. Gleichwohl zeugt das Begehren westlicher Gegenstände und Charakteristika an Stelle der indigenen Eigenschaften und Überzeugungen, von einem hohen Grad internalisierter Diskriminierung und stellt eine tiefgreifende kulturelle Krise zwischen den Generationen dar. Eine Jugendliche, die sich selbst über traditionelle Kleidung definiert, doch gleichzeitig sich westlich kleiden möchte, hat zweifellos kulturelle und persönliche Abweisung zu ertragen, was zu einem psychologischen Trauma führen und die Suizidgefahr erhöhen kann. Widerstreitende Identitäten"Ich möchte gerne gross sein mit blauen Augen" … "Ich bin eine indigene Frau, die traditionelle Kleidung trägt, und ich sollte mich meiner Kultur nicht schämen." - Zwei Ixil-Jugendliche, Workshop in Salquil Grande Die individuellen und kollektiven Selbstdefinitionen von Ixil-Jugendlichen beinhalten Paradoxe und Kontroversen. Sie sagen, sie seien gehorsam und ungehorsam oder würden dafür gehalten, respektvoll und beleidigend, verantwortungsvoll und apathisch. Die modernen Maya-Jugendlichen sind beides, stolz auf ihre Kultur und schämen sich ihrer, abwechslungsweise schätzen sie, wie sie sind und möchten anders sein. Obschon sie die ideale Lebensweise mit traditionellen Ixil-Normen beschreiben, handeln sie oft entgegen den Werten der Gemeinschaft. (…) Die Verwirrung über ihre eigene Identität und deren Zurückweisung ist eine Facette der Gründe für Selbstmord von Jugendlichen. Indigene Jugendliche werden einerseits vom Einfluss der Älteren und der Anziehungskraft der Tradition, andererseits vom Reiz der Popkultur und dem anti-indigenen Rassismus unter Druck gesetzt. Die Ixil-Jugendlichen beschreiben die Widersprüche zwischen dem, was sie zu Hause von der traditionellen Kindererziehung der Ixil-Familie lernen und dem, was sie in Beziehungen mit KollegInnen oder in den Massenmedien entdecken. Gleichzeitig buhlen sich konkurrierende und gegenseitig ausschliessende religiöse Gruppen um die Seelen der Jugendlichen - zu einer Zeit, in der sie nach Sinn und Zugehörigkeit suchen. Angesichts dieser tiefgreifenden Konflikte müht sich die Ixil-Jugend damit ab, eine kohärente Identitätsstruktur für sich selbst zu entwickeln. Moderne Ixil-Jugendliche wählen zwischen traditionellen Kleidern und westlichen Outfits, zwischen Gehorsam gegenüber den Älteren und der Zugehörigkeit zu Gangs. Sie versuchen, aus den wetteifernden Weltanschauungen schlau zu werden und herauszufinden, welche Version sie wählen oder wie sie die verschiedenen Teile zusammensetzen sollen. Die Art, wie sie die vielfältigen Aspekte ihrer Identität entwickeln, wird Auswirkungen auf die kommenden Ixil-Generationen haben. |
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