Die Nacht des Wartens
Fijáte 297 vom 18. Nov. 2003, Artikel 6, Seite 6
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Die Nacht des Wartens
von Luis Aceituno, elPeriódico Das Zentrum des Obersten Wahlgerichts, wo alle Informationen und Wahlresultate aus dem ganzen Land zusammenlaufen, ist diesmal in zwei Räume aufgeteilt. Auf der einen Seite befindet sich der Pressesaal und auf der anderen Seite der Saal, in dem sich die Parteien aufhalten, während sie auf die Ergebnisse warten sowie das eigentliche Wahlzentrum. Die Kommunikation zwischen diesen beiden Räumen beschränkt sich auf die neusten Resultate der Auszählungen, die via Bildschirm vom einen in den andern übertragen werden. Relativ unverständlich für den unerfahrenen Beobachter, der sich die Informationen aus den vielen Farben herausfiltern muss, die zur Verständlichkeit der Grafiken beitragen sollen. Bevor ich überhaupt in den Saal eintreten kann, stehe ich einem Sicherheitsdispositiv gegenüber, das mich etwas beunruhigt: Terrorspezialeinheiten, Polizisten und Typen in grünen Westen, die aussehen wie die kleinen Brüder derer, die in Science-Fiction-Filmen à la Matrix vorkommen. Ich durchlaufe zwei oder drei Kontrollen und befinde mich plötzlich umgeben von Männern und Frauen undefinierbaren Alters, die mit zerknirschten Gesichtern in ihre Funktelefone sprechen, als ob von diesem Anruf das Schicksal unserer Heimat abhinge. Ich grüsse, wem ich begegne, obwohl ich die Mehrheit nicht kenne. Zehn Minuten später merke ich, dass das Grüssen eine automatische Geste ist, eine Art Zeitvertreib, während ich auf die Nachrichten aus dem anderen Saal warte. Als erstes widme ich mich dem Studium meiner Umgebung, doch das gibt nicht viel her: Zwei oder drei Blicke in die Runde und mir ist klar, dass wir uns hier versammelt haben, um uns gemeinsam zu Tode zu langweilen. Rund um die Installation des Nachrichtensenders Notisiete drängen sich die JournalistInnen, als ob dort gleich Shakira oder Maritza Ruiz auftreten würde. Doch es geschieht rein gar nichts. Die Leute verlieren ihr Interesse und verstreuen sich. Etwa um neun Uhr erscheinen Anabella de León und Otto Pérez Molina (KandidatInnen für den Kongress). Sie werden sofort zu den Stars der Medien. Sie gehen von Radiostation zu Radiostation als würden sie Altare besuchen. Später kommen Leute dazu wie Dionisio Gutíerrez, Julio Ligorría, Harris Whitbeck, Tom Koenigs, der von MINUGUA, der Mission der UN für Guatemala. Nach oben |
Das Fehlen von Schwergewichten wie Berger, Colom oder Ríos Montt hat zur Folge, dass, wer immer hier auftaucht, einE umschwärmteR InterviewpartnerIn ist. Ich stelle mich in die Nähe und versuche, ein paar Worte aufzuschnappen, aber es ist unmöglich, etwas zu verstehen. Mit Sicherheit sprechen sie über sehr wichtige Dinge, denn alle haben ein todernstes Gesicht aufgesetzt. Gegen elf Uhr abends wissen wir noch immer nicht mehr und der Hunger und die Erschöpfung überfallen uns. Die Mehrheit von uns taumelt nur noch durch den Saal. Wir machen uns nicht einmal mehr die Mühe, einander zu grüssen. Unabhängig davon, wer in die zweite Runde kommt, am 28. Dezember werden wir uns eh alle wieder hier treffen. Bis dann also! |
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