Die Droge Gerardi
Fijáte 438 vom 01. Juli 2009, Artikel 1, Seite 1
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Die Droge Gerardi
Wenn etwas mit Gewissheit über die Ermordung von Bischof Gerardi gesagt werden kann, dann, dass sie Leidenschaften und grosse Fragezeichen provoziert hat und weiterhin provoziert. Nachdem sich im Verlauf der Jahre die Wellen endlich etwas geglättet haben, wurden sie nun durch die spanische Übersetzung des Buches "Die Kunst des politischen Mordes. Wer tötete den Bischof?" des guatemaltekisch-US-amerikanischen Autors Francisco Goldman wieder aufgewühlt. Für die einen liegt die Angelegenheit nach wie vor im Dunkeln, für die anderen, so auch für den Autor, ist sie ein Zeichen der Hoffnung, dass es möglich ist, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Der folgende Artikel von Alejandra Gutiérrez Valdizán erschien in der Zeitschrift "Revista" vom 5. Juni 2009. Zwei Tage vor seiner Ermordung, am 24. April 1998, übergab Juan Gerardi zusammen mit dem Menschenrechtsbüro des Erzbistums Guatemala (ODHAG) der Öffentlichkeit den Bericht über das Projekt zur Erlangung der historischen Erinnerung, REMHI. Wie eine Warnung erklangen seine Worte in der Kathedrale der Hauptstadt: "Die Geschichte aufarbeiten, den Schmerz, den Tod. Das menschliche Drama aufzeigen, das 'Weshalb' und 'Wie' verstehen… Das REMHI war wie eine offene Tür, damit die Menschen aufatmen und sich frei aussprechen können." Die Aufklärung des Todes von Gerardi wurde zu einem intensiven und verschlungenen Versuch, diese Geschichte des Schmerzes und des Todes aufzuarbeiten, das "Wie" und "Weshalb" zu verstehen. Mit dem Ziel, die Wahrheit herauszufinden, machte sich Francisco Goldman auf eine Suche, die neun Jahre dauern sollte. Er schrieb ein Buch, in dem er sämtliche Teile dieses Puzzles zusammenzusetzen versucht. Mit seiner Herausgabe auf Spanisch haben die GuatemaltekInnen nun die Möglichkeit, eine andere Version als die bisher üblichen zu hören, und vielleicht bringt das Buch Licht in eine Sache, auf der bisher nur Schatten lag. Im Fall Gerardi gab es nicht nur Schwarz oder Weiss, sondern eine Palette von Grautönen, die von vielen Leuten mit Inbrunst verteidigt wurden. Das "Weshalb" der Ermordung war während Jahren Gegenstand intensiver Diskussionen und ist denn auch eine der dunklen Zonen, die Goldman in seinem Buch zu beleuchten versucht. Nachdem die Staatsanwaltschaft und die Anwälte des ODHAG Dutzende von Beweggründen analysiert und verworfen hatten, war für sie klar: Das Verbrechen wurde wegen des REMHI begangen. Diese Theorie wurde von den GegnerInnen sofort gekontert: Weshalb soll der Bischof erst nach der Veröffentlichung des Berichts ermordet werden? Goldmann hat in seinem Buch eine einfache und logische Erklärung: Wäre er vorher ermordet worden, hätte man aus ihm einen Helden, einen Märtyrer gemacht und dem REMHI wäre viel mehr Beachtung geschenkt worden. Ihn erst nach der Veröffentlichung zu ermorden und darum herum riesige Skandale zu veranstalten, war Teil der Kunst des Mordens. Nery Rodenas, Direktor des ODHAG, teilt diese Meinung: "Die beste Strategie, die juristischen Prozesse zu verhindern, welche die Veröffentlichung von 'Guatemala - nunca más' hätte nach sich ziehen können, war die Diskreditierung von Gerardi." Für Mario Domingo, Anwalt des ODHAG und eine der Hauptpersonen in Goldmans Buch, ist das "Weshalb" der Ermordung klar: "Es ging um die Botschaft: Wir haben nach wie vor die Macht." Moisés Galindo Ruíz, Anwalt des Verurteilten Byron Lima, widerspricht der Theorie des politischen Mordes. Während der Untersuchungen und des Prozesses habe man ausschliesslich in einer Kriegslogik gedacht und entsprechend Angehörige des Militärs als Sündenböcke auserkoren. Zu behaupten, der Mord sei wegen des REMHI ausgeführt worden, entbehre jeglicher Logik, da ja der Bericht schon publiziert gewesen sei, so Galindo Ruíz. Während den Untersuchungen tauchten immer neue "Weshalb", "Wie" und "Wer" auf, die Hypothesen verwoben sich zu Spinnennetzen. Selbst heute, nach elf Jahren, ist der Fall für die einen noch nicht gelöst. Die Mysterien und der Nimbus, welche den Mord umgaben, führten die anderen zu einer Art Besessenheit. Mario Domingo, der seit Beginn der Untersuchungen als Anwalt des ODHAG fungierte, versicherte, dass der Fall Gerardi süchtig machte. "Wer sich diesem Fall näherte, war fasziniert von ihm, von den Tausenden von Variablen, von den verschiedensten Sichtweisen, von den Verdunklungsversuchen. Verstrickungen, die einen nicht mehr loslassen. Von diesem Fall wurden auch Goldmann, Claudia Méndez, Rodrigo Salvadó und Nery Rodenas süchtig." Alle genannten Personen sind ProtagonistInnen in Goldmans Buch. Claudia Méndez Arriaza, Journalistin und Übersetzerin des Buches, die den Fall bis zum Gerichtsurteil begleitete, bestätigt dies. "Ich war bisher nie süchtig, aber der Fall Gerardi war für mich wie eine Droge." Das Paradigmatische daran ist für sie, dass dem Mord noch ein Verbrechen folgte: "Als wir glaubten, die Geschichte (von Gerardi und dem REMHI) sei mit dem Mord zu Ende, begannen die Vertuschung und Verzerrung der Wahrheit: Das erst machte das Ganze zu einem 'Kunstwerk'." Diese Kunst der Desinformation und Verdeckung weckte in Goldman erst so richtig das Interesse. "Die Leute vergassen das REMHI. Es ging nur noch um den Hund Balú, um den Priester Mario Orantes, um Homosexualität, um ein häusliches Verbrechen, um Ana Lucía und die Bande 'Valle del Sol', den Raub von religiösen Bildern, Geheimnissen, Seifenoper etc. … Und damit ist es beinahe gelungen, Bischof Gerardi unter dem Müll von Desinformation und Diffamierung zu begraben." KritikerInnen bezeichnen das Buch als "Resonanzraum" des ODHAG und versuchen, Goldmans Untersuchungen als unprofessionell zu widerlegen. Goldmans Antwort: "Ich hatte nie vor, wie die Staatsanwaltschaft oder die Polizei zu ermitteln. Meine Arbeit bestand darin, die einzelnen Puzzleteile wahrzunehmen und daraus eine Erzählung zu schreiben." Für seine Untersuchungen stützte er sich auf die Informationen der Staatsanwaltschaft, des ODHAG und der (damals noch amtierenden) UNO-Mission MINUGUA, sowie auf die Recherchen der JournalistInnen. Material gab es viel, und Goldmann hatte auch Zugang zu geheimen Informationen. "Ich versuchte, diese Fülle an Informationen zu verstehen und herauszufinden, wo und wie sie zusammenpassen, um daraus eine Geschichte zu schreiben, die von der Ermordung Gerardis bis zum Schlusspunkt des Falles geht, als im Jahr 2007 der Oberste Gerichtshof die Anträge der Verteidigung ablehnte", erklärt Goldman. Nach oben |
Dies ist ein weiterer Streitpunkt: Für Goldman gibt es einen Schlusspunkt, für andere nicht. Moisés Galindo, der Anwalt von Lima, bezeichnet die Verurteilung seines Mandanten als äusserst fragwürdig und schrieb selber ein Buch, in dem er sämtliche Punkte der Anklageschrift aufzählt, die in seinen Augen nicht korrekt sind. Unabhängig davon, wie man den Fall und das Urteil einschätzt, muss man anerkennen, dass die Ermordung von Gerardi und die Suche nach der Wahrheit und den Hintergründen dieses Mordes in Guatemala Spuren hinterlassen haben. Dazu Goldman: "Der Fall zeigt vieles auf. Das Wichtigste aber ist, dass es einen enorm riskanten und langen Kampf um Gerechtigkeit in einem für ganz Guatemala traumatischen Fall gab. In einem Land, in dem bei dieser Art von Verbrechen - politischen Morden - immer Straffreiheit geherrscht hat. Und es gelang trotz aller Hürden, Gerechtigkeit zu erlangen. Das ist historisch." Er beschreibt bewegt den Tag der Urteilsverkündung, als die Leute plötzlich realisierten, dass Gerechtigkeit möglich ist. Doch danach ging der Krieg der Propaganda und der Desinformation los und dem Land wurden die Hoffnung und der Stolz geraubt, die sie zu Recht fühlten. Claudia Méndez stimmt mit Goldman überein, dass der Fall gelöst sei, doch für sie gibt es ein grosses ABER: "Er ist gelöst für uns, die wir alle Details kennen, für Mario Domingo, für Staatsanwalt Leopold Zeissig. Aber es frustriert mich, dass im Gespräch mit irgendwelchen Personen immer ein "wer weiss, was da genau passiert ist…" kommt. Die Leute haben keine Ahnung von den wirklichen Geschehnissen." Méndez ist überrascht und besorgt darüber, dass die "Wahrheit nicht aufatmen" kann. Sie fragt sich, wie es möglich ist, dass die Menschen trotz Gerichtsurteil in einem Vakuum leben, das ihnen unmöglich macht, Gewissheit über das Verbrechen zu erlangen. Denn auch wenn Goldman einen Schlusspunkt in seinem Buch gesetzt hat, bleibt der Fall Gerardi wie in der Luft hängen, die Staatsanwaltschaft sucht weiterhin nach Beweisen, mit denen weitere Beteiligte überführt werden können, und die Verteidiger der Limas (Vater und Sohn) suchen weiterhin nach Elementen, welche die Unschuld ihrer Mandanten beweisen. Das Buch von Goldman hat den Fall erneut aufs Tapet gebracht. Gelobt von den einen, kritisiert von den anderen. Goldman selbst steht zu seiner Bewunderung für die Arbeit des ODHAG. "Wenn die Anwälte des ODHAG nicht so hartnäckig gearbeitet hätten, wäre die Sache mit Balú (dem Hund, der Bischof Gerardi angeblich zu Tode gebissen haben soll, die Red.) und der Verurteilung von Padre Orantes für immer in der Straflosigkeit versunken. Die unerbittliche und minutiöse Arbeit von Mario Domingo, seine Geduld und Hartnäckigkeit in dem Fall sind beispielhaft und haben viele LeserInnen, selbst SpezialistInnen der Materie tief beeindruckt." Für Domingo und Rodenas vom ODHAG und für Claudia Méndez zählt zu den positiven Elementen, dass bewiesen werden konnte, dass das System durchaus funktionieren kann - auch wenn andere dies anders sehen. Kritisiert wurden zum Beispiel einzelne sowie die Anzahl Zeugen, auf die man sich im Prozess gestützt hatte. Wer aber wie Claudia Méndez Dutzende von Prozessen verfolgt hat, weiss, dass ZeugInnen das Herzstück in jedem Prozess sind. Entsprechend wichtig seien auch gute ZeugInnenschutzprogramme, betont sie. "Es gibt immer jemanden, der bereit ist, zu reden", weiss sie, eine Erfahrung, die auch Mario Domingo teilt und dank der er die Ermordung seines eigenen Bruders aufklären konnte. Dazu Goldman: "Es ist ein menschliches Gesetz, dass mit der Zeit die Geheimnisse ans Tageslicht kommen". Eine andere Erkenntnis, die sich laut Goldman aus dem Fall Gerardi beweisen lasse, sei, dass es immer Menschen gibt, die ehrlich arbeiten: RichterInnen, StaatsanwältInnen, die Leute vom ODHAG… Aber wie erwähnt gibt es dazu andere Meinungen: Verteidiger Galindo ist überzeugt, dass gewisse RichterInnen ZeugInnen zu Falschaussagen manipuliert hätten. Als eine perverse Show beschreibt Galindo die Art und Weise, wie der Prozess geführt worden sei. Mario Domingo behauptet begeistert, dass, wer sich mit dem Fall Gerardi auseinandersetzt, eine Universität durchlaufe. Sowohl er wie auch Claudia Méndez versichern aus ihrer je unterschiedlichen Perspektive, dass sie durch die Beschäftigung mit dem Fall Gerardi die Lektion ihres Lebens gelernt hätten. Auch für Goldman war es ein Lehrstück (das zu einem Meisterwerk wurde, die Red.) "Es war ein langer, komplexer Prozess… der Exhumierung der Leiche Gerardis beiwohnen zu dürfen, der Zirkus, der um Balú gemacht wurde. Zu sehen, wie die Medien ein solch zynisches und groteskes Spiel mitmachten, war überraschend und schwierig zu akzeptieren." Sie alle, Rodenas und Domingo aus der Sicht des ODHAG, Méndez Arriaza als Journalistin und Goldman als Autor, sind sich einig, dass man die Geschichte von Gerardi nicht isoliert von der Geschichte Guatemalas betrachten könne. Aus ihrer jeweiligen Perspektive stimmen sie darin überein, dass ihnen die Auseinandersetzung mit dem Fall zu einer anderen Sicht der Realität verholfen habe. Méndez: "Solche Dinge werfen einen völlig auf sich selber zurück, auf unsere Geschichte, auf unsere Gesellschaft, unsere Ängste, unsere Komplexe, auf unsere Reserviertheit, auf unsere Schwierigkeit, über die Wahrheit zu sprechen, auf unseren Rassismus. Es war so offensichtlich, wie z.B. der Zeuge mit (indigenem, die Red.) Nachnamen Chanax abschätzig behandelt wurde, oder einer, dessen Sprechweise nicht dem Spanisch entsprach, wie wir es gewohnt sind. Doch Méndez will den Fall nicht negativ sehen, sondern streicht das Positive daran heraus. Ebenso beurteilt es Domingo: "Wir haben bewiesen, dass wir mit unserem Willen und unserem Mut die Wahrheit ans Tageslicht gebracht haben." Aber auch darin stimmen die Meinungen nicht überein. Galindo: "In diesem Fall haben sich alle Gerardi auf die Fahnen geschrieben, wollten die Straffreiheit in Guatemala beenden, doch erreicht wurde nur noch mehr Straffreiheit." Und solange viele Leute noch nicht entschieden haben, ob sie den Fall als gelöst oder nicht sehen wollen, solange sie nicht wissen, wem sie glauben können, empfiehlt Claudia Méndez: "Lest all die verschiedenen Bücher, die über den Fall geschrieben wurden, lernt alle Versionen der Geschichte kennen und fällt euer eigenes Urteil!" Goldmans Interesse liegt darin, aufzuzeigen, dass die Dunkelheit überwunden werden kann - die Straflosigkeit und der Defätismus. "Dies ist eine Geschichte über Licht, Transparenz, Ehrlichkeit und Mut." Francisco Goldman: El arte del asesinato político. ¿Quién mató al obispo? Anagrama/Sophos, Guatemala 2009 P.S.: Auch die ¡Fijáte!-Redakteurinnen verfielen bei der Lektüre des Buches von Goldman der "Gerardi-Sucht". |
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