Lynchjustiz statt Rechtsprechung
Fijáte 452 vom 20. Januar 2010, Artikel 1, Seite 1
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Lynchjustiz statt Rechtsprechung
Auch 2009, insbesondere in den letzten Wochen des Jahres, verzeichnete Guatemala etliche Fälle von Lynchjustiz. Dieses Phänomen ist Ausdruck der Straflosigkeit und des fehlenden Rechtssystems im Land. Guadi Calvo griff das Thema Ende 2008 auf (http://revista-zoom.com.ar/articulo2782.html) - sein Artikel wurde im folgenden Text als Grundlage verwendet und mit Beispielen und Aktualisierungen aus kürzlich erschienenen Zeitungsberichten sowie mit der Analyse des Anthropologen Alejandro Álvarez (Interview in La Revista, Diario de Centro América, vom 11. Dezember 2009) "aufgefrischt". Seit 1996, nach fast 40 Jahren Bürgerkrieg, der 200.000 Todesopfer, 500.000 Verschwundene und eine Million Vertriebene forderte, steigt die Gewaltrate in Guatemala exponentiell an. Das Land hat es nicht geschafft, den Fängen von Mictlantecuhtli, dem Señor des Todes - dunkelster Gott der Maya-Mythologie - zu entkommen. Entführungen, Kinderraub, Überfälle und Frauenmorde sind in Guatemala fast an der Tagesordnung. Als Antwort auf diese Gewalt und auf die augenscheinliche Unfähigkeit der Regierung, für Sicherheit zu sorgen, wird vermehrt auf Lynchjustiz zurückgegriffen. Dieser alarmierende Ausdruck sozialer Missstände ist schon seit Urzeiten bekannt. Aber erst 1780 bekam diese Praxis in Virginia (USA) ihren Namen, als Coronel Charles Lynch befahl, die Kolonisten, die der britischen Krone vermutlich treu waren, ohne vorherigen Prozess aufzuhängen. In den USA sind gemäss Alejandro Álvarez "die 'lynchings' eher rassistischer Natur, um die Bevölkerung afrikanischer Herkunft zu eliminieren. Einige Hypothesen der sozialen Psychologie schreiben Lynchaktionen dem kollektivem Unterbewusstsein und der kollektivem Hysterie zu. Politische Erklärungen gehen eher von der Abwesenheit des Staates aus. Was Guatemala betrifft, existieren jedoch noch keine Studien zu diesem Thema." Seit 1996 registrierte man in Guatemala offiziell Hunderte von Fällen von Lynchjustiz. Der erste verzeichnete Fall geschah in der Hauptstadt, als ein im Parque Central arbeitender Schuhputzerjunge des Diebstahls einer Brieftasche bezichtig wurde. Umringt von einer Gruppe von StudentInnen wurde er durch Fusstritte umgebracht. Zwischen 1996 und 2003 gab es laut der UNO-Mission in Guatemala (MINUGUA) 250 Fälle; zwischen 2004 und 2008 zählte man gemäss Daten der Gruppe gegenseitiger Hilfe (GAM) 95 Todesfälle durch Lynchjustiz. Im Jahr 2009 erfasste man 109 Vorkommnisse, bei denen 41 Personen starben und 211 verletzt wurden. Auch kamen dabei mindestens acht Polizeifahrzeuge und zwei Polizeistationen mitsamt Zubehör (Computer, Archive, Telefone etc.) zu Schaden. Der materielle Verlust wird auf 1,7 Millionen Quetzales geschätzt. Die Konsequenz davon ist, wie Regierungsminister Raúl Velásquez zugab, dass Gelder, die für die Sicherheit des Landes bestimmt waren, nun für Reparaturmassnahmen benutzt werden müssten. Was natürlich indirekt den Verbrechern zugute komme. Wieso zur Lynchjustiz greifen?Die Wehrlosigkeit der Bevölkerung gegenüber der hohen Gewaltrate in den Städten und auf dem Land, begleitet vom schlechten Ruf des Justizsystems, sind die Hauptursachen der Lynchjustiz. Laut Mario Polanco von der GAM ist es "ein klares Zeichen der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den staatlichen Institutionen. Sie vertraut der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Justizsystem nicht. Deshalb hat die Bevölkerung begonnen, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen, was nicht korrekt ist. Es braucht dringend eine Präventionspolitik, der es gelingt, das Vertrauen in die Justiz wieder herzustellen." Trotz der fast täglichen Exekutionen sind die aufgeklärten Fälle eher rar. Dies versetzt die Bevölkerung in einen permanenten Zustand der Angst und Unsicherheit. In den ländlichen Zonen hat die Polizei ihren Einfluss verloren: die BeamtInnen befürchten Racheakte als Reaktion auf Verhaftungen, und die Bevölkerung weigert sich aus Angst vor Vergeltungsmassnahmen oder weil sie mit den Exekutionen einverstanden ist, Aussagen zu machen. Dazu kommt eine Art Nachahmungseffekt: Im Wissen drum, dass der Staat nicht die Mittel aufweist, um es zu verhindern bzw. strafrechtlich zu verfolgen, greifen immer mehr Leute zur Selbstjustiz. Allerdings ist es schwierig, eine Verbindung zwischen der hohen Verbrechensrate und der Lynchjustiz als Antwort darauf, herzustellen. So ist z. B. das Department Sololá einer der Orte des Landes, welcher die wenigsten Mordfälle verzeichnet, aber zwei Fälle von Lynchjustiz innerhalb der letzten Monate erlebte. Die Lynchjustiz wird ausserdem von der Presse unterstützt: oft liest man, dass die Bevölkerung es satt habe, auf die Justiz zu warten und deshalb lynche. Damit wird dies sozusagen toleriert und entschuldigt. Dazu kommt noch ein rechtliches Problem: das Strafgesetzbuch definiert keine Delikte, die von einer Gruppe begangen werden, d.h. der guatemaltekischen Gesetzgebung ist es nicht möglich, eine ganze Menschenmenge zu belangen. Zur Zeit gibt es ein Gesetzesprojekt im Kongress, das Lynchjustiz als Delikt zu klassifizieren versucht. Neben der aktuellen Gewalt ist auch die gewalttätige Geschichte des Landes eine Ursache der Lynchjustiz. Während des Bürgerkrieges (1960-96) ging die Armee mit politischer Manipulation und mit Gewalt gegen die Zivilbevölkerung vor, was eine Spirale der Gewalt auslöste. Diese wurde mit der Gründung paramilitärischer Gruppen verstärkt, deren Gewalt hauptsächlich gegen die indigene Landbevölkerung gerichtet war. Folge davon waren Völkermord, Menschenrechtsverletzungen, Straflosigkeit und die Zerstörung der sozialen Struktur. Nach oben |
So verwundert es nicht, dass die Bevölkerung heutzutage bei ihren Exekutionen die Methoden von damals kopiert: die Opfer werden vor den Augen der Gemeinde gefoltert und dann verbrannt. Verschiedene Berichte stimmen auch darin überein, dass viele der Anstifter der Lynchfälle Exmitglieder der Zivilpatrouillen PAC sind. Organisierte Spontaneität oder Mayarecht?Lynchjustiz sind laut Definition impulsive Handlungen wütender BürgerInnen, die vermeintliche VerbrecherInnen zu bestrafen bzw. hinzurichten versuchen. Aber es gibt starke Hinweise darauf, dass in einigen Fällen, trotz augenscheinlicher Spontaneität die Exekutionen von jemanden geplant oder dazu angestiftet wurden, und zwar aus Gründen wie Rache oder aus wirtschaftlichen und politischen Interessen. Oft wird die Lynchjustiz auch als Teil des Rechtssystem der indigenen Bevölkerung dargestellt. Dies ist aber unbegründet. Das mündlich überlieferte Mayarecht erlaubt den Mitglieder einer Gemeinde, die Verbrechen die in ihr geschehen, zu bestrafen. Es erlaubt aber nicht die Todesstrafe. Vielmehr soll das Individuum gegenüber der Bevölkerung blossgestellt werden, damit diese von den Straftaten erfährt, und der oder die Bestrafte muss nach dieser Demütigung das Dorf verlassen. Laut Alejandor Álvarez "geht die Kosmovision der Mayas davon aus, dass man nichts gewinnt, wenn man eine Person bestraft, sondern dass die Person den Schaden, den sie angerichtet hat, wiedergutmachen muss. Als ich 2003/2004 für den Staat arbeitete, stellte ich fest, dass es eine direkte Verbindung gibt zwischen den Gemeinden mit den meisten Fällen von Lynchjustiz und den Gemeinden, die während des Bürgerkriegs am meisten von Massakern betroffen waren. Meiner Meinung nach hat der Krieg die traditionellen Formen der Konfliktlösung zerstört, was dazu führte, dass das Lynchen heute als Antwort auf Konflikte und Gewalt benutzt wird." Oft ist auch in den hauptsächlich von Indigenen bewohnten Gemeinden der Staat weniger präsent, was sie anfälliger für Lynchjustiz macht. Aktuelle Beispiele von LynchjustizAm 27. November 2009 wurden in Sololá zwei Männer und eine Frau gelyncht, da sie vermeintlich einen Busfahrer ermordet hatten. Am 4. Dezember 2009 liessen drei weitere mutmassliche VerbecherInnen ihr Leben in einer Lynchaktion im Departement Huehuetenango. Sie wurden beschuldigt, eine Frau entführt und ermordet zu haben. Ein Tag später wurde im Department Quiché ein Mann gelyncht, der bezichtigt wurde, einen 73-jährigen mit einer Machete zerhackt zu haben. Am 6. Dezember 2009 lynchte ein Mob in der Touristenstadt Panajachel, Departement Sololá, einen vermeintlichen Dieb (von 7000 Quetzales) und versuchte, seine drei Komplizinnen zu töten. Die Frauen wurden von der Polizei durch Einsatz von Tränengasbomben gerettet. Vier Polizeiwagen wurden dabei in Brand gesetzt. Ein weiterer Fall ereignete sich am 8. Dezember 2009 im Departement Huehuetenango: Ein Mob von 40 Personen verfolgte einen 30-jährigen, der drei Tage zuvor einen Einwohner erpresst hatte. Sie schlugen und verbrannten ihn. Laut Innenminister Raúl Velásquez sind diese Fälle von DrogenhändlerInnen oder GemeindeanführerInnen angestiftet worden. Von Seiten des Staates werden Massnahmen diskutiert, um der Lynchjustiz vorzubeugen und den Prozessablauf bei Gericht zu beschleunigen mit dem Ziel, das Bild der Straflosigkeit in der Bevölkerung zu ändern. Seit 1999 existiert ebenfalls die Nationale Kommission der Prävention der Lynchjustiz, die Polizei, Staatsanwaltschaft und Zivilgesellschaft koordiniert. Allerdings ist deren Arbeit oft nicht sehr effektiv, da z. B. in Sololá viele indigene AnführerInnen aus Angst um ihr Leben nicht teilnehmen wollen. So bleibt also abzuwarten, und währenddessen lacht Mictlantecuhtli, der Señor des Todes, weiterhin. |
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