Octubre Azul - RevolutionärInnen in Zeiten des www.com
Fijáte 223 vom 22. Nov. 2000, Artikel 1, Seite 1
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Octubre Azul - RevolutionärInnen in Zeiten des www.com
Octubre Azul ist die Antwort einer Gruppe von KünstlerInnen auf das traditionelle Zelebrieren von historischen Ereignissen, in diesem Fall der Oktoberrevolution von 1944. Während eines Monats fanden in Guatemala Stadt auf öffentlichem Grund die verschiedensten Aktionen, Performances, Filme und Konzerte statt. Insgesamt haben sich mehr als vierhundert KünstlerInnen an den rund hundert Veranstaltungen des Octubre Azul beteiligt. Die OrganisatorInnen kommen aus den Kreisen rund um die Kulturzentren Cúpula und Bodeguita. Wir veröffentlichen Ausschnitte aus einem Text von Mitorganisatorin Rosina Cazali, in dem sie die Idee und das Konzept von Octubre Azul beschreibt. Auch möchten wir eine Auswahl aus dem reichhaltigen Programm vorstellen. Das KonzeptWelche Bedeutung hat der Begriff "Revolution" in der heutigen Zeit? Im besten Fall sprechen wir von der Revolution der Computertechnik, der schwindelerregenden Produktion von Software und ihrer Anwendung. Zeit bleibt Geld - die Geschwindigkeit der Internetkommunikation beweist es. Es scheint, dass es alle eilig haben, sich die Welt und die Menschen darauf untertan zu machen. Doch seien wir ehrlich: In Guatemala stehen wir vor diesem Spektakel wie die Kinder vor dem Weihnachtsbaum. Nur dürftig ist die Dritte Welt mit diesem fremden Fortschritt vernetzt. Auf BenutzerInnen reduziert, eingeschlossen in gläserne Zellen und Bildschirme, in unseren Mikrowelten auf unsere individuellen Probleme beschränkt, stehen wir einem der schwierigsten Momente unserer Existenz gegenüber. Dieser Moment heisst Nachkriegszeit und lauert uns hinter jeder Ecke auf. Allein seine Erwähnung beschwört das Gefühl herauf, an einem Entscheidungspunkt zu stehen, von dem die Gestaltung des Morgen abhängt und wir fragen uns, wie wir mit dieser von Trauer umhüllten Vergangenheit in Zukunft zusammenleben können. Wir stehen vor einer Tür, die "Nachkriegszeit" heisst und wir müssen uns endgültig entscheiden, ob wir eintreten wollen oder lieber draussen bleiben. Aber etwas hindert uns daran, uns zu entscheiden. Beim Versuch, dieses 'etwas' zu verstehen, erkennen wir, dass die Gegenwart nicht so ist, wie wir uns früher die Zukunft vorgestellt haben, und auch die Erinnerung an das Vergangene ist nicht unbedingt bei allen identisch. In der herrschenden Stimmung der Vergänglichkeit der Kämpfe und Ideale stellt sich die Frage: Was bedeutet es, die Oktoberrevolution von 1944 zu würdigen und davon zu träumen, dass ihre Werte den heutigen Geschehnissen widerstehen können? Was versprechen wir uns davon, ein Festival zu organisieren, das Octubre Azul heisst? Denn, in einer Gesellschaft, die sich von neoliberalem Zauber und Konsumzwang vereinnahmen lässt, hat die Idee einer sozialen Revolution keinen Platz. Die Ideologien und Utopien haben sich selber zerstört, und es fragt sich, was es für einen Sinn macht, gloriose Daten zu feiern. Und trotzdem machen wir es. Wir versuchen, wieder eine Verbindung herzustellen zwischen dem Monat Oktober und der Phantasie der GuatemaltekInnen. Wir berufen uns auf die Geschichte eines Monats, der ein Aufschnaufen bedeutete, und schreiben eine Ballade an die Geschichte unseres Landes, an die Oktoberrevolution von 1944 und an die demokratischen Utopien, die nach wie vor in unseren Erinnerungen verborgen sind. Wir berufen uns auf die Poesie dieser Jahreszeit, wenn der Himmel ein intensives Blau annimmt und die Farbe zur Metapher für unsere Wahrnehmungen und Sehnsüchte wird. Wer weiss, ob es nächstes Jahr wieder ein solches Festival gibt. In unserem Land hängt die Zukunft permanent an einem Faden, die Kontinuität von Projekten ist unsicher und ich frage mich oft, weshalb ich soviel Energie hineinstecke. Als ich die Einladung annahm, in der Organisationsgruppe mitzumachen, war ich mir nicht bewusst, dass es eine Herausforderung mit so komplexen Dimensionen sein würde. Es bedeutete, mir unter anderem die Frage zu stellen, was die Oktoberrevolution für die jüngere Generation bedeutet. Ich erinnere mich, das mir ein Jugendlicher auf die Frage, was er von der Idee halte, der Oktoberrevolution zu gedenken, antwortete, er wisse nicht, worum es gehe. Er sei damals noch nicht auf der Welt gewesen, entsprechend interessiere es ihn auch nicht. Eigentlich hat mich diese Antwort nicht erstaunt. Sie ist sogar logisch, da wir in einem Kontext leben, in dem es für die seelische Gesundheit besser ist, zu vergessen was war. Die Vergangenheit versteinert langsam, und im besten Fall verliert man sich in sehnsüchtigen Träumereien, ohne dass jemand eine Zukunftsvision formuliert, geschweige denn, die Vergangenheit in Frage stellt. Man kann durchaus sagen, dass es bei Octubre Azul um die Befriedigung unserer eigenen Sehnsüchte geht. Meinerseits würde ich aber sagen, die Motivation für diese Bewegung hat ihre Essenz in den Ideen von Denkern wie Tzvetan Todorov, für den die Bewahrung der Vergangenheit notwendig ist für die Befreiung des Individuums und nicht zu dessen Unterdrückung. Deshalb geht es nicht nur darum, Skulpturen und Statuen zu erbauen. Sondern es geht darum, unter allen Umständen zu begreifen, dass es etwas gibt, das dem fieberhaften Wucher vergangener und gegenwärtiger Regierungen widersteht. Octubre Azul ist eine Aktion, die mehr Fragen aufwirft als dass sie kurzfristig Antworten gibt. Ihre Dynamik geht Hand in Hand mit der Frage "Wohin gehen wir?" und lebt vom Enthusiasmus, die verschiedenen Kunstformen auszuprobieren. Nach dem ungezügelten Enthusiasmus kommt dann sicher auch der Moment der Auswertung von Erfolg und Misserfolg, von Erreichtem und Unerreichtem. Doch wir glauben, dass Octubre Azul zu einem guten Zeitpunkt stattfindet und in einem kulturellen Umfeld, das bisher nur an Militärparaden gewöhnt ist, um historischer Daten zu gedenken. Möglicherweise wird der hauptsächlich von jungen Stimmen angegebene Grundton verwechselt mit Unverfrorenheit gegenüber den historischen Daten Guatemalas. Doch uns geht es eindeutig um mehr: Wir haben genug von einem Lebenssystem, das auf Lüge und Vergessen aufbaut. Das ProgrammWoche 1: Am Sonntag, 1. Oktober, wurde das Kunstfestival mit einem Kinderumzug zum Thema "Meine farbige Stadt" und der Performance "Blaue Urbanität" von Pablo Bromo eröffnet. Am Montag folgte eine Messe in der Kathedrale, um den nationalen Tag der Lesben und Schwulen zu feiern mit anschliessendem Fackelzug durchs Stadtzentrum. Am Dienstag zeigte der KinoClub "Stranger than Paradise" von Jim Jarmusch und am Mittwoch starte Tommy García seine Performance "Das Klo". Als Metapher für die Endlichkeit aller Dinge und die allgemeine Haltung gegenüber der Nation und der Umwelt setzte er sich an strategisch wichtigen Plätzen auf seine Kloschüssel, die er quer durch die Stadt trug. Am selben Tag fand das erste Forum über zeitgenössische Kunst im Museum für moderne Kunst statt. Auf zwei Podien wurde zu den Themen "Wo stehen wir?" und "Wie kann Identität durch Kunst geschaffen werden?" diskutiert. Das dritte Podium am Freitag sprach über die Themen "Wie entsteht zeitgenössisches Denken?", "Wo lernen wir?" und "Wo finden wir Diskussionsforen?". Auf dem Museumsplatz nähte sich derweil Jorge de León als Aktion gegen das chronische Schweigen den Mund zu. Am Samstag luden das Nationalmuseum zu modernen Tanzvorführungen und das Lesben/Schwulen-Kollektiv im Zentralpark zum Strassentheater "Träume müssen keine Grenzen haben", während dreissig PoetInnen als Intervention im öffentlichen Raum an verschiedenen Orten der Stadt Gedichte rezitierten. Am Sonntag wurden zehn neue Graffitis gemalt und der Künstler Benvenuto Chavajay ging als Aktion zu Fuss von seiner Wohnung in den Slums der Zone 21 quer durch die Stadt zur Zone 18. Somit wollte er nicht nur auf die geographische Dimension aufmerksam, sondern das Zusammentreffen aller Extreme in Guatemala Stadt erlebbar machen. Woche 2: Am Dienstag, 10. Oktober, folgte die Vernissage von Moises Barrios. Unter dem Titel "Blaue Himmel/Der lange Marsch" stellte er in verschiedenen Vitrinen entlang der 6ta Avenida Aquarelle aus, um anhand der Himmel von Guatemala die Nostalgie der Betrachter-Innen zu wecken. Am Donnerstag luden Fundarte zum "Ritual des Mondes", einem Musik- und Poesiespektakel und am Freitag Bohemia zu einem fahrenden Konzert unter dem Titel "Schwinde nicht, mein Herz". In der ehemaligen Zentralpost fand währenddessen die Vernissage der multimedialen Installationen von Tripiarte statt, unter dem Motto: "Erstens öffnet sich der Weg in Richtung Trip mit der Kunst, und zweitens ist der künstlerische Weg insgesamt ein Trip". Fast dreissig Künstlerinnen stellten auf vier Etagen Installationen mit Videos, Poesie und Musik aus. Am Samstag standen wieder Performances und moderner Tanz auf öffentlichen Plätzen auf dem Programm. Im Kulturzentrum Miguel Angel Asturias spielte zum Tag der Rasse "La Tona y Sol Latino". In einem Glaskasten mit zweitausend Fliegen sass am Sonntag María Adela Díaz beim Zentralmarkt als Monument der Einsamkeit, während im Park eine zeitgenössische Tanztruppe aufspielte. Vor dem Portal del Comercio hielt die Gruppe Die von weiter hinten den Monolog "Communiqué gegen mich selbst". Nach oben |
Woche 3: Am Dienstag, 17. Oktober, startete Alejandro Paz seine Konfrontation mit dem Titel "Hier gab es kein Genozid" und dokumentierte die Reaktionen der BetrachterInnen. Am Mittwoch pedalte Don Freak Pérez einen ganzen Tag auf seinem Hometrainer auf der Brücke El Trébol verloren in Rauch, Lärm und Gewalt des Verkehrs und stellte die wichtigste Sorge des postmodernen Menschen, "Wie erreichen wir den Traum, gesund zu bleiben", an den Pranger. Am Donnerstag luden die Lesben und Schwulen zum "Revolutionären Erwachen" und eröffneten ein Infotelefon als Aktion für die Gleichberechtigung für Lesben und Schwule in Guatemala. Am Abend zeigte das Multimediatheater "Burning/flesh/macabra/orquesta" von Alejandro Marré, ein Stück zu Gewalt und Verschmelzung in Beziehungen, und auf einer anderen Bühne spielte die Gruppe Schwarzes Schaf "Vor geschlossenen Türen" von Jean Paul Sartre. Am Freitag baute Die Klinik eine soziale Plastik im Zentralpark. Während 45 Minuten verharrten hundert bekannte Persönlichkeiten und KünstlerInnen in einer starren Position für mehr Toleranz und Respekt. Vor dem Obersten Gerichtshof zeigte Sandra Monterroso die Videoinstallation "Die eingefangenen Gesichter" und klagte damit unerbittlich die Mittäterschaft des Gerichtes an. Am Samstag wurden an verschiedenen Orten Performances, Theater und Tanz aufgeführt. Am Sonntag las Roberto Franco Arias als "Urbaner Engel" im Stadtpark. Unter dem Titel "Zu gehen ohne Zukunft bedeutet, mein Hirn ist ausradiert wie mein Leben..." trugen vier Personen in Trachten schwere Lasten auf den vier Hauptverkehrsadern von der Peripherie ins Zentrum. Auf der Plaza Vivar rapte live die Gruppe Iqui Balam. Woche 4: Am Montag startete das Kulturzentrum Miguel Angel Asturias unter dem Motto "Das Fenster" ihr neues Konzept, nämlich, vermehrt alternative Kunstformen zu fördern. Ein Woche lang öffnete das Zentrum für unzählige Lesungen, Klangperformances, Installationen und Happenings für eine Ausstellung und verschiedene Theateraufführungen die Tore. Das Historische Museum eröffnete die Ausstellung "Der Nullpunkt". Thelma Alvarez, Javier Payeras und Igor Kubrik erforschten anhand der Geschichte die kulturelle Beeinflussung des Westens und fragten aus Sicht der Mayas, ob der jetzige Nullpunkt Ausgang sein könnte für eine Rückkehr oder für die Entwicklung einer selbstbestimmten Zukunft. Am Donnerstag inszenierten sich drei Frauen als Projektionsfläche in einem Durchgang. Im Nationalmuseum wurde eine Comicausstellung eröffnet und in der Cúpula eine Ausstellung experimenteller Werkegezeigt. Am Freitag lasen SchriftstellerInnen vor dem Bürgermeisteramt "300 blaue Minuten" und vor der Alliance Francaise wurde urbane Poesie vorgetragen. Am Samstag zeigte die Gruppe Terrícola de Xela ein Strassentheater im Park, die Gruppe GC8 experimentellen Tanz in einer Vitrine an der 6ta Avenida. Gegenüber der Nationalpolizei spielte das Strassentheater Rayuela ihr Stück "Die Razzia" und wies darauf hin, dass alle BewohnerInnen der Hauptstadt unter ständiger Verfolgung leben, dass Verfolgung Teil des Alltags geworden sei. In der Cúpula wurde die Fotoausstellung "Der Weg ist, wo ich gehe" von Atiliano Pérez eröffnet. Der 17-jährige Künstler dokumentiert das städtische und das ländliche Guatemala, die Abfallhalde der Zone 3, die marginalen Slums, aber auch den Altiplano und versucht somit, die komplexe Identität, die Guatemala hervorbringt, zusammenzubringen. Am Sonntag sass dann live auf der Abfallhalde in der Zone 3 Regina José Galindo, eingepackt in einen riesengrossen Müllsack. Als vergessenes Paket erzählte sie in ihrer Performance "Wir verlieren nichts mit der Geburt" von der Angst, die stets in der Kehle sitzt, vom Vergessen werden und von der Zerrissenheit einer Gesellschaft, die Menschen zwingt, vom Müll der Abfallhalden zu leben. Im Park konnten sich alle TeilnehnmerInnen und InteressentInnen des Octubre Azul fotografieren lassen und im Hof der Kirche Beatas de Belén wurde das Tanzstück "Den Kopf frei machen" aufgeführt. Woche 5: Am Dienstag zeigt der KinoClub den Film "Erinnerungen an die Unterentwicklung" von Tomás Gutiérrez Alea und an einer klandestinen Party wurde der Octobre Azul vorerst verabschiedet. Nach all diesen Veranstaltungen und Aktionen bleibt vorerst offen, was sich aus dem Octubre Azul weiterentwickelt. In einem Land, wo alles einfach irgendwie geschieht und alles unsicher ist, kann die Zukunft nie vorausgesehen werden, sagen die OrganisatorInnen. Aber dieser Anfang hat gezeigt, dass es möglich ist, Fragmente dieser Stadt und verschiedene Bewegungen der BewohnerInnen zusammenzubringen. Der Octubre Azul hat sich als vernünftiger ebenso wie irrer Raum geöffnet, um aufzuzeigen und wahrzunehmen, wieviel sich aus sich selbst heraus entwickeln lässt. |
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