Hijóle, die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Atitlán hat gesagt: Basta, es reicht!
Fijáte 450 vom 16. Dezember 2009, Artikel 6, Seite 6
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Hijóle, die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Atitlán hat gesagt: Basta, es reicht!
Die wichtigste Ikone des guatemaltekischen Tourismus, der Atitlánsee, verfault. Bloss verantwortungslose IgnorantInnen können über eine solche Tragödie staunen. Was haben die Tourismusunternehmen, die PolitikerInnen und die AnwohnerInnen denn erwartet, würde passieren, wenn sie das ganze Abwasser, tausende Tonnen von Fäkalien, Agrochemikalien, Plastik und andere Abfälle in den See kanalisieren - genauso wie auch in andere Seen, Flüssen und an Meeresufer, in deren Nähe Dörfer sind. Mit einem Hauch menschlicher Rationalität (oh, die westliche Rationalität!) versteht man, dass das stehende Wasser des Atitlánsees auf die Dauer eine solche Abfallflut niemals verkraften kann. Aber hier spielt die Rationalität des Gewinns eine wichtigere Rolle und sie hat sich entschieden, nichts zu wissen, nichts zu sagen und nichts zu tun. Nichts, ausser bis zum Ekel zu wiederholen, dies sei der schönste See der Welt. So lehrt es die Expertise des Marketings: Gestellte Bilder als Realität zu verkaufen, Werbebotschaften als Wahrheit, und, wenn es grad passt, Diskurse und Diskussionen als Aktionen. Und die umliegende Bevölkerung? Der Impotenz unterworfen, beschränkt sie sich darauf, nichts zu wissen, nichts zu sagen und nichts zu machen, so wie es das Gesetz der politisch-wirtschaftlichen Macht verlangt. Auch in meinem Dorf sehen wir, wie unsere Kanalisation in einen kleinen traurigen Fluss mündet, der noch durch ein paar andere Dörfer fliesst und dann den angesammelten Müll im Chixoy-Stausee ablagert. Schade, dass die PolitikerInnen diese Dinge nicht mit demselben Interesse angehen, mit dem sie zum Beispiel die Steuerreform bekämpfen. Schaut euch bloss ihre Grossherzigkeit an, wenn sie behaupten, sie seien gegen eine Erhöhung der Steuern, weil dies mehr Arbeitslose generieren würde und somit mehr Armut und Misere (siehe bezahltes Inserat der Handelskammer in der Prensa Libre vom 1.12.09). Wie wäre es, wenn sie mit denselben vornehmen Gefühlen sagen würden: "Wir erheben bei den wasserverschmutzenden Firmen eine Extrasteuer für den Bau einer Kläranlage, weil wir den Menschen, die am Ufer dieser Flüsse wohnen, nicht zumuten können, in diesem Müll zu leben?" Sollte dies nicht sowieso die logische Reaktion auf die Tragödie des sterbenden "schönsten Sees der Welt" sein? Grosse Worte … grosse Taten. Oder nicht? Aber momentan ist der Atitlánsee noch voller Scheisse, und mit Sicherheit wird er früher oder später zu einem Morast degradiert (Cécar García in der Prensa Libre vom 1.12.09, S. 23). Der schönste Morast der Welt? - Ein weiteres lokales Paradigma des brutalen, zynischen und kurzsichtigen Kapitalismus. Wie die Risse in den Häusern von Sipacapa und die Zyanid-Lagunen der Mine Marlin; wie die straffrei ermordeten BäuerInnen, die sich dagegen gewehrt haben; wie das Wasserkraftwerk von Camotán; wie die in den Korridoren der Spitäler zusammengepferchten Kranken; wie die Masse der unterernährten Kinder … oder wie die globale Erwärmung der Erde. Trotz all dieser bedrohlichen Signale machen die Marketinghexer weiter, ohne etwas zu wissen, ohne etwas zu sagen, ohne etwas zu tun. Stupide Automaten im Dienste des Gewinns. Nach oben |
Ich kann mir die strategischen Antworten auf des Problem des Atitlánsees vorstellen, welche die Regierung früher oder später - selbstverständlich mit Unterstützung interessierter Unternehmer - vorbringen wird. Mit Bitterkeit ahne ich, dass es nichts Neues sein wird. Sondern etwas ähnliches wie an dem kürzlich abgehaltenen Weltgipfel über Ernährung, dessen Rezept gegen den Hunger von Milliarden von Menschen auf diesem Planeten es ist, den Gewinn der Nahrungsmultis zu garantieren und nicht die weltweite gerechte Verteilung von Lebensmitteln anzustreben. Im Fall des Atitlánsees werden - auf Staatskosten wohlbemerkt - neue grosse Geschäfte gemacht werden wie der Bau von Kläranlagen und andere Meisterwerke der Ingenieurkunst. Aber es werden keine neuen politischen Massnahmen entwickelt bezüglich der grossen transnationalen Unternehmen, die ohne Kontrolle unseren Planeten mit Plastikbehältern verschmutzen, nachdem sie Unmengen von Wasser privatisiert haben. Nichts davon, eine neue qualitative Kultur anzustossen, die nicht nur darin besteht, Papierkörbe und Abfallkübel zu benutzen, sondern darin, den Konsum durch Genügsamkeit zu ersetzen. Nichts von all dem, sondern mehr vom gleichen. Aber es geht hier nicht um ein Spiel. Es sind eigenwillige und freie Ideen gefragt, alternativ zu jenen der automatisierten Klone des Kapitalismus. Wir müssen andere Formen lernen, auf dieser Erde und mit den Menschen zu leben. Begreifen, dass der Westen seit Jahrhunderten die lebendigen und interaktiven Beziehungen mit unserer natürlichen und sozialen Umwelt kastriert. Wir müssen lernen, dass die Erde, jeder Fleck darauf, kein toter Raum ist, auf dem sich Lebewesen tummeln, sondern dass es ein selbstreguliertes und selbstregulierendes System ist, auf dem die Lebenden und Nicht-Lebenden korrekt interagieren müssen, um überleben und weiterkommen zu können. Der bedeutende englische Wissenschaftler James Lovelock - der für die NASA arbeitete und wegen seiner unbequemen Theorien entlassen wurde - hatte es schon Ende der 60er Jahre gesagt und in seinem 2007 veröffentlichten Buch (Die Rache der Erde) in schärferem Tonfall wiederholt. Nachdem er uns daran erinnert, dass "die natürlichen Ökosysteme das Klima und die Chemie des Planeten regulieren und nicht bloss dazu da sind, uns Nahrung und Ressourcen zu liefern", fordert er uns auf, "einen Rückzug von dem nicht erneuerbaren Terrain zu planen, das wir durch den unsachgemässen Gebrauch der Technologie geschaffen haben". Alle Erden-BewohnerInnen sollen sich aufmachen, neue harmonische Beziehungsformen zu unserem Planeten, den er "Gaia" nennt, zu finden. Lovelock warnt uns: "Ich glaube, wir haben wenig Alternativen, ausser wir bereiten uns auf das Schlimmste vor und akzeptieren, dass wir die Schwelle dazu schon überschritten haben." Während ich das schreibe, bestätigt möglicherweise die Mehrheit der BolivianerInnen Evo Morales als ihren Präsidenten. Jener Präsident des Südens, der den internationalen Währungsfonds kritisiert, der Aymara-Indio, der als erster das Gute Leben in und mit dem Planeten in die Prinzipien, Werte und Ziele eines Staates aufnimmt. Verstehen die Eminenzen, die sich dieser Tage in Kopenhagen versammeln, diese Botschaft? Wie viele weitere Tonnen von ... Information brauchen wir noch, bis wir ans Handeln denken? Oder brauchen wir in Zeiten weltweiter Kommunikation andere Beweise, um zu verstehen, dass die Titanic des Kapitalismus bei ihrem Untergang den ganzen Planeten mitreisst? Es scheint, dass wir Menschen nur durch Leiden zu Veränderungen bereit sind. Welches Ausmass muss das Leiden annehmen, damit die Automaten des Marketings ihrer Verrücktheit abschwören? Und bis wir "kleinen Leute" aktiv werden? |
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