"Wir wussten nichts von den Massakern"
Fijáte 450 vom 16. Dezember 2009, Artikel 2, Seite 2
Original-PDF 450 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 --- Nächstes Fijáte
"Wir wussten nichts von den Massakern"
Eine Vorführreise gegen das Vergessen Am 28. Dezember strahlt das ZDF den Dokumentarfilm "Auf halbem Weg zum Himmel" aus. Er handelt von dem Kampf einer guatemaltekischen Mayagemeinde um Gerechtigkeit. Während einer Vorführreise der deutschen FilmemacherInnen durch Guatemala hat der Film einige Kontroversen ausgelöst. In dieser Nachkriegsgesellschaft sind die Wunden der Vergangenheit noch längst nicht verheilt. Wir danken dem Journalisten Andreas Boueke dafür, dass er uns den nachfolgenden Artikel zur Verfügung gestellt hat. Eine ungewöhnliche Delegation steht vor der Pforte der Deutschen Schule in Guatemala-Stadt: Zwei deutsche FilmemacherInnen, die recht grosse und sehr blonde Andrea Lammers und der breitschultrige Ulrich Miller, begleitet von zwei schmalen, dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Männern und zwei Frauen, die in bunte traditionelle Trachten der guatemaltekischen Mayabevölkerung gekleidet sind. Sie alle machen einen unsicheren, nervösen Eindruck, denn obwohl die Schule sie eingeladen hat, müssen sie einen strengen Sicherheitscheck über sich ergehen lassen. "Ich empfinde das als sehr unangenehm", sagt die Dokumentarfilmerin Andrea Lammers. "Die KameradInnen aus dem Dorf erleben diese Rundreise auch als eine Reise des Schmerzes und der Angst. Ich weiss nicht, wie sie reagieren werden, wenn sie sehen, in welcher Situation die privilegierten Sektoren dieser Gesellschaft leben." Für die vier Mayas ist diese Vorführreise eine sehr emotionale Erfahrung. Denn am 5. Oktober 1995 tauchte plötzlich ein Militärtrupp mitten auf dem Dorfplatz ihrer Gemeinde Xamán auf. Die BewohnerInnen reagierten mit Beschimpfungen und der Aufforderung, ihre Rechte zu respektieren. Daraufhin eröffneten die Soldaten das Feuer: 11 Menschen starben, 30 wurden teils schwer verletzt. Das Massaker in Xamán war nicht das einzige an den Mayas. Während des Bürgerkrieges in Guatemala wurden sie systematisch verfolgt und ermordet. Der deutsche Film "Auf halbem Weg zum Himmel" soll zur Aufarbeitung dieser Geschehnisse beitragen. Nach einer Weile gibt der Chef des Sicherheitspersonals die Erlaubnis, die Metalltür zu öffnen. Der Blick wird frei auf einen grossen Parkplatz, umringt von Bäumen, mehreren Gebäuden mit Klassenzimmern und einem dreistöckigen Verwaltungsbereich. Dahinter liegen zahlreiche gut ausgestattete Unterrichtsräume, mehrere Sportplätze und ein Schwimmbad. Für Efraín Grave, einen der Maya-Vertreter, ist der Besuch dieser modern ausgestatteten Schule wie ein Einblick in eine fremde Welt: "Ich hatte gedacht, die Deutsche Schule sei so ähnlich wie die Schule in unserem Dorf, aus Holz und mit einem Wellblechdach. Ich hatte keine Ahnung, dass in Guatemala Schulen existieren, die so viel Platz haben." Efraín Grave ist einer der Überlebenden des Massakers von Xamán. Er wurde damals schwer verletzt. Vor rund 120 SchülerInnen in der Aula der Schule erzählt er seine Geschichte. So wie viele andere Familien auch, ist er mit seinen Eltern im Jahr 1994 aus dem Exil in Mexiko nach Guatemala zurückgekehrt. Die Regierung hatte ihnen eine Sicherheitsgarantie gegeben. "Wir wollten in Frieden leben," sagt Efraín, "Mais, Gemüse und Kaffee anbauen." "Doch es kam anders," ergänzt sein Kollege Eliseo Hernandez bitter. "Mich wühlen die Bilder des Films immer wieder auf. Für uns ist es nicht einfach nur ein Film, sondern eine Darstellung unseres Schmerzes. Damals sind mehrere meiner Familienangehörigen verletzt worden." In den darauffolgenden Monaten entschloss sich die Gemeinde, ein Gerichtsverfahren gegen die Armee einzuleiten. Die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft war auf den Fall gerichtet. Das erste Mal in der Geschichte des Landes mussten sich Armeeangehörige vor einem Zivilgericht für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten. Die Anklage: Aussergerichtliche Hinrichtungen. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurden die Soldaten für schuldig erklärt und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Eine kleine Sensation in der guatemaltekischen Justizgeschichte. Nach der Vorführung sind die meisten SchülerInnen beeindruckt. "Ich habe fast nichts von all dem gewusst," sagt Polet Samayoa aus dem Abiturjahrgang. "Es war schockierend, von all diesen Dingen zu hören, die in Guatemala passiert sind." Nach oben |
Bevor die Regierung und VertreterInnen der Guerilla URNG im Dezember 1996 einen Friedensvertrag unterschrieben haben, sind während des 36 Jahre lang dauernden Bürgerkriegs in Guatemala über 200.000 Menschen ermordet worden. Rund 400 Dörfer wurden von Soldaten der Armee zerstört und viele ihrer BewohnerInnen massakriert. Doch die junge Generation der Oberschicht Guatemalas weiss davon so gut wie nichts, meint der Schüler Mario Arturo Figueroa: "Von den Massakern haben wir noch nie gehört. Ich halte es für sehr wichtig, dass solche Filme in den Schulen gezeigt werden. Wir sind die Zukunft dieses Landes, und wir sollten unsere Geschichte kennen." Nach der Filmvorführung kommt es zu einem Dialog zwischen den SchülerInnen, den vier Gemeindemitgliedern und den deutschen ProduzentInnen. Der Filmemacher Ulrich Miller ist zufrieden: "Ich hatte den Eindruck, dass die SchülerInnen der Deutschen Schule in einer völlig anderen Welt leben. Das bezieht sich nicht nur auf ihren wirtschaftlichen Status, sondern auch auf ihr politisches und historisches Bewusstsein. Sie sehen den Film mit völlig anderen Augen als die Jugendlichen in den Dörfern auf dem Land, die wir in den letzten Tagen besucht haben." Der Schüler Edgar Peters gibt zu, dass er sich bisher nicht besonders für die Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung interessiert hat, obwohl die Mayas rund die Hälfte der EinwohnerInnen Guatemalas ausmachen. "Normalerweise haben wir nicht die Möglichkeit, uns mit ihnen zu unterhalten. Schon gar nicht über ein solch sensibles Thema. Deshalb war diese Vorführung und die darauffolgende Diskussion eine sehr neue Erfahrung für uns. Der Bürgerkieg ist ein Thema, über dass hier sonst nie direkt gesprochen wird." Wie die meisten Jugendlichen aus seiner Schicht hat Edgar nahezu keinen Kontakt zu Angehörigen der indigenen Bevölkerung Guatemalas, mal abgesehen von den jungen Mädchen, die ihnen als Hausangestellte das Zimmer putzen und das Essen kochen. Nach der Vorführung wird die Gruppe im Büro des Direktors der Deutschen Schule empfangen. Sie bekommen Kaffee, Kekse und einen herzlichen Willkommensgruss. Der Koordinator des Bereichs für Sozialwissenschaften, Salvador Montufar, bedankt sich für den Beitrag zur Bewusstseinsbildung der SchülerInnen: "Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass auch nur einer von ihnen jemals eine indigene Gemeinde besucht hat. Aber ich kann ihnen versichern, dass viele sehr daran interessiert sind, mehr über diese Lebenswirklichkeit zu erfahren." Die Regisseurin des Films Andrea Lammers freut sich über die Ergebnisse des Besuchs: "Ich glaube, dass war nicht nur sinnvoll für die SchülerInnen, sondern auch für die KameradInnen aus der Gemeinde. Sie haben erlebt, dass sie auch in sozialen Kreisen, zu denen sie sonst nie Zugang haben, mit offenen Armen und Zeichen der Solidarität empfangen werden können." Der Film "Auf halbem Weg zum Himmel" wird am 28. Dezember zu bester Sendezeit (0.45 - 2.30 Uhr!) im ZDF ausgestrahlt. |
Original-PDF 450 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 --- Nächstes Fijáte