Meine Revolution, deine Revolution, seine Revolution
Fijáte 421 vom 22. Oktober 2008, Artikel 3, Seite 4
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Meine Revolution, deine Revolution, seine Revolution
In den vergangenen zehn Jahren haben wir im ¡Fijáte! anlässlich des 20. Oktobers, dem Tag, der in Guatemala als "Tag der Revolution" gefeiert wird, immer in etwa dasselbe berichtet: Die Route des Demonstrationszugs, die Reihenfolge der RednerInnen, der pathetische Inhalt der Redebeiträge etc. Nun macht es endlich der Präsident Guatemalas Alvaro Colom möglich, dass wir anlässlich dieses Jahrestages einmal über etwas anderes, Gehaltvolleres, schreiben können. Ist dies die Folge der Vereinnahmung diverser Linker und ehemaliger VertreterInnen von sozialen Organisationen durch die "sozialdemokratische" Regierung Colom? Der folgende Artikel ist die Übersetzung eines Textes von Erwin Pérez, Redakteur und Analyst von Incidencia Democrática. In Guatemala ist weder das Finanzsystem in der Krise noch muss die US-amerikanische Botschaft befürchten, dass in unserem Land eine politische Revolution bevorsteht. Dafür findet in diesen Tagen, kurz vor dem 64. Jahrestag der Revolution vom 20. Oktober, ein unübliches Brodeln unter den sozialen Organisationen statt. Die Marschroute sollte wie immer vom Trébol zum Platz der Verfassung gegenüber dem Regierungspalast verlaufen. Dieses Jahr mussten aber die sozialen Organisationen und die Gewerkschaften eine interne Diskussion darüber führen, ob es politisch vertretbar sei, diese Route beizubehalten oder ob man sie nicht besser ändern solle, um die Veranstaltung nicht in den Dienst der Regierung von Alvaro Colom zu stellen. Diese hatte nämlich den ganzen Monat daran gearbeitet, die Vorbereitung der Feierlichkeiten zum 20. Oktober unter ihre Fittiche zu nehmen, hat die Revolution und die daraus folgenden demokratischen Veränderungen gelobpreist und (im wahrsten Sinne des Wortes) auf ihre Fahnen geschrieben. So wurden an den Aussenwänden des Präsidentenpalasts vier enorme Transparente aufgehängt, zwei davon mit den Bildern der ehemaligen Revolutionspräsidenten Juan José Arévalo und Jacobo Arbenz Guzmán. Auf den anderen beiden Plastiktransparenten erscheint auf dem einen ein Abdruck des Gedichts "Vom Hirsch und seinen Jägern" von Luis de Lión und auf dem anderen ein Bild des StudentInnenführers Oliverio Castañeda de Léon, der präzis am 20. Oktober 1978 von Repressionskräften der Regierung umgebracht wurde. Das Gedicht hatte de Lión für Oliverio geschrieben. Später wurde auch de Líon selber Opfer der von der guatemaltekischen Armee protektionierten aussergerichtlichen Mordkampagnen. Am 15. Mai 1984 wurde er am heiterhellen Tag auf einer der belebtesten Strassen der Hauptstadt entführt, gefoltert und im darauffolgenden Juni umgebracht. Sein Körper tauchte nie wieder auf... Ausser diesen Transparenten, die an einen Teil unserer tragischen und dunklen Geschichte erinnern, erkannte Präsident Alvaro Colóm im Namen des Staates die Verantwortung für die Ermordung von Oliverio Castañeda an. Es war kein protokollarischer Akt, sondern er tat es aus Verbindlichkeit und Engagement, eine Tatsache, die von den wenigsten anerkennt wird. Für den Montag, 20. Oktober, ist ein Konzert mit Protestmusik auf dem Platz der Verfassung geplant, an dem unter anderem "Guaraguao" und das "Grupo Quinteto Tiempo" auftreten werden. Weiter soll es eine Ehrung der noch lebenden 44er-Revolutionäre geben. All diese Aktivitäten gaben den sozialen Organisationen zu denken. Die radikalsten von ihnen vertreten die Meinung, dass es fahrlässig wäre, mit dem Demonstrationszug bis zum Präsidentenpalast zu gelangen, weil so die Arbeit der Regierung anerkannt und legitimiert würde. Es ist nicht abwegig zu denken, dass die Regierung mit diesen Aktivitäten das Ziel verfolge, international ein Bild von einer linken Regierung zu präsentieren. Es ist auch nicht übertrieben zu vermuten, dass die Feierlichkeiten der Revolution dem Moment entspringen und nicht einer definierten politischen Linie, die strukturelle Veränderungen im Land anstrebt. Deshalb braucht sich die US-amerikanische Botschaft auch keine Sorgen zu machen. Einverstanden, unsere Regierung ist weit davon entfernt, revolutionär zu sein. Aber es muss auch zugegeben werden, dass sie versucht, die Dinge anders anzugehen. Und es muss anerkannt werden (ohne dies werten zu wollen), dass, trotz allem guten Willen der Regierung, etwas an der Ausbeutung und Marginalisierung zu ändern, in der die Bevölkerung steckt, die Verfassung unseres Staates dazu dient, den Kapitalismus zu reproduzieren. Und deshalb ist auch das Wirtschaftssystem der Oligarchen dieses Landes nicht in der Krise. Nach oben |
In Guatemala kann vieles verändert werden, aber unter den aktuellen Umständen strukturelle politische Veränderungen machen zu wollen, ist praktisch unmöglich... mindestens kurzfristig und durch Wahlen. Die Möglichkeiten der Regierung sind begrenzt, und diesen Staat zu lenken, bringt eine Handvoll Probleme mit sich, denn der Staat ist zerstört, ausgeweidet und demontiert von Wirtschaftsmächten, die Guatemala nicht als Land sehen, sondern als Finca. In diesem Denken fand die Gegenrevolution von 1954 statt, und mit dieser Logik wurde das Militär zum Schutz des oligarchischen Reichtums eingesetzt und das soziale Gefüge durch Repression und Tod zerstört. Mit dieser Geschichte im Rücken beschlossen die sozialen Organisationen ihren Demozug zum Gebäude der Sozialversicherung IGSS umzuleiten, einer der Errungenschaften der Revolution von 1944, die nicht rückgängig gemacht wurde. Es spielt ihnen keine Rolle, dass offenbar seitens des Militärs regierungsintern Druck ausgeübt wurde, dass die Transparente abgenommen werden - wichtig in der Logik der sozialen Organisationen ist es, sich nicht in den Dienst der Regierung zu stellen. Es spielt für sie keine Rolle, dass eine der Figuren Olvierio Castañeda darstellt, der einen anderen Moment des internen Konflikts repräsentiert und dessen Familie posthum mit dem "Orden de Quetzal" ausgezeichnet wurde, und der Staat somit den Ehrenmut und den Wert der sozialen Kämpfe anerkennt. Und es spielt für sie auch keine Rolle, dass mit dem öffentlichen Zeigen des Gedichts von Luís de Lión nicht nur das Militär verärgert, sondern auch die Poesie eines indigenen Schriftstellers geehrt wird. Es geht ihnen ausschliesslich darum, sich gegen die Regierung zu stellen. Es gibt mehr oder weniger verständliche Erklärungen für diese Logik. Viele der sozialen Führungspersönlichkeiten von heute hatten ihre politische Sozialisierung während des bewaffneten Konflikts. Sie wuchsen auf mit dem Bild eines agressiven und repressiven Staates. Sie waren Opfer des Konflikts, haben Familienangehörige, die verschwunden oder ermordet wurden durch die bewaffneten Streitkräfte des Staates. In diesem Sinne kann man einige der Reaktionen der sozialen Bewegung verstehen. Es scheint, dass es unter den aktuellen Bedingungen dem Staat möglich ist, die Ermordung Tausender von Campesinos, Indigenen, Männern und Frauen, die Entführung und Folter Tausender von GewerkschafterInnen, JournalistInnen, ArbeiterInnen und Religiösen anzuerkennen. Es ist tröstlich, dass der Staat nicht nur seine Verbrechen anerkennt, sondern auch das Engagement und den Kampf eines Oliverio Castañeda anerkennt. Aber der Präsident könnte mehr tun. Er könnte die Mörder von Oliverio vor Gericht bringen, das Militär zwingen, seine Archive offenzulegen. Dann wüssten wir nämlich, welcher Offizier an jenem Tag Dienst hatte, wer den türkisfarbenen Wagen mit dem Nummerschlid P-109716 fuhr, von dem aus Oliverio ermordet wurde. Diese Daten existieren, das Militär, das sich als eine Institution ausgibt, in der Ordnung herrscht, kann sie nicht einfach verloren haben. Oder haben sie Angst davor, sich der eigenen, wahren Geschichte zu stellen? |
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