Überlebende, nicht Opfer
Fijáte 465 vom 28. Juli 2010, Artikel 7, Seite 5
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Überlebende, nicht Opfer
Bis 1996 war es kaum möglich für die Überlebenden, über ihre leidvollen Erfahrungen zu sprechen. Die Wahrheitskommisisonen und verbunden mit ihnen die Exhumierungsprojekte der Fundacion de Antropologia Forense de Guatemala (FAFG) waren die ersten Möglichkeiten, vertrauenswürdigen Personen das Erleben zu schildern. Die Exhumierungen dienten zunächst einmal der Identifizierung der Toten und der würdevollen Bestattung jener, die in einem schmutzigen Krieg starben. Sie sind ein beginnender Heilungsprozess für die Familien und Gemeinden. Sie sind auf nationaler Ebene eine Aufzeichnung über die Spezifika der Verstorbenen und die Arten ihrer Todes. Die Begleitung der Opfer im Kampf um die Anerkennung der begangenen Kriegsverbrechen ist ein zentrales Thema der Arbeit von ACOGUATE, dem Internationalen Begleitprojekt für Guatemala. Der folgende Bericht ist eine Übersetzung des Blogs des Guatemala Solidarity Networks UK, April 2010: "Ein Insiderblick auf Exhumierungen nahe Panzós" In den Wäldern der Sierra de las MinasAls Begleiter und internationaler Beobachter einer Exhumierung in den Bergen der Sierra de las Minas, Alta Verapaz, konnte ich ein wenig von der Notlage derer erfahren, die immer weiter versuchen, Frieden zu finden für ihre verstorbenen Familienangehörigen. Kurz vor dem 32. Gedenktags des furchtbaren Massakers von Panzós habe ich im April drei Wochen gemeinsam mit Überlebenden der Comunidades de Poblacion in Resistencia (CPR) in den Wäldern der Sierra de las Minas verbracht, die auf den Spuren ihrer Geschichte wandelten und auf der Suche nach ihren Kameraden waren. Es war nicht nur eine faszinierende persönliche Erfahrung, sondern auch eine informative Einführung in einige der grössten Herausforderungen, denen sich das Nachkriegs-Guatemala gegenübersieht. MarianoMariano ist der Sohn eines der Verstorbenen und der Kopf einer Organisation, die Informationskampagnen im Gedenken an die Ermordeten macht. Er berichtet, dass die wachsende Gemeinde San Marcos 1982 bei den lokalen Autoritäten um ein Stück Land bat. Die Anfrage wurde mit Waffen und der Ermordung von zwei Gemeindeführern beantwortet, einer war Marianos Vater. Die Bevölkerung floh in die Wälder der Sierra de las Minas, in der Hoffnung, dort überleben zu können. Wie es der Politik der verbrannten Erde von Rios Montt entsprach, wurde die Ortschaft dem Erdboden gleich gemacht, und die geflüchtete Gemeinde, bestehend aus etwa 900 ZivilistInnen, wurde von bewaffneten Einheiten verfolgt. Als die Gemeinde nach sechs Jahren des nomadischen Überlebens zurückkehrte, waren noch rund 200 Personen übrig geblieben. Die Todesfälle waren das Ergebnis der harten Lebensbedingungen in den Bergen (Hunger, Krankheiten, Fehlernährung, gefährliche Tiere) - oder auch von Armeeüberfällen. Der Tod ist jedoch nur ein Teil des Leidens. 28 Jahre sind vergangen, seitdem diese Männer, Frauen und Kinder starben, aber viele Leichen verblieben in den Bergen der Sierra de las Minas. Exhumierungen in der Gemeinde San Marcos werden durchschnittlich alle sechs Monate durchgeführt, mit Hilfe der Gelder des Nationalen Programms für Wiedergutmachung (PNR), der von der USA gesponserten FAFG und der psycho-sozialen Unterstützung von der Equipe für Gemeindestudien und psychosoziale Arbeit (ECAP). Der lebensbedrohende WaldDie letzte Expedition entdeckte etwa 28 Leichen. Unsere eigene Gruppe entdeckte nur zwei - ein Beispiel für die Schwierigkeiten und Unvorhersehbarkeiten des Prozesses. Nach zwei strengen Tagesmärschen konnte man sich vorstellen, wie die Flüchtlinge unter den harten Bedingungen des Waldes litten: giftige Pflanzen, gefährliche Tiere (Schlagen, Taranteln, Mosquitos, die Malaria übertragen, aber auch Raubtiere wie Pumas und Bären), drückende Hitze und Wassermangel. Dazu kommt der psychische Zustand und der konstante Terror der Armee. Unter diesen traumatischen Bedingungen haben Kinder ihre Eltern begraben. Zu den Schwierigkeiten der Exhumierung kommt, dass viele derer, die diese Gräber ausgehoben hatten, inzwischen selber verstorben sind. Oder ihre Erinnerung täuscht in diesem bedrohlichen Wald, der nach zwanzig Jahren ganz anders aussieht. Aber es gibt auch andere Hindernisse bei der Suche nach verstorbenen Verwandten: BäuerInnen können nicht so lange von ihren Feldern fortbleiben, gleichfalls vermindert mangelnde Ortskenntnis die Erfolgschancen. Die Abgelegenheit der Gebiete und die harten Märsche sind nicht nur für ältere Menschen anstrengend, sondern auch schmerzhaft für jene vitalen Gemeindemitglieder, die noch Erinnerung daran haben, wo die Leute lebten und starben. Die Gräber zu finden, erfordert oft sehr primitive Hilfsmittel. So wird etwa mit einem Stock im Boden herumgestochert, um leichtere, aufgewühlte Erde zu erspüren. Nach oben |
Geld für Skelette, nicht für Versöhnung und HeilungDaneben gibt es weitere Probleme: Erosion und biologische Veränderungen führen dazu, dass nur wenig von den sterblichen Resten übrig bleibt, oft nur ein paar Stofffetzen. Wenn die Identifizierung zunächst nichts ergibt, müssen die Angehörigen sechs Monate warten, bis die DNA-Analyse die Person identifiziert. Erst dann kann eine traditionelle Maya-Beerdigung stattfinden. Schliesslich gibt es auch finanzielle Restriktionen für Organisationen wie die FAFG, sofern nicht genügend (verwertbare) Skelette gefunden werden. Das führt dazu, dass eine in dieser Hinsicht ergebnisorientierte Arbeit immer wichtiger wird - auf Kosten des Versöhnungsaspekts und der emotionalen Heilprozesse jener, die bei den Grabungen immer wieder von schmerzhaften Erinnerungen heimgesucht werden. (...) Und die Kinder verstehen nicht ...Es gibt auch eine störende Kluft zwischen den Bildungsinhalten von heute und der Realität von damals. In Ortschaften wie San Marcos ingorieren die Schulbücher die Gewalt der Vergangenheit. Wie mir einige Gemeindemitglieder erzählt haben, halten die Kinder die Geschichten, die die Älteren erzählen, für unglaubwürdig und werden oft nicht zur Kenntnis oder nicht angenommen, weil der Inhalt so entsetzlich ist. Ein schlechtes Omen für die Zukunft, und wenn man bedenkt, dass Guatemala die schlechtesten Bildungsstandards in ganz Lateinamerika hat, ist es unwahrscheinlich, dass sich das in der nahen Zukunft verbessert. Demütige KraftTrotz all dieser Herausforderungen, war die Stimmung in unseren Lagern mit den Überlebenden alles andere als uninspirierend. Der Ausdruck "Gute Miene zum bösen Spiel" war nie angebrachter, um die tiefen Reservekräfte dieser Menschen zu beschreiben. Ich glaube, dass ihre Maya-Kultur eine Ursache ist für diese Kraft und Bescheidenheit. Es wird oft gesagt, dass die Maya eine andere Beziehung zum Tod haben als andere Religionsangehörigen und dass daher das Gefühl, nicht zu wissen, wo sie sind bzw. ihnen keine würdige Beerdigung geben zu können, besonders schmerzvoll für sie sei. Das mag wahr sein, aber ich habe auch eine andere Beziehung zu den Lebenden bei ihnen entdeckt, ein demütiger Respekt füreinander. Die Stimmung war oft unbeschwert, manchmal jovial, auch während der Ausgrabungen. Manchmal auch leidvoll. Aber diese Gefühle hatten weniger mit der physischen Umgebung zu tun oder dem jeweiligen Augenblick als vielmehr mit den inneren Gefühlen des Einzelnen. Eigentlich konnte ich mir nur grossen Zorn und Rage vorstellen, den diese Menschen gegenüber ihren Unterdrückern, den Mördern ihrer geliebten Angehörigen oder gegenüber dem Staat empfinden müssten. Umso überraschter war ich, als auf die Frage "Welche Wünsche sollen sich durch diese Exhumierungen für Sie erfüllen?" niemals von Vergeltung die Rede war. Die Überlebenden wünschten sich nur, ihre Familienangehörigen in Würde, nach ihren Traditionen zu begraben und zum Frieden zurückzukehren. José"Es war schwer für uns, von dort wegzugehen, denn da gehörten wir hin, da sind wir geboren worden, da hatten wir gelebt, da waren wir aufgewachsen. Wir wollten nicht von dort weggehen. Die Soldaten kamen immer wieder, jeden Tag, und wir merkten, dass die Lage immer schwieriger wurde. Wenn wir sahen, dass die Soldaten kamen, verliessen wir unsere Häuser, versteckten uns im Gebüsch, in den Schluchten, an den Flüssen, damit sie uns nicht entdeckten und töteten. Ganze Nächte verbrachten wir so, wir schliefen draussen, zwei oder drei Tage, wir ertrugen Hunger und Kälte, gemeinsam mit unseren Frauen, unseren Kindern, unseren Alten. Das war das Schlimmste, was wir in unserem Leben ertragen mussten, ohne Dach über dem Kopf, ohne Kleidung." Fall 5106 (Ermordung des Bruders), Panzós, Alta Verapaz, 1980. Diese demütige Kraft wurde für mich durch einen jungen Mann namens José verkörpert: Er floh als Kind mit seiner Familie in den Wald. Sein jungenhaftes Auftreten liess mich glauben, er würde eher den Verwandten helfen, die ihre Angehörigen suchten, als seine eigenen. Dies wurde unterstützt durch seine kontaktfreudige, warmherzige Persönlichkeit. Erst zum Schluss meines Aufenthalts erfuhr ich, dass José im Alter von 12 Jahren seine Mutter und fünf seiner Brüder, die alle von der Armee getötet wurden, beerdigt hatte. Menschen wie José verdienen es unbedingt, nicht Opfer, sondern Überlebende genannt zu werden. Anmerkung der Redaktion: In der nächsten Ausgabe gibt es einen ausführlichen Hintergrundartikel zum Massaker von Panzós. |
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