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Überlebende, nicht Opfer

Fijáte 465 vom 28. Juli 2010, Artikel 7, Seite 5

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Überlebende, nicht Opfer

Geld für Skelette, nicht für Versöhnung und Heilung

Daneben gibt es weitere Probleme: Erosion und biologische Veränderungen führen dazu, dass nur wenig von den sterblichen Resten übrig bleibt, oft nur ein paar Stofffetzen. Wenn die Identifizierung zunächst nichts ergibt, müssen die Angehörigen sechs Monate warten, bis die DNA-Analyse die Person identifiziert. Erst dann kann eine traditionelle Maya-Beerdigung stattfinden. Schliesslich gibt es auch finanzielle Restriktionen für Organisationen wie die FAFG, sofern nicht genügend (verwertbare) Skelette gefunden werden. Das führt dazu, dass eine in dieser Hinsicht ergebnisorientierte Arbeit immer wichtiger wird - auf Kosten des Versöhnungsaspekts und der emotionalen Heilprozesse jener, die bei den Grabungen immer wieder von schmerzhaften Erinnerungen heimgesucht werden. (...)

Und die Kinder verstehen nicht ...

Es gibt auch eine störende Kluft zwischen den Bildungsinhalten von heute und der Realität von damals. In Ortschaften wie San Marcos ingorieren die Schulbücher die Gewalt der Vergangenheit. Wie mir einige Gemeindemitglieder erzählt haben, halten die Kinder die Geschichten, die die Älteren erzählen, für unglaubwürdig und werden oft nicht zur Kenntnis oder nicht angenommen, weil der Inhalt so entsetzlich ist. Ein schlechtes Omen für die Zukunft, und wenn man bedenkt, dass Guatemala die schlechtesten Bildungsstandards in ganz Lateinamerika hat, ist es unwahrscheinlich, dass sich das in der nahen Zukunft verbessert.

Demütige Kraft

Trotz all dieser Herausforderungen, war die Stimmung in unseren Lagern mit den Überlebenden alles andere als uninspirierend. Der Ausdruck "Gute Miene zum bösen Spiel" war nie angebrachter, um die tiefen Reservekräfte dieser Menschen zu beschreiben. Ich glaube, dass ihre Maya-Kultur eine Ursache ist für diese Kraft und Bescheidenheit. Es wird oft gesagt, dass die Maya eine andere Beziehung zum Tod haben als andere Religionsangehörigen und dass daher das Gefühl, nicht zu wissen, wo sie sind bzw. ihnen keine würdige Beerdigung geben zu können, besonders schmerzvoll für sie sei. Das mag wahr sein, aber ich habe auch eine andere Beziehung zu den Lebenden bei ihnen entdeckt, ein demütiger Respekt füreinander. Die Stimmung war oft unbeschwert, manchmal jovial, auch während der Ausgrabungen. Manchmal auch leidvoll. Aber diese Gefühle hatten weniger mit der physischen Umgebung zu tun oder dem jeweiligen Augenblick als vielmehr mit den inneren Gefühlen des Einzelnen. Eigentlich konnte ich mir nur grossen Zorn und Rage vorstellen, den diese Menschen gegenüber ihren Unterdrückern, den Mördern ihrer geliebten Angehörigen oder gegenüber dem Staat empfinden müssten. Umso überraschter war ich, als auf die Frage "Welche Wünsche sollen sich durch diese Exhumierungen für Sie erfüllen?" niemals von Vergeltung die Rede war. Die Überlebenden wünschten sich nur, ihre Familienangehörigen in Würde, nach ihren Traditionen zu begraben und zum Frieden zurückzukehren.

José

"Es war schwer für uns, von dort wegzugehen, denn da gehörten wir hin, da sind wir geboren worden, da hatten wir gelebt, da waren wir aufgewachsen. Wir wollten nicht von dort weggehen. Die Soldaten kamen immer wieder, jeden Tag, und wir merkten, dass die Lage immer schwieriger wurde. Wenn wir sahen, dass die Soldaten kamen, verliessen wir unsere Häuser, versteckten uns im Gebüsch, in den Schluchten, an den Flüssen, damit sie uns nicht entdeckten und töteten. Ganze Nächte verbrachten wir so, wir schliefen draussen, zwei oder drei Tage, wir ertrugen Hunger und Kälte, gemeinsam mit unseren Frauen, unseren Kindern, unseren Alten. Das war das Schlimmste, was wir in unserem Leben ertragen mussten, ohne Dach über dem Kopf, ohne Kleidung." Fall 5106 (Ermordung des Bruders), Panzós, Alta Verapaz, 1980.

Diese demütige Kraft wurde für mich durch einen jungen Mann namens José verkörpert: Er floh als Kind mit seiner Familie in den Wald. Sein jungenhaftes Auftreten liess mich glauben, er würde eher den Verwandten helfen, die ihre Angehörigen suchten, als seine eigenen. Dies wurde unterstützt durch seine kontaktfreudige, warmherzige Persönlichkeit. Erst zum Schluss meines Aufenthalts erfuhr ich, dass José im Alter von 12 Jahren seine Mutter und fünf seiner Brüder, die alle von der Armee getötet wurden, beerdigt hatte. Menschen wie José verdienen es unbedingt, nicht Opfer, sondern Überlebende genannt zu werden.

Anmerkung der Redaktion: In der nächsten Ausgabe gibt es einen ausführlichen Hintergrundartikel zum VGMassakerNF von Panzós.


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